Christine Lötscher, Sylvia Sasse: Elisabeth, oft wird behauptet, dass der Höhepunkt der großen sogenannten Quality-TV-Serien vorbei ist. Falls es tatsächlich so ist – dann lass uns einen Rückblick wagen: Wann begann das Serienzeitalter der Quality-TV-Serien, wie wir es heute kennen?
Elisabeth Bronfen: Um diese Frage beantworten zu können, muss ich etwas ausholen und eine historische Perspektive ins Spiel bringen. Die Serie als mediales Phänomen, zunächst als Sitcom, kommt aus den 1950er Jahren. Sie existierte in den USA schon zu einer Zeit, in der die Fernsehsender Einzug in die Wohnzimmer der damals noch „upwardly mobile“ Mittelschicht genommen hat. Das war auch die Zeit, in der die Nachrichtensprecher, die Anchormen und Anchorwomen, sowie die Musik Shows und Sitcoms eine Art verbindende imaginäre Geografie herstellten. Was das Kino bis in die 1950er Jahre geboten hatte, wurde danach von TV-Serien abgelöst. Diese Serien zogen sich teilweise über eine endlos lange Zeit hin, das konnten acht, neun Jahre sein.
Diese Form der Serialität im Fernsehen galt aber als populäre, um nicht zu sagen triviale Unterhaltung; man konnte sich diese Sitcoms, ebenso wie die auch im deutschsprachigen Raum populären Serien wie Dallas, Dynasty und eine Unzahl an Krimiserien auch gut nebenbei anschauen. Diese Art Serien gibt es nach wie vor in Hülle und Fülle. Doch wie kam es, dass sich mit dem sogenannten Quality TV plötzlich eine neue Form etablierte?
Der Umbruch lässt sich genau datieren; er begann in den frühen 1990er Jahren mit Twin Peaks (1990–1991) von David Lynch. Lynch entwickelt hier etwas ganz Neues, eine andere Ästhetik, eine andere Art, Geschichten zu erzählen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es Lynch war, der den Anstoß dazu gab, das Format der Serie neu zu entdecken.
Wer schaute denn damals Twin Peaks? Ein Blockbuster war die Serie ja damals nicht gerade…
Twin Peaks haben damals alle gesehen, die sich davor schon Lynchs Filme angeschaut hatten, Kinogänger:innen und vor allem Cineast:innen, die sich für Kubrick und Fincher etc. interessierten. Lynch war damals eine wichtige Figur; wenn ein neuer Lynch ins Kino kam, schaute man sich den Film an. Als Twin Peaks im Fernsehen lief, organisierten wir unser Leben um die Ausstrahlungszeiten herum; an diesem Tag mussten wir zu einer bestimmten Zeit zuhause sein. Wir reden hier aber eher von einem bürgerlichen, gebildeten Publikum.
Was hat Lynch denn grundlegend geändert, worauf alle danach aufbauen konnten? Was genau war die neue Form?
Entscheidend war das lange Narrativ. Die erste Staffel von Twin Peaks hat acht Folgen, die zweite sogar 22. Man hört immer den Themensong, das Intro, es gibt Figuren, die immer wiederkehren und sich teilweise entwickeln, teilweise nicht. Wie ein klassisches Drama – mit Haupthandlung und parallel verlaufenden Nebenhandlungen. Die Haupthandlung entwickelt sich auf einen bestimmten Punkt zu. Genau das machen Dallas, Dynasty und wie sie alle heißen nicht. Da ist der Handlungsbogen in jeder einzelnen Episode abgeschlossen. Bei Twin Peaks lief die Handlung auf die Auflösung des Mordes an Laura Palmer am Ende der zweiten Staffel zu. Außerdem hat Lynch Horror, böse Kräfte und eine Form von fantastischer Gewalt ins Fernsehen gebracht, die davor im Unterhaltungsprogramm nicht denkbar gewesen wäre; und vor allem hat er in Twin Peaks das gemacht, was ihn immer interessiert hat, nämlich die Abgründe ausgelotet, die hinter der idyllischen Fassade der Einfamilienhäuschen in den Kleinstädten lauern. Dabei griff er auf eine lange Tradition der US-amerikanischen Literatur zurück. Dazu gehört das topografische Setting, aus dem die Figuren nicht rauskommen: das Schulhaus, das Hotel, das Diner, die Tankstelle. Es war auch klar, dass da ein ästhetisches Konzept dahintersteckt.
Die Serie funktionierte plötzlich wie ein Roman? Im Grunde greift sie damit auch das Erscheinen von Romanen im dem 19. Jahrhundert wieder auf, die ja ebenfalls in Zeitschriften als Serie publiziert wurden.
Ja, und das Serielle dient hier nicht dazu, das Vertraute immer wiederkehren zu lassen, sondern eher eine Verwobenheit verschiedener Figuren und Ebenen entstehen zu lassen – das erinnert an George Eliots Roman Middlemarch oder an Tolstojs Romane. Bei Lynch wurde diese Form immer weirder.
War es vor allem das, was auch die Forschung zur Serialität interessiert hat? Weil da eine Bewegung entstand, die weder linear noch spiralförmig war, nicht immer dasselbe wiederholte, sondern alles mit allem verknüpfte?
Rhizomartig, genau. Und dies strahlte wiederum auf Künstler:innen aus, die dieses Verfahren auf ihre Kunstformen übertrugen, auf Installationen, Videokunst etc. Der zweite konzeptuelle Aspekt, den man mitbedenken muss, kommt aus Hagai Levis BeTipul, einer Serie, die später als Vorlage für die US-Serie In Treatment diente. Levis Idee war es, Konzeptkunst zu machen. Vier plus eins: vier Figuren besuchen an vier Tagen den Analytiker, am fünften Tag geht der Analytiker zu seiner Supervision. Das spielt immer am gleichen Ort, immer werden Geschichten erzählt. Die Serie entsteht sozusagen aus diesen Beschränkungen heraus. Was danach kommt, mit Deadwood, mit The Wire, entwickelt dieses Prinzip weiter; ein Ort, eine Reihe von Figuren, ein politisch aufgeladener Zeitpunkt der Handlung – dieser Rahmen erlaubt eine Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen US-amerikanischer Politik und Kultur.
Und wie ging es dann weiter?
Es brauchte danach aber doch noch einmal gute zehn Jahre, bevor das sogenannte Quality TV oder Complex TV sich wirklich global durchsetzen konnte. Auch diesen Zeitpunkt kann man genau festmachen, und zwar an The Sopranos (1999–2007). Die Serie beginnt eher wie eine traditionelle Show; es sind immer die gleichen Schauplätze, immer dieselben Figuren, es wird kein großer, übergreifender Erzählbogen entwickelt. Das ändert sich mit Matthew Weiner, der ab 2004 die Produktion übernahm und der später Mad Men gemacht hat.
Was ebenfalls mit The Sopranos beginnt, ist der Erfolg von HBO, dem Kabel-TV-Anbieter und späteren Streamingdienst Home Box Office. Wenn alle immer von «Netflix-Serien» reden, ist das eigentlich falsch, denn gemeint sind damit Serien, die mehrheitlich von HBO produziert wurden und werden.
In letzter Zeit waren das zum Beispiel Succession, The White Lotus, Euphoria, The Last of Us oder das Game of Thrones-Prequel House of the Dragon.
Zu Beginn, das hat mir Hagai Levi erzählt, dessen israelische Serie In Treatment von HBO übernommen wurde, konnte man dort alles machen, was man wollte. Es war billig, bei HBO zu produzieren, es gab praktisch keine Zensur, auch nicht politischer oder moralischer Art. Diese Rahmenbedingungen sorgten für die erste und wohl auch größte Welle von global erfolgreichen Serien. The Wire, auch das muss man im Auge behalten, war die erste Serie, die unmittelbar zum globalen Phänomen wurde. Denn The Sopranos kannten davor eher Spezialist:innen; es war nicht etwa so, dass zu Beginn der Nullerjahre alle all diese Serie geschaut hätten. In diesem großen Moment wandte sich auch die Kulturwissenschaft dem Phänomen zu und es kam damals schon der Vergleich mit dem Roman des 19. Jahrhunderts auf. Darauf folgte eine Zeit, in der alle Leute dieselben Serien schauten: Mad Men, Deadwood, Six Feet Under, Breaking Bad, Threme – man konnte sich immer und überall darüber unterhalten. Das ist nun vorbei.
Mit Netflix wurde es dann möglich, Serien ganz am Stück zu schauen. Dies produziert eine ganz neue Praxis des Schauens, ebenso wie später das Streaming. Das muss man mitbedenken, weil es die wirklich künstlerisch wertvollen Serien heute zwar auch noch gibt, doch neben hunderten von anderen. Kein Mensch hat mehr einen Überblick über das Angebot, es gibt keinen gemeinsamen Nenner mehr. Insofern haben Serien das, was sie hatten, als sie kulturell und ästhetisch wichtig wurden, verloren. Das heißt aber nicht, dass die Fernsehserie an ihr Ende gekommen ist. Doch einen langen dramaturgischen Bogen wie bei Mad Men, die einer Serie erlauben, sich konsequent auf einen länger bereits angelegten Abschluss hin zu entfalten, gibt es heute weniger; Succession zum Beispiel hätte Jesse Armstrong sicher gerne noch über fünf oder sechs Staffeln weitererzählt, doch nach der vierten Staffel fand HBO, jetzt sei Schluss. Auch bei The Marvelous Mrs. Maisel war klar, dass es nicht mehr als fünf Staffeln geben wird. So wurde auch Westworld nicht verlängert. Gleichzeitig darf man nicht ausser Acht lassen: die Emmys sind weiterhin viel bedeutender als die Oscars, was doch ein Beleg dafür ist, dass viel eher das große Kino in der Krise ist und nicht die TV-Serie auf Streamingplattformen.
Eigentlich wollten wir ja über Serien reden, doch nun, wo du das Kino erwähnst, drängt sich angesichts des aktuell als Rückkehr des Kinos gefeierten ,Barbenheimer‘-Phänomens doch die Frage auf, ob die großen Transmedia Franchises mit Blockbustern wie Barbie, der sich durch Greta Gerwigs Regiearbeit mitten in die Debatten um Feminismus und Diversität einschreibt, oder Oppenheimer, Christopher Nolans Epos über den ‘Vater der Atombombe’, wirklich neuen Aufschwung bekommen. Oder sind das nur (pinke) Eintagsfliegen?
Das wird sich noch zeigen müssen, aber der riesige Erfolg von Greta Gerwig und Noah Baumbach – das Drehbuch ist ja von ihnen beiden – zeigt, welche Möglichkeiten das Kino noch immer hat, wenn es einen kulturell neuralgischen Punkt trifft. Auf das schöne Wetter und Post-Covid-Ängste kann man die leeren Kinosäle nicht schieben. Aber vielleicht ist es in diesem Fall auch die brillante Mischung von wirklich gutem Entertainment und kluger Gesellschaftssatire, die feministische Kritik am Patriarchat mit einer fröhlichen Affirmation kapitalistischer Fetischobjekte so geschickt verbindet. Zumindest eines ist momentan sicher: Barbie ist zu dem verbindenden Medienereignis geworden, über das wir alle miteinander reden wollen, und über das sich viel, und sehr unterschiedlich nachdenken und schreiben lässt.
Die meisten Serien, die breit rezipiert werden, kommen tatsächlich aus den USA und bilden eine Art Archiv der US-Gesellschaft. Welche Rolle spielt denn die aktuell zu beobachtende Tendenz, dass Serien wie Mrs. America oder The Marvellous Mrs. Maisel zu feministischen Relektüren der US-Geschichte ansetzen?
The Marvellous Mrs. Maisel ist ein gutes Beispiel, denn die Serie geht noch einmal zurück zu Mad Men, und zwar ganz dezidiert aus einer weiblichen Position heraus. Auch wenn die Frauen in Mad Men wichtig sind und sich am Ende zum Teil auch durchsetzen können, kreist doch alles um Don Draper. Die Autorin von Mrs. Maisel, Amy Sherman-Palladino, die sich bereits in Gilmore Girls für weibliche Biografien interessierte, schaut sich genau diese Zeit an, den Übergang von den 50ern in die 60er Jahre – aber ganz dezidiert als eine Frauengeschichte, eine Geschichte von Frauensolidarität. Es gibt auch Zerwürfnisse, doch, Spoileralert, es kommt am Ende auf eine so rührende Weise wieder gut heraus. Da wird eine doppelte Trajektorie weiblicher Erbfolge erzählt: die Protagonistin Midge versteht sich als Erbin mehrerer Generationen von Stand-Up Comedy, zu der Mae West gehören, Barbara Streisand, also hauptsächlich jüdische Comedians. Im Sinne solch einer Erinnerung an die Erbfolge von Künstlerinnen wäre es übrigens lohnend, eine Barbara Streisand Retrospektive zu machen. Die Heldin, Midge Maisel, steht in dieser Tradition, und doch handelt es sich auch um eine Umschrift dieser Geschichte. Es geht darum, wie diese Geschichte für unsere Gegenwart erzählt werden kann, was sich da herausholen und vor allem wie es sich gestalten lässt. So lässt sich die tiefe Freundschaft zwischen Midge und ihrer Agentin, Susi Meyerson, die mit ihr – und durch sie – berühmt wird, verstehen. Die Serie entscheidet sich für Frauensolidarität über die Generationen hinweg.
Was ist daran besonders aktuell?
The Marvellous Mrs. Maisel ist ein Beispiel für eine serielle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit der Art, wie die Vergangenheit archiviert wird, in kinematografischen Bildern und Erzählungen über US-amerikanische Geschichte. Die Frage, die in Mrs. Maisel aufgegriffen wird, ist im Kern: wie erlaubt die Erzählung von einer Umbruchszeit am Beispiel einer Frau, die Karriere machen und trotzdem auch Familie haben will, ein Nachdenken über die Umbrüche von heute?
Midge Maisel ist auch Künstlerin, und sie erzählt in gewisser Weise Serien auf der Bühne, in Form von Geschichten aus ihrem Leben. Gibt es etwas, das an dieser Serie so neu ist wie damals Twin Peaks für die filmische Serienproduktion neu war?
Mrs. Maisel ruft die jüdische Kultur der 60er Jahre auf, Musik, Essen, jewish Stand-up, die jüdische Tradition des Anekdotenerzählens, aber auch radikale weibliche Positionen wie in der confession poetry einer Sylvia Plath oder Anne Sexton. Somit begründet die Serie eine völlig neue Art von Stand-up. Midge reißt, anders als die männlichen Comedians zu dieser Zeit, nicht immer die gleichen Witze, sie studiert nicht immer wieder das gleiche Programm ein. Sie will etwas Neues machen, etwas Authentisches. Sie verändert etwas qualitativ, bürgerliches Theater ist langweilig, für Reiche ausgestellte Malerei ist langweilig – aber sie ist inspiriert.
Wir wollen noch über zwei weitere Serien sprechen, die auch in New York spielen und die auch Familienserien sind, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten: Mrs. Maisel spielt, wie schon erwähnt, in den 1950er Jahren, während The Gilded Age im Manhattan der 1880er Jahre angesiedelt ist und Succession in unserer unmittelbaren Gegenwart. Interessant scheint dabei die Vorstellung, dass Serien es ermöglichen, eine unerzählte Geschichte zu erzählen. Aber das heisst ja nicht nur, dass etwas ausgegraben oder recherchiert wird, sondern dass Geschichte auch anders erzählt werden kann. Wie verhält es sich damit bei den beiden historischen Serien: graben sie einfach etwas aus oder erzählen sie andere Geschichten?
Ich würde sagen, dass sowohl The Gilded Age als auch Mrs. Maisel das bedienen, was die amerikanische Literatur Romance nennen würde. Das kann sowohl high als auch low sein; bei Henry James und Edith Wharton ist es high, bei den Harlequin Romances etc. hingegen ist es low. Das heißt, es geht um Liebesgeschichten, Streit zwischen Eltern und Kindern, Geschwisterbeziehungen, und das alles mit großem Pathos. Die Serien greifen diese Erzählformen auf, die immer schon zwei Register hatten. Von der reinen Erzählung her ist das eher konventionell. Anders ist dagegen die Perspektive, die sie einnehmen: Wen rücken sie in den Vordergrund, wen lassen sie im Hintergrund. Gerade bei The Gilded Age – die Serie wurde ja von den Machern von Downton Abbey geschrieben, aber jetzt auf Amerikanisch – fällt auf, dass sich fast alles an einer Straße abspielt. Auf der einen Straßenseite leben die Alteingesessenen, auf der anderen die Emporkömmlinge. Vielleicht wurde hier etwas schematisch am Reißbrett überlegt, wo die Fronten in dieser Umbruchszeit verlaufen.
Doch wenn wir den Blick zurück auf dieses Gilded Age richten, die viele Analogien mit unserer vom neoliberalen Kapitalismus geprägten Zeit hat, in der genau die gleichen Fragen rund um Migration, Kapitalismus, Frauenrechte und Geschlechterdefinitionen behandelt werden, ist die Frage, was davon hervorgeholt werden soll. Die eine Seite ist die jüdische Familie, die in sich komplex ist; Daisy Miller auf jüdisch; die andere Seite ist geprägt von einer Frauengemeinschaft, zwei Schwestern und ihre Nichte, alle ohne Mann. Dazu kommt die Schwarze Schriftstellerin und ein Heiratsschwindler etc. Wenn es überhaupt noch straight white people gibt, dann sind es arme Iren, die im Untergeschoss als Bedienstete arbeiten. Was man selten sieht, ist das, was bei Erzählungen über die Gesellschaft dieser Zeit normalerweise im Zentrum stand, nämlich das weiße heterosexuell ausgerichtete Großbürgertum. Es ist aber nicht so, dass die Figuren und Lebensformen, die im Zentrum stehen, erfunden wurden; die gab es wirklich, doch sie standen bisher nie im Mittelpunkt. Insofern ist es eine Form von Korrektur durch Ergänzung. Die sehr zeitgemäß ist und genau das in den Fokus nimmt, was das heutige Publikum interessiert; nämlich Schwarze und jüdische Figuren und nicht immer dieselben weißen Großbürger:innen.
Die kennen wir ja auch schon zuhauf aus der Literatur.
Ja und nein. Es gibt auch Figuren wie Mrs. Chamberlain, die wir zwar aus dem Roman des 19. Jahrhunderts kennen: Mrs. Chamberlain wird ausgeschlossen und geächtet, weil sie vor Jahren in wilder Ehe mit einem Mann gelebt hatte. Diese Figur ist z.B. die Protagonistin in Edith Whartons The Age of Innocence (1920), Ellen Olenska; sie ist die Ausgeschlossene, die mit ihrer randständigen Position leben muss, und der Roman geht auch so mit ihr um. Die Serie hingegen geht ganz anders mit Mrs. Chamberlain um; es ist klar die stigmatisierende Gesellschaft, die nun dumm dasteht. Die Serie baut andere Bezüge, und zwar richtige Bezüge. Alle Figuren sind mit allen anderen irgendwie verknüpft, egal, welcher Klasse und race sie angehören, und so entsteht ein anderes Bild von Gesellschaft als Netzwerk.
Bemerkenswert ist ja auch der Fokus auf die alleinstehenden Frauen, die es tatsächlich in großer Zahl gab, deren Biografien aber als uninteressant und, wenn sie nie verheiratete Mütter waren, als irgendwie gescheitert galten. In Gilded Age werden sie zu agierenden Personen.
Und sie sind auch keine eindimensionalen Figuren. Aunt Agnes, die alteingesessene weiße Witwe, ist hart gegenüber Frauen, die in wilder Ehe leben, unerbittlich gegenüber Empörkömmlingen und Jüd:innen. Doch die ambitionierte Schwarze Autorin unterstützt sie – da ist ihr die Begabung und die Energie der jungen Frau wichtiger. Im Großen und Ganzen ist die Serie auch nicht denunziatorisch und lässt die Figuren trotz der Neigung zur Karikatur in ihrer Ambivalenz als sympathisch erscheinen.
Es scheint so, dass sich die Figuren durchzusetzen wissen, die interessant und komplex sind und die sich eindeutigen Identitätszuschreibungen entziehen.
Ja, und da sind wiederum Bezüge zu Henry James erkennbar; er spricht von moral imagination – dem Moment, in dem man begreift, dass man seinen moralischen Code verändern, dass man umdenken muss, weil sich die Situation verändert hat. Auf die Erkenntnis der Parameter, nach denen die Welt funktioniert, laufen viele der Romances des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinaus. Insofern ist diese Serie mehr als Unterhaltung. Da sind nicht einfach, wie bei Downton Abbey, die zwei Welten upstairs und downstairs, die sich gegenüberstehen, sondern es gibt komplexe Figuren, die psychologisch veränderbar sind. Schön finde ich auch, dass eher Eheverhinderung als Eheschließung im Zentrum steht. Letztlich kann man sagen, dass es um ein Ringen um Demokratie in den USA geht; in der Serie ist es eine größere Gruppe von Menschen, die den Demos ausmacht, und diese Menschen müssen gegenseitig aufeinander eingehen.
Wie siehst du die Auseinandersetzung mit Demokratie in Succession – ist sie eine gegenwartsdiagnostische Serie, die vom Ende der Demokratie erzählt?
Ja, man kann schon sagen, dass die von Frauen gemachten Serien optimistischer sind, sie setzen auf eine gewisse Menschlichkeit, ich wage mal zu sagen, auf eine weibliche Menschlichkeit, die von Frauenbündnissen und Frauensolidarität ausgeht. In diesem Sinn sind sie Romances. Succcession versteht sich als etwas anderes. Succession gehört für mich eher in eine Reihe mit House of Cards oder Homeland. Es ist eine Serie über die Verwicklung von Medien und Politik und eine Familiengeschichte, eine Geschichte eines Vaters und seiner vier von ihm kastrierten Kinder, von seiner Unfähigkeit loszulassen, weil er die eigene Sterblichkeit nicht anerkennen kann und sich seiner eigenen Vulnerabilität schämt. Das ist Shakespeares King Lear, der da verarbeitet wird. Und diese kastrierten Kinder tun alles, um die Liebe des Vaters zu bekommen, die sie niemals bekommen können und sich dadurch gegenseitig zerfleischen bis zum Schluss. Die inhärente Geschwisterrivalität, die in der Psychoanalyse vor allem von Jessica Benjamin herausgearbeitet wurde, rückt in den Fokus. Sie zerstören sich, weil Zerstörung, Zerfleischung und Missachtung der Code ist, in dem diese Familie operiert. Das ist Tragödie, das ist Dostoevskij, damit können alle etwas anfangen, die sich für Gewalt in der Familie interessieren.
Wenn wir drüber gesprochen haben, dass z.B. in The Gilded Age die Geschichte von Frauen und Aussenseiter:innen erzählt wird, dann kommt hier nun doch wieder der alte weiße Mann ins Zentrum. Was bedeutet das denn? Wieso kommt diese Figur wieder zurück bzw. warum ist sie immer noch da? Ist das als Kommentar dazu zu verstehen, dass wir den Patriarchen und sein System nicht loswerden können?
Wenn man die beiden Serien zusammendenkt, The Gilded Age und Succession, dann haben wir auf der einen Seite den Versuch, eine andere Geschichte über Frauen zu erzählen, über das Matriarchat. Und auch in Mrs. Maisel geht es darum, dass Frauen sich gegenseitig dabei helfen, den Durchbruch zu schaffen. Auf der anderen Seite sieht man – Armstrong ist zynischer und realistischer als Fellows und Sherman-Palladino –, dass weder Kapitalismus noch Patriarchat auf dem Rückzug sind, stattdessen gibt es immer mehr Männer, die nach rechts rutschen. Es ist erschütternd, wie sich im 21. Jahrhundert das Patriarchat wieder so festgesetzt hat, obwohl wir doch im Laufe der 1990er Jahre dachten, wir hätten es jetzt abgesägt. In Succession steht der alte Mann ein für ein auf Machtmissbrauch basierendes politisches, ökonomisches und psychologisches System. Und all die Frauen, die da auftauchen, sind ebenfalls Teil dieses Systems. Einige versuchen schon, sich durchsetzen, wie z.B. Shiv, die Tochter von Logan Roy. Sie will als Frau ernst genommen werden, doch in dem patriarchalen System, in dem sie das versucht, geht das nicht.
Was uns in der Serie gezeigt wird, ist auch die Paradoxie der Freiheit: Ich verlange für mich die totale Freiheit, die kann ich aber nur erreichen, indem ich andere brutal unterdrücke und von mir abhängig mache – so die Logik des Vaters. Im Grunde beobachten wir ein kleines totalitäres Familiensystem. Du hast vorhin von der moral imagination gesprochen und davon, dass es bei The Gilded Age darum geht, sich situativ zu verhalten und sich dadurch zu emanzipieren. Bei Succession ist es wohl eher so, dass der Vater alle zwingt, permanent situativ auf ihn reagieren zu müssen. Immer ändert sich alles, und das ist Teil seines Terrors.
Ja, und im Film wird die Reaktion darauf nicht moralisch bewertet. Denn es geht darum, in dem System des Vaters zu überleben. Succession hat ja eine doppelte Bedeutung: to succeed heißt, Erfolg zu haben und nachzufolgen. In der Serie geht es um beides. Die Kinder von Logan Roy wollen an seine Stelle, sie wollen aber auch erfolgreich sein. Erfolg bedeutet für sie, seine Macht zu bekommen.
Wie ist das filmisch umgesetzt?
Darauf weist schon der Vorspann hin. Denn ganz am Ende der Sequenz sehen wir den Rücken von Logan Roy; er sitzt am Tisch, zusammen mit seinen Kindern, aber sie sind unscharf. Der Vater hingegen ist im Fokus der Kamera, aber er wendet uns den Rücken zu. Alles läuft auf die Frage hinaus, wie die Kinder auf ihn reagieren und wie sie nicht anders können, als sich von ihm terrorisieren zu lassen, weil sie eingebunden sind in dieses System. Und wir als Zuschauer:innen auch.
Wir auch?
Das macht die Serie ästhetisch so interessant, weil sie so oft mit der Handkamera arbeitet. Innerhalb von Sekunden ändert sich der Fokus. Die Handkamera fährt auf die Figuren zu, und dann gibt es einen Zoom, mal scharf, mal unscharf. Es wird permanent mit visuellen Brüchen gearbeitet, die zeigen, wie eingeschlossen alle sind. Auch die Zuschauer:innen. Man wünscht sich ja ständig, dass die Kamera eine Totale oder wenigstens eine Halbtotale zeigt.
Bei Gilded Age machen die Figuren alle etwas Eigenes. In Succession geht das nicht, die einzige Option, die sie haben, ist Verrat. Treue oder Verrat.
Es gibt kein Miteinander, kein Füreinander….
Und es gibt auch kein Fürsich. Alles passiert in Bezug auf den phallischen Signifikanten, den Vater.
Lasst uns die Frage von vorhin nochmal aufnehmen. Erzählt die Serie vom Ende der Demokratie?
Ich denke, dass es nicht um das Ende der Demokratie geht, sondern um das Entlarven der Fragilität von Demokratie, in der Tyrannei oder etwas Totalitäres möglich sind. Die Serie zeigt auch, dass wir – auch in der Realität – wieder an einem Punkt sind, wo Politik als Familiengeschichte ausgetragen wird, bei den Trumps, den Bidens…
…und den Blochers, den Le Pens. Die Serie wurde ja mehrfach dafür kritisiert, dass sie zu unpolitisch sei. Aber geht es nicht genau darum, dass die Erfolgsstrategie des Medienunternehmens, nämlich immer auf der Suche nach dem bestens Deal zu sein, auch als Handlungsweise von Politik präsentiert wird?
Aus meiner Sicht ist Succession eine immanent politische Serie, weil sie uns zeigt, wie Politik über eine Ökonomie der Aufmerksamkeit funktioniert, wie das Georg Frank schon seit zwanzig Jahren sagt. Aber hier wird nochmal gezeigt, wie die Ökonomie der Aufmerksamkeit alles diktiert, die Politik und den Markt. Ständig müssen die Nachrichten erhitzt werden, du musst bereits sein, alles zu tun, du musst, wie in Succession, der erste sein, der den Wahlsieger ausruft, dann bist du selbst die nächsten Tage Gegenstand der Nachricht. Die Inhalte sind völlig egal, Hauptsache, du bist präsent. Wenn man von Jacques Rancières Idee von Politik und der damit verbundenen Ökonomie der Visibilität ausgeht, dann ist diese Serie ebenso politisch, wenn auch viel zynischer als die feministische Neuerzählung in Mrs. Maisel oder The Guilded Age. Miteinander gelesen ergibt sich dadurch ein Bild für den kulturellen Zustand der USA am Anfang der 2020er Jahre. Sie sind ein sprechender Ausdruck unserer Zeit.