Liegt die große Zeit der Quality-TV-Serien schon hinter uns? Und würde das heißen, dass heutige Serien ihre gesellschaftspolitische Brisanz eingebüßt haben? Ein Gespräch über die Geschichte der das Genre prägenden Serien, von „Twin Peaks“ bis „The Marvellous Mrs. Maisel“ oder „Succession“.

  • Elisabeth Bronfen

    Elisabeth Bronfen ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war Professorin für Amerikanistik am Englischen Seminar der Universität Zürich und ist Global Distinguished Professor an der New York University. Im Herbst erscheint ihr Roman “Händler der Geheimnisse” im Limmat Verlag.
  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.
  • Sylvia Sasse

    Sylvia Sasse lehrt Slavis­­ti­sche Litera­tur­­wis­sen­­schaft an der Univer­sität Zürich und ist Mitbe­gründerin und Mitglied des Zentrums Künste und Kultur­theorie (ZKK). Sie ist Heraus­geberin von novinki und von Geschichte der Gegenwart.

Chris­tine Lötscher, Sylvia Sasse: Elisa­beth, oft wird behauptet, dass der Höhe­punkt der großen soge­nannten Quality-TV-Serien vorbei ist. Falls es tatsäch­lich so ist – dann lass uns einen Rück­blick wagen: Wann begann das Seri­en­zeit­alter der Quality-TV-Serien, wie wir es heute kennen?

Elisa­beth Bronfen: Um diese Frage beant­worten zu können, muss ich etwas ausholen und eine histo­ri­sche Perspek­tive ins Spiel bringen. Die Serie als mediales Phänomen, zunächst als Sitcom, kommt aus den 1950er Jahren. Sie exis­tierte in den USA schon zu einer Zeit, in der die Fern­seh­sender Einzug in die Wohn­zimmer der damals noch „upwardly mobile“ Mittel­schicht genommen hat. Das war auch die Zeit, in der die Nach­rich­ten­spre­cher, die Anchormen und Anchor­women, sowie die Musik Shows und Sitcoms eine Art verbin­dende imagi­näre Geografie herstellten. Was das Kino bis in die 1950er Jahre geboten hatte, wurde danach von TV-Serien abge­löst. Diese Serien zogen sich teil­weise über eine endlos lange Zeit hin, das konnten acht, neun Jahre sein.

Diese Form der Seria­lität im Fern­sehen galt aber als popu­läre, um nicht zu sagen triviale Unter­hal­tung; man konnte sich diese Sitcoms, ebenso wie die auch im deutsch­spra­chigen Raum popu­lären Serien wie Dallas, Dynasty und eine Unzahl an Krimi­se­rien auch gut nebenbei anschauen. Diese Art Serien gibt es nach wie vor in Hülle und Fülle. Doch wie kam es, dass sich mit dem soge­nannten Quality TV plötz­lich eine neue Form etablierte? 

Der Umbruch lässt sich genau datieren; er begann in den frühen 1990er Jahren mit Twin Peaks (1990–1991) von David Lynch. Lynch entwi­ckelt hier etwas ganz Neues, eine andere Ästhetik, eine andere Art, Geschichten zu erzählen. Es ist wichtig, sich daran zu erin­nern, dass es Lynch war, der den Anstoß dazu gab, das Format der Serie neu zu entdecken.

Wer schaute denn damals Twin Peaks? Ein Block­buster war die Serie ja damals nicht gerade… 

Twin Peaks haben damals alle gesehen, die sich davor schon Lynchs Filme ange­schaut hatten, Kinogänger:innen und vor allem Cineast:innen, die sich für Kubrick und Fincher etc. inter­es­sierten. Lynch war damals eine wich­tige Figur; wenn ein neuer Lynch ins Kino kam, schaute man sich den Film an. Als Twin Peaks im Fern­sehen lief, orga­ni­sierten wir unser Leben um die Ausstrah­lungs­zeiten herum; an diesem Tag mussten wir zu einer bestimmten Zeit zuhause sein. Wir reden hier aber eher von einem bürger­li­chen, gebil­deten Publikum.

Was hat Lynch denn grund­le­gend geän­dert, worauf alle danach aufbauen konnten? Was genau war die neue Form?

Entschei­dend war das lange Narrativ. Die erste Staffel von Twin Peaks hat acht Folgen, die zweite sogar 22. Man hört immer den Themen­song, das Intro, es gibt Figuren, die immer wieder­kehren und sich teil­weise entwi­ckeln, teil­weise nicht. Wie ein klas­si­sches Drama – mit Haupt­hand­lung und parallel verlau­fenden Neben­hand­lungen. Die Haupt­hand­lung entwi­ckelt sich auf einen bestimmten Punkt zu. Genau das machen Dallas, Dynasty und wie sie alle heißen nicht. Da ist der Hand­lungs­bogen in jeder einzelnen Episode abge­schlossen. Bei Twin Peaks lief die Hand­lung auf die Auflö­sung des Mordes an Laura Palmer am Ende der zweiten Staffel zu. Außerdem hat Lynch Horror, böse Kräfte und eine Form von fantas­ti­scher Gewalt ins Fern­sehen gebracht, die davor im Unter­hal­tungs­pro­gramm nicht denkbar gewesen wäre; und vor allem hat er in Twin Peaks das gemacht, was ihn immer inter­es­siert hat, nämlich die Abgründe ausge­lotet, die hinter der idyl­li­schen Fassade der Einfa­mi­li­en­häus­chen in den Klein­städten lauern. Dabei griff er auf eine lange Tradi­tion der US-amerikanischen Lite­ratur zurück. Dazu gehört das topo­gra­fi­sche Setting, aus dem die Figuren nicht raus­kommen: das Schul­haus, das Hotel, das Diner, die Tank­stelle. Es war auch klar, dass da ein ästhe­ti­sches Konzept dahintersteckt.

Die Serie funk­tio­nierte plötz­lich wie ein Roman? Im Grunde greift sie damit auch das Erscheinen von Romanen im dem 19. Jahr­hun­dert wieder auf, die ja eben­falls in Zeit­schriften als Serie publi­ziert wurden.

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Ja, und das Seri­elle dient hier nicht dazu, das Vertraute immer wieder­kehren zu lassen, sondern eher eine Verwo­ben­heit verschie­dener Figuren und Ebenen entstehen zu lassen – das erin­nert an George Eliots Roman Midd­le­m­arch oder an Tols­tojs Romane. Bei Lynch wurde diese Form immer weirder.

War es vor allem das, was auch die Forschung zur Seria­lität inter­es­siert hat? Weil da eine Bewe­gung entstand, die weder linear noch spiral­förmig war, nicht immer dasselbe wieder­holte, sondern alles mit allem verknüpfte?

Rhizom­artig, genau. Und dies strahlte wiederum auf Künstler:innen aus, die dieses Verfahren auf ihre Kunst­formen über­trugen, auf Instal­la­tionen, Video­kunst etc. Der zweite konzep­tu­elle Aspekt, den man mitbe­denken muss, kommt aus Hagai Levis BeTipul, einer Serie, die später als Vorlage für die US-Serie In Treat­ment diente. Levis Idee war es, Konzept­kunst zu machen. Vier plus eins: vier Figuren besu­chen an vier Tagen den Analy­tiker, am fünften Tag geht der Analy­tiker zu seiner Super­vi­sion. Das spielt immer am glei­chen Ort, immer werden Geschichten erzählt. Die Serie entsteht sozu­sagen aus diesen Beschrän­kungen heraus. Was danach kommt, mit Dead­wood, mit The Wire, entwi­ckelt dieses Prinzip weiter; ein Ort, eine Reihe von Figuren, ein poli­tisch aufge­la­dener Zeit­punkt der Hand­lung – dieser Rahmen erlaubt eine Ausein­an­der­set­zung mit den drän­genden Fragen US-amerikanischer Politik und Kultur.

Und wie ging es dann weiter? 

Es brauchte danach aber doch noch einmal gute zehn Jahre, bevor das soge­nannte Quality TV oder Complex TV sich wirk­lich global durch­setzen konnte. Auch diesen Zeit­punkt kann man genau fest­ma­chen, und zwar an The Sopranos (1999–2007). Die Serie beginnt eher wie eine tradi­tio­nelle Show; es sind immer die glei­chen Schau­plätze, immer dieselben Figuren, es wird kein großer, über­grei­fender Erzähl­bogen entwi­ckelt. Das ändert sich mit Matthew Weiner, der ab 2004 die Produk­tion über­nahm und der später Mad Men gemacht hat.
Was eben­falls mit The Sopranos beginnt, ist der Erfolg von HBO, dem Kabel-TV-Anbieter und späteren Strea­ming­dienst Home Box Office. Wenn alle immer von «Netflix-Serien» reden, ist das eigent­lich falsch, denn gemeint sind damit Serien, die mehr­heit­lich von HBO produ­ziert wurden und werden.

In letzter Zeit waren das zum Beispiel Succes­sion, The White Lotus, Euphoria, The Last of Us oder das Game of Thrones-Prequel House of the Dragon

Zu Beginn, das hat mir Hagai Levi erzählt, dessen israe­li­sche Serie In Treat­ment von HBO über­nommen wurde, konnte man dort alles machen, was man wollte. Es war billig, bei HBO zu produ­zieren, es gab prak­tisch keine Zensur, auch nicht poli­ti­scher oder mora­li­scher Art. Diese Rahmen­be­din­gungen sorgten für die erste und wohl auch größte Welle von global erfolg­rei­chen Serien. The Wire, auch das muss man im Auge behalten, war die erste Serie, die unmit­telbar zum globalen Phänomen wurde. Denn The Sopranos kannten davor eher Spezialist:innen; es war nicht etwa so, dass zu Beginn der Nuller­jahre alle all diese Serie geschaut hätten. In diesem großen Moment wandte sich auch die Kultur­wis­sen­schaft dem Phänomen zu und es kam damals schon der Vergleich mit dem Roman des 19. Jahr­hun­derts auf. Darauf folgte eine Zeit, in der alle Leute dieselben Serien schauten: Mad Men, Dead­wood, Six Feet Under, Brea­king Bad, Threme – man konnte sich immer und überall darüber unter­halten. Das ist nun vorbei.
Mit Netflix wurde es dann möglich, Serien ganz am Stück zu schauen. Dies produ­ziert eine ganz neue Praxis des Schauens, ebenso wie später das Strea­ming. Das muss man mitbe­denken, weil es die wirk­lich künst­le­risch wert­vollen Serien heute zwar auch noch gibt, doch neben hunderten von anderen. Kein Mensch hat mehr einen Über­blick über das Angebot, es gibt keinen gemein­samen Nenner mehr. Inso­fern haben Serien das, was sie hatten, als sie kultu­rell und ästhe­tisch wichtig wurden, verloren. Das heißt aber nicht, dass die Fern­seh­serie an ihr Ende gekommen ist. Doch einen langen drama­tur­gi­schen Bogen wie bei Mad Men, die einer Serie erlauben, sich konse­quent auf einen länger bereits ange­legten Abschluss hin zu entfalten, gibt es heute weniger; Succes­sion zum Beispiel hätte Jesse Armstrong sicher gerne noch über fünf oder sechs Staf­feln weiter­erzählt, doch nach der vierten Staffel fand HBO, jetzt sei Schluss. Auch bei The Marve­lous Mrs. Maisel war klar, dass es nicht mehr als fünf Staf­feln geben wird. So wurde auch West­world nicht verlän­gert. Gleich­zeitig darf man nicht ausser Acht lassen: die Emmys sind weiterhin viel bedeu­tender als die Oscars, was doch ein Beleg dafür ist, dass viel eher das große Kino in der Krise ist und nicht die TV-Serie auf Streamingplattformen.

Eigent­lich wollten wir ja über Serien reden, doch nun, wo du das Kino erwähnst, drängt sich ange­sichts des aktuell als Rück­kehr des Kinos gefei­erten ,Barben­heimer‘-Phäno­mens doch die Frage auf, ob die großen Trans­media Fran­chises mit Block­bus­tern wie Barbie, der sich durch Greta Gerwigs Regie­ar­beit mitten in die Debatten um Femi­nismus und Diver­sität einschreibt, oder Oppen­heimer, Chris­to­pher Nolans Epos über den ‘Vater der Atom­bombe’, wirk­lich neuen Aufschwung bekommen. Oder sind das nur (pinke) Eintagsfliegen? 

Das wird sich noch zeigen müssen, aber der riesige Erfolg von Greta Gerwig und Noah Baum­bach – das Dreh­buch ist ja von ihnen beiden – zeigt, welche Möglich­keiten das Kino noch immer hat, wenn es einen kultu­rell neur­al­gi­schen Punkt trifft. Auf das schöne Wetter und Post-Covid-Ängste kann man die leeren Kino­säle nicht schieben. Aber viel­leicht ist es in diesem Fall auch die bril­lante Mischung von wirk­lich gutem Enter­tain­ment und kluger Gesell­schafts­sa­tire, die femi­nis­ti­sche Kritik am Patri­ar­chat mit einer fröh­li­chen Affir­ma­tion kapi­ta­lis­ti­scher Fetisch­ob­jekte so geschickt verbindet. Zumin­dest eines ist momentan sicher: Barbie ist zu dem verbin­denden Medi­en­er­eignis geworden, über das wir alle mitein­ander reden wollen, und über das sich viel, und sehr unter­schied­lich nach­denken und schreiben lässt.

Die meisten Serien, die breit rezi­piert werden, kommen tatsäch­lich aus den USA und bilden eine Art Archiv der US-Gesellschaft. Welche Rolle spielt denn die aktuell zu beob­ach­tende Tendenz, dass Serien wie Mrs. America oder The Marvellous Mrs. Maisel zu femi­nis­ti­schen Relek­türen der US-Geschichte ansetzen? 

The Marvellous Mrs. Maisel ist ein gutes Beispiel, denn die Serie geht noch einmal zurück zu Mad Men, und zwar ganz dezi­diert aus einer weib­li­chen Posi­tion heraus. Auch wenn die Frauen in Mad Men wichtig sind und sich am Ende zum Teil auch durch­setzen können, kreist doch alles um Don Draper. Die Autorin von Mrs. Maisel, Amy Sherman-Palladino, die sich bereits in Gilmore Girls für weib­liche Biogra­fien inter­es­sierte, schaut sich genau diese Zeit an, den Über­gang von den 50ern in die 60er Jahre – aber ganz dezi­diert als eine Frau­en­ge­schichte, eine Geschichte von Frau­en­so­li­da­rität. Es gibt auch Zerwürf­nisse, doch, Spoi­le­r­a­lert, es kommt am Ende auf eine so rührende Weise wieder gut heraus. Da wird eine doppelte Trajek­torie weib­li­cher Erbfolge erzählt: die Prot­ago­nistin Midge versteht sich als Erbin mehrerer Gene­ra­tionen von Stand-Up Comedy, zu der Mae West gehören, Barbara Strei­sand, also haupt­säch­lich jüdi­sche Come­dians.  Im Sinne solch einer Erin­ne­rung an die Erbfolge von Künst­le­rinnen wäre es übri­gens lohnend, eine Barbara Strei­sand Retro­spek­tive zu machen. Die Heldin, Midge Maisel, steht in dieser Tradi­tion, und doch handelt es sich auch um eine Umschrift dieser Geschichte. Es geht darum, wie diese Geschichte für unsere Gegen­wart erzählt werden kann, was sich da heraus­holen und vor allem wie es sich gestalten lässt. So lässt sich die tiefe Freund­schaft zwischen Midge und ihrer Agentin, Susi Meyerson, die mit ihr – und durch sie – berühmt wird, verstehen. Die Serie entscheidet sich für Frau­en­so­li­da­rität über die Gene­ra­tionen hinweg.

Was ist daran beson­ders aktuell?

The Marvellous Mrs. Maisel ist ein Beispiel für eine seri­elle Ausein­an­der­set­zung mit der Vergan­gen­heit und mit der Art, wie die Vergan­gen­heit archi­viert wird, in kine­ma­to­gra­fi­schen Bildern und Erzäh­lungen über US-amerikanische Geschichte. Die Frage, die in Mrs. Maisel aufge­griffen wird, ist im Kern: wie erlaubt die Erzäh­lung von einer Umbruchs­zeit am Beispiel einer Frau, die Karriere machen und trotzdem auch Familie haben will, ein Nach­denken über die Umbrüche von heute?

Midge Maisel ist auch Künst­lerin, und sie erzählt in gewisser Weise Serien auf der Bühne, in Form von Geschichten aus ihrem Leben. Gibt es etwas, das an dieser Serie so neu ist wie damals Twin Peaks für die filmi­sche Seri­en­pro­duk­tion neu war? 

Mrs. Maisel ruft die jüdi­sche Kultur der 60er Jahre auf, Musik, Essen, jewish Stand-up, die jüdi­sche Tradi­tion des Anek­do­ten­er­zäh­lens, aber auch radi­kale weib­liche Posi­tionen wie in der confes­sion poetry einer Sylvia Plath oder Anne Sexton. Somit begründet die Serie eine völlig neue Art von Stand-up. Midge reißt, anders als die männ­li­chen Come­dians zu dieser Zeit, nicht immer die glei­chen Witze, sie studiert nicht immer wieder das gleiche Programm ein. Sie will etwas Neues machen, etwas Authen­ti­sches. Sie verän­dert etwas quali­tativ, bürger­li­ches Theater ist lang­weilig, für Reiche ausge­stellte Malerei ist lang­weilig – aber sie ist inspiriert.

Wir wollen noch über zwei weitere Serien spre­chen, die auch in New York spielen und die auch Fami­li­en­se­rien sind, wenn auch zu unter­schied­li­chen Zeiten: Mrs. Maisel spielt, wie schon erwähnt, in den 1950er Jahren, während The Gilded Age im Manhattan der 1880er Jahre ange­sie­delt ist und Succes­sion in unserer unmit­tel­baren Gegen­wart. Inter­es­sant scheint dabei die Vorstel­lung, dass Serien es ermög­li­chen, eine uner­zählte Geschichte zu erzählen. Aber das heisst ja nicht nur, dass etwas ausge­graben oder recher­chiert wird, sondern dass Geschichte auch anders erzählt werden kann. Wie verhält es sich damit bei den beiden histo­ri­schen Serien: graben sie einfach etwas aus oder erzählen sie andere Geschichten? 

Ich würde sagen, dass sowohl The Gilded Age als auch Mrs. Maisel das bedienen, was die ameri­ka­ni­sche Lite­ratur Romance nennen würde. Das kann sowohl high als auch low sein; bei Henry James und Edith Wharton ist es high, bei den Harle­quin Romances etc. hingegen ist es low. Das heißt, es geht um Liebes­ge­schichten, Streit zwischen Eltern und Kindern, Geschwis­ter­be­zie­hungen, und das alles mit großem Pathos. Die Serien greifen diese Erzähl­formen auf, die immer schon zwei Register hatten. Von der reinen Erzäh­lung her ist das eher konven­tio­nell. Anders ist dagegen die Perspek­tive, die sie einnehmen: Wen rücken sie in den Vorder­grund, wen lassen sie im Hinter­grund. Gerade bei The Gilded Age – die Serie wurde ja von den Machern von Downton Abbey geschrieben, aber jetzt auf Ameri­ka­nisch – fällt auf, dass sich fast alles an einer Straße abspielt. Auf der einen Stra­ßen­seite leben die Altein­ge­ses­senen, auf der anderen die Empor­kömm­linge. Viel­leicht wurde hier etwas sche­ma­tisch am Reiß­brett über­legt, wo die Fronten in dieser Umbruchs­zeit verlaufen.
Doch wenn wir den Blick zurück auf dieses Gilded Age richten, die viele Analo­gien mit unserer vom neoli­be­ralen Kapi­ta­lismus geprägten Zeit hat, in der genau die glei­chen Fragen rund um Migra­tion, Kapi­ta­lismus, Frau­en­rechte und Geschlech­ter­de­fi­ni­tionen behan­delt werden, ist die Frage, was davon hervor­ge­holt werden soll. Die eine Seite ist die jüdi­sche Familie, die in sich komplex ist; Daisy Miller auf jüdisch; die andere Seite ist geprägt von einer Frau­en­ge­mein­schaft, zwei Schwes­tern und ihre Nichte, alle ohne Mann. Dazu kommt die Schwarze Schrift­stel­lerin und ein Heirats­schwindler etc. Wenn es über­haupt noch straight white people gibt, dann sind es arme Iren, die im Unter­ge­schoss als Bediens­tete arbeiten. Was man selten sieht, ist das, was bei Erzäh­lungen über die Gesell­schaft dieser Zeit norma­ler­weise im Zentrum stand, nämlich das weiße hete­ro­se­xuell ausge­rich­tete Groß­bür­gertum. Es ist aber nicht so, dass die Figuren und Lebens­formen, die im Zentrum stehen, erfunden wurden; die gab es wirk­lich, doch sie standen bisher nie im Mittel­punkt. Inso­fern ist es eine Form von Korrektur durch Ergän­zung. Die sehr zeit­gemäß ist und genau das in den Fokus nimmt, was das heutige Publikum inter­es­siert; nämlich Schwarze und jüdi­sche Figuren und nicht immer dieselben weißen Großbürger:innen.

Die kennen wir ja auch schon zuhauf aus der Literatur. 

Ja und nein. Es gibt auch Figuren wie Mrs. Cham­ber­lain, die wir zwar aus dem Roman des 19. Jahr­hun­derts kennen: Mrs. Cham­ber­lain wird ausge­schlossen und geächtet, weil sie vor Jahren in wilder Ehe mit einem Mann gelebt hatte. Diese Figur ist z.B. die Prot­ago­nistin in Edith Whar­tons The Age of Inno­cence (1920), Ellen Olenska; sie ist die Ausge­schlos­sene, die mit ihrer rand­stän­digen Posi­tion leben muss, und der Roman geht auch so mit ihr um. Die Serie hingegen geht ganz anders mit Mrs. Cham­ber­lain um; es ist klar die stig­ma­ti­sie­rende Gesell­schaft, die nun dumm dasteht. Die Serie baut andere Bezüge, und zwar rich­tige Bezüge. Alle Figuren sind mit allen anderen irgendwie verknüpft, egal, welcher Klasse und race sie ange­hören, und so entsteht ein anderes Bild von Gesell­schaft als Netzwerk.

Bemer­kens­wert ist ja auch der Fokus auf die allein­ste­henden Frauen, die es tatsäch­lich in großer Zahl gab, deren Biogra­fien aber als unin­ter­es­sant und, wenn sie nie verhei­ra­tete Mütter waren, als irgendwie geschei­tert galten. In Gilded Age werden sie zu agie­renden Personen. 

Und sie sind auch keine eindi­men­sio­nalen Figuren. Aunt Agnes, die altein­ge­ses­sene weiße Witwe, ist hart gegen­über Frauen, die in wilder Ehe leben, uner­bitt­lich gegen­über Empör­kömm­lingen und Jüd:innen. Doch die ambi­tio­nierte Schwarze Autorin unter­stützt sie – da ist ihr die Bega­bung und die Energie der jungen Frau wich­tiger. Im Großen und Ganzen ist die Serie auch nicht denun­zia­to­risch und lässt die Figuren trotz der Neigung zur Kari­katur in ihrer Ambi­va­lenz als sympa­thisch erscheinen.

Es scheint so, dass sich die Figuren durch­zu­setzen wissen, die inter­es­sant und komplex sind und die sich eindeu­tigen Iden­ti­täts­zu­schrei­bungen entziehen.

Ja, und da sind wiederum Bezüge zu Henry James erkennbar; er spricht von moral imagi­na­tion – dem Moment, in dem man begreift, dass man seinen mora­li­schen Code verän­dern, dass man umdenken muss, weil sich die Situa­tion verän­dert hat. Auf die Erkenntnis der Para­meter, nach denen die Welt funk­tio­niert, laufen viele der Romances des 19. und frühen 20. Jahr­hun­derts hinaus. Inso­fern ist diese Serie mehr als Unter­hal­tung. Da sind nicht einfach, wie bei Downton Abbey, die zwei Welten upstairs und down­s­tairs, die sich gegen­über­stehen, sondern es gibt komplexe Figuren, die psycho­lo­gisch verän­derbar sind. Schön finde ich auch, dass eher Ehever­hin­de­rung als Eheschlie­ßung im Zentrum steht. Letzt­lich kann man sagen, dass es um ein Ringen um Demo­kratie in den USA geht; in der Serie ist es eine größere Gruppe von Menschen, die den Demos ausmacht, und diese Menschen müssen gegen­seitig aufein­ander eingehen.

Wie siehst du die Ausein­an­der­set­zung mit Demo­kratie in Succes­sion – ist sie eine gegen­warts­dia­gnos­ti­sche Serie, die vom Ende der Demo­kratie erzählt? 

Ja, man kann schon sagen, dass die von Frauen gemachten Serien opti­mis­ti­scher sind, sie setzen auf eine gewisse Mensch­lich­keit, ich wage mal zu sagen, auf eine weib­liche Mensch­lich­keit, die von Frau­en­bünd­nissen und Frau­en­so­li­da­rität ausgeht. In diesem Sinn sind sie Romances. Succ­ces­sion versteht sich als etwas anderes. Succes­sion gehört für mich eher in eine Reihe mit House of Cards oder Home­land. Es ist eine Serie über die Verwick­lung von Medien und Politik und eine Fami­li­en­ge­schichte, eine Geschichte eines Vaters und seiner vier von ihm kastrierten Kinder, von seiner Unfä­hig­keit loszu­lassen, weil er die eigene Sterb­lich­keit nicht aner­kennen kann und sich seiner eigenen Vulnerabi­lität schämt. Das ist Shake­speares King Lear, der da verar­beitet wird. Und diese kastrierten Kinder tun alles, um die Liebe des Vaters zu bekommen, die sie niemals bekommen können und sich dadurch gegen­seitig zerflei­schen bis zum Schluss. Die inhä­rente Geschwis­ter­ri­va­lität, die in der Psycho­ana­lyse vor allem von Jessica Benjamin heraus­ge­ar­beitet wurde, rückt in den Fokus. Sie zerstören sich, weil Zerstö­rung, Zerflei­schung und Miss­ach­tung der Code ist, in dem diese Familie operiert. Das ist Tragödie, das ist Dostoevskij, damit können alle etwas anfangen, die sich für Gewalt in der Familie interessieren.

Wenn wir drüber gespro­chen haben, dass z.B. in The Gilded Age die Geschichte von Frauen und Aussenseiter:innen erzählt wird, dann kommt hier nun doch wieder der alte weiße Mann ins Zentrum. Was bedeutet das denn? Wieso kommt diese Figur wieder zurück bzw. warum ist sie immer noch da? Ist das als Kommentar dazu zu verstehen, dass wir den Patri­ar­chen und sein System nicht loswerden können?

Wenn man die beiden Serien zusam­men­denkt, The Gilded Age und Succes­sion, dann haben wir auf der einen Seite den Versuch, eine andere Geschichte über Frauen zu erzählen, über das Matri­ar­chat. Und auch in Mrs. Maisel geht es darum, dass Frauen sich gegen­seitig dabei helfen, den Durch­bruch zu schaffen. Auf der anderen Seite sieht man – Armstrong ist zyni­scher und realis­ti­scher als Fellows und Sherman-Palladino –, dass weder Kapi­ta­lismus noch Patri­ar­chat auf dem Rückzug sind, statt­dessen gibt es immer mehr Männer, die nach rechts rutschen. Es ist erschüt­ternd, wie sich im 21. Jahr­hun­dert das Patri­ar­chat wieder so fest­ge­setzt hat, obwohl wir doch im Laufe der 1990er Jahre dachten, wir hätten es jetzt abge­sägt. In Succes­sion steht der alte Mann ein für ein auf Macht­miss­brauch basie­rendes poli­ti­sches, ökono­mi­sches und psycho­lo­gi­sches System. Und all die Frauen, die da auftau­chen, sind eben­falls Teil dieses Systems. Einige versu­chen schon, sich durch­setzen, wie z.B. Shiv, die Tochter von Logan Roy. Sie will als Frau ernst genommen werden, doch in dem patri­ar­chalen System, in dem sie das versucht, geht das nicht.

Was uns in der Serie gezeigt wird, ist auch die Para­doxie der Frei­heit: Ich verlange für mich die totale Frei­heit, die kann ich aber nur errei­chen, indem ich andere brutal unter­drücke und von mir abhängig mache – so die Logik des Vaters. Im Grunde beob­achten wir ein kleines tota­li­täres Fami­li­en­system. Du hast vorhin von der moral imagi­na­tion gespro­chen und davon, dass es bei The Gilded Age darum geht, sich situativ zu verhalten und sich dadurch zu eman­zi­pieren. Bei Succes­sion ist es wohl eher so, dass der Vater alle zwingt, perma­nent situativ auf ihn reagieren zu müssen. Immer ändert sich alles, und das ist Teil seines Terrors.

Ja, und im Film wird die Reak­tion darauf nicht mora­lisch bewertet. Denn es geht darum, in dem System des Vaters zu über­leben. Succes­sion hat ja eine doppelte Bedeu­tung: to succeed heißt, Erfolg zu haben und nach­zu­folgen. In der Serie geht es um beides. Die Kinder von Logan Roy wollen an seine Stelle, sie wollen aber auch erfolg­reich sein. Erfolg bedeutet für sie, seine Macht zu bekommen.

Wie ist das filmisch umgesetzt?

Darauf weist schon der Vorspann hin. Denn ganz am Ende der Sequenz sehen wir den Rücken von Logan Roy; er sitzt am Tisch, zusammen mit seinen Kindern, aber sie sind unscharf. Der Vater hingegen ist im Fokus der Kamera, aber er wendet uns den Rücken zu. Alles läuft auf die Frage hinaus, wie die Kinder auf ihn reagieren und wie sie nicht anders können, als sich von ihm terro­ri­sieren zu lassen, weil sie einge­bunden sind in dieses System. Und wir als Zuschauer:innen auch.

Wir auch?

Das macht die Serie ästhe­tisch so inter­es­sant, weil sie so oft mit der Hand­ka­mera arbeitet. Inner­halb von Sekunden ändert sich der Fokus. Die Hand­ka­mera fährt auf die Figuren zu, und dann gibt es einen Zoom, mal scharf, mal unscharf. Es wird perma­nent mit visu­ellen Brüchen gear­beitet, die zeigen, wie einge­schlossen alle sind. Auch die Zuschauer:innen. Man wünscht sich ja ständig, dass die Kamera eine Totale oder wenigs­tens eine Halb­to­tale zeigt.
Bei Gilded Age machen die Figuren alle etwas Eigenes. In Succes­sion geht das nicht, die einzige Option, die sie haben, ist Verrat. Treue oder Verrat.

Es gibt kein Mitein­ander, kein Füreinander….

Und es gibt auch kein Fürsich. Alles passiert in Bezug auf den phal­li­schen Signi­fi­kanten, den Vater.

Lasst uns die Frage von vorhin nochmal aufnehmen. Erzählt die Serie vom Ende der Demokratie?

Ich denke, dass es nicht um das Ende der Demo­kratie geht, sondern um das Entlarven der Fragi­lität von Demo­kratie, in der Tyrannei oder etwas Tota­li­täres möglich sind. Die Serie zeigt auch, dass wir – auch in der Realität – wieder an einem Punkt sind, wo Politik als Fami­li­en­ge­schichte ausge­tragen wird, bei den Trumps, den Bidens…

…und den Blochers, den Le Pens. Die Serie wurde ja mehr­fach dafür kriti­siert, dass sie zu unpo­li­tisch sei. Aber geht es nicht genau darum, dass die Erfolgs­stra­tegie des Medi­en­un­ter­neh­mens, nämlich immer auf der Suche nach dem bestens Deal zu sein, auch als Hand­lungs­weise von Politik präsen­tiert wird?

Aus meiner Sicht ist Succes­sion eine imma­nent poli­ti­sche Serie, weil sie uns zeigt, wie Politik über eine Ökonomie der Aufmerk­sam­keit funk­tio­niert, wie das Georg Frank schon seit zwanzig Jahren sagt.  Aber hier wird nochmal gezeigt, wie die Ökonomie der Aufmerk­sam­keit alles diktiert, die Politik und den Markt. Ständig müssen die Nach­richten erhitzt werden, du musst bereits sein, alles zu tun, du musst, wie in Succes­sion, der erste sein, der den Wahl­sieger ausruft, dann bist du selbst die nächsten Tage Gegen­stand der Nach­richt. Die Inhalte sind völlig egal, Haupt­sache, du bist präsent. Wenn man von Jacques Rancières Idee von Politik und der damit verbun­denen Ökonomie der Visi­bi­lität ausgeht, dann ist diese Serie ebenso poli­tisch, wenn auch viel zyni­scher als die femi­nis­ti­sche Neuer­zäh­lung in Mrs. Maisel oder The Guilded Age. Mitein­ander gelesen ergibt sich dadurch ein Bild für den kultu­rellen Zustand der USA am Anfang der 2020er Jahre. Sie sind ein spre­chender Ausdruck unserer Zeit.