Nach mehr als fünfjährigen Verhandlungen schloss die deutsche Regierung am vergangenen 28. Mai mit ihrem Gegenpart in Namibia ein Abkommen ab, in dem sie den Völkermord der Deutschen an den Ovaherero und Nama im frühen 20. Jahrhundert im damaligen Deutsch-Südwestafrika anerkannte. Nach einem abgelehnten Entschädigungsangebot von 10 Millionen Euro im Jahr 2020 gab die Bundesrepublik nun bekannt, die damaligen Praktiken eines „Rassenkriegs“ (race war) gegen die indigenen Völker Namibias als Völkermord zu bezeichnen und über die nächsten 30 Jahre insgesamt 1,1 Milliarden Euro „an bestehende Hilfsprogramme zu zahlen.“ Diese Summe entspricht in etwa der Höhe der jährlichen Entwicklungshilfe, die Deutschland Namibia seit seiner Unabhängigkeit 1990 gewährt hat, einschließlich Infrastrukturprojekte und 50 Millionen Euro „für den Aufbau einer Stiftung zur Versöhnung zwischen den beiden Staaten.“ Das Abkommen, das aus bilateralen Verhandlungen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung hervorgegangen ist, wird allerdings von mehreren traditionellen Führern und Repräsentanten der betroffenen Gemeinden abgelehnt. Zu ihnen gehört der Ovaherero Paramount Chief Vekuii Rukoro, der dieses als „Beleidigung“ bezeichnete – bei Lichte besehen eine zutreffende Einschätzung dieser raffinierten diskursiven Verwandlung von fortlaufenden Entwicklungshilfezahlungen in eine große versöhnliche Geste.
Dieser angebliche Deal, der von vielen Deutschen als politischer und moralischer Erfolg gefeiert wurde, platzte mitten in eine potenziell paradigmenverändernde Debatte über zentrale Aspekte deutscher Regierungstechniken im 20. Jahrhundert – genauer gesagt über die offizielle Erinnerung an den deutschen Kolonialismus und den Holocaust. In dieser Debatte steht das Beharren auf der Singularität des deutschen Völkermords an den Juden auf der einen Seite; auf der andern existieren unterschiedliche Vorstellungen über die historische Beziehung zwischen der genozidalen Gewalt des deutschen Imperialismus und den in Europa während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen begangenen Verbrechen. Dem Beharren auf der Einzigartigkeit des Holocaust haftet eine seltsame Sentimentalität an; dabei werden rhetorische Ablenkungsmanöver und ungedeckte intellektuelle Behauptungen sichtbar – etwa die Idee, dass strukturelle Relationalität gleichbedeutend sei mit Kausalität –, die disziplinäre und epistemische Mängel ebenso offenlegen wie bestimmte politische Einsätze.
Dirk Moses hat in seinem Essay „Der Katechismus der Deutschen“ nun jüngst die politische Theologie dargelegt, die sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland herausbildete. Sie basiert demnach auf fünf Grundannahmen. Zu ihnen gehört erstens die Behauptung, dass der Genozid der Nazis einzigartig und außergewöhnlich sei, weil die Vernichtung der Juden um der Vernichtung willen geschah. Zweitens handele es sich bei diesen ideologisch motivierten Verbrechen um einen „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner). Laut dieses Mythos‘ brach Deutschland mit der Praxis einer gerechten, geregelten europäischen Kriegsführung und wurde in der Folge durch die Nürnberger Prozesse bestraft, die als juristische Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts gedacht waren und in deren Kontext zum ersten Mal der damals noch junge Begriff des Genozids ins internationale Strafrecht eingeführt wurde. Aufgrund dieser versuchten Ausrottung und dem Rassismus gegenüber Juden (d.h. dem Antisemitismus) habe Deutschland, drittens, eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden in Deutschland und gegenüber dem Staat Israel. Viertens sei Antisemitismus ein eindeutig deutsches rassifiziertes Vorurteil, das sich von anderen Formen des Rassismus unterscheide. Und fünftens schließlich stelle jede Opposition gegen die selbstbestimmende Politik des Staates Israel Antisemitismus dar; deshalb hat Deutschland die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) übernommen und verficht diese mit Nachdruck.
Die Siedlerkolonie Deutsch-Südwestafrika
Um den politischen Charakter, das nationale Ethos und den historischen Entwicklungspfad zu verstehen, die die Grausamkeit der genozidalen Gewalt des Nationalsozialismus hervorbrachten, ist es meines Erachtens notwendig, mit Deutschlands erster Realisierung der Idee vom „Lebensraum“ zu beginnen. Die erste Konkretisierung des siedlerkolonialen Lebensraum-Konzeptes verband die territoriale Expansion in Deutsch-Südwestafrika mit einer Biologisierung des Deutschtums als überlegenes Weißsein, das hier im Gegensatz zur „Barbarei“ der angeblich unzivilisierten Afrikaner stand, die keinen erkennbaren Anspruch auf dieses „deutsche“ Land hätten. Indem man „Lebensraum“ in diesem Sinne als eine auf ein physisches Territorium bezogene Definition des deutschen Selbst und eines rassifizierten Anderen versteht, kann man Schwarzsein nicht als etwas verstehen, das in abstrakter Weise einfach definiert wird, sondern muss mit Michelle M. Wright (Physics of Blackness, 2015) die Frage stellen, „wann und wo es imaginiert, definiert und performt wird und an welchen Orten“.
Im Jahr 1884 begann Deutschland mit der Kolonisierung des auf der Berliner Konferenz erworbenen Südwestafrikas. Der Anthropologe Patrick Wolfe argumentiert, dass die Ankunft der Deutschen und die Konkurrenz um Land in der nachgerade klassischen Logik des Siedlerkolonialismus bald die Eliminierung der einheimischen Völker bedingte. In den Herero-Kriegen von 1904-08 wurden 80 % der Ovaherero und fast die Hälfte der Nama vernichtet. Wenn man das wissenschaftliche Nachleben dieses Genozids, der durch eine grundsätzliche Anti-Blackness angetriebenen wurde, und dessen Beziehungen zu anderen rassifizierenden Denkkonzepten und Praktiken untersucht, wird der imperiale Denkhorizont besser verständlich, der nicht nur die wilhelminische, sondern auch die nationalsozialistische Rassenpolitik als „Kampf um Lebensraum“ ermöglichte. Betrachtet man beispielsweise die Arbeit des einflussreichen Anthropologen Eugen Fischer(1874-1967), zeigt sich, dass seine Studie über die „gemischtrassigen“ Gemeinschaften in Rehoboth im heutigen Namibia (Die Rehobother Bastards und das Bastardierungsproblem beim Menschen, 1913) die deutsche Staatsbürgerschafts- und Rassenpolitik vielfach beeinflusste: angefangen von der rechtlichen Kriminalisierung „gemischtrassiger“ Ehen in den deutschen Kolonien und im Deutschen Kaiserreich in den Jahren 1908 bzw. 1912 über das auf dem jus sanguinis basierende Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 bishin zum Einfluss von Fischers Studie auf Adolf Hitler und die Nürnberger Gesetze von 1935.
Zeichnet man in diesem Sinne die Übertragung und Verwandlung der Rassenkonzepte aus Südwestafrika bis zu ihrer Anwendung in den Gebieten und an den Bevölkerungen Ostpreußens nach, kann man gewissermaßen den Weg der Verhärtung des Deutschseins als Weißsein nachzuvollziehen: Eine so konzipierte deutsche Staatsbürgerschaft, die auf dem Ausschluss von Schwarzsein, Jüdischsein und anderen „Unreinheiten“, basierte, bedurfte einer rassenhygienischen Wissenschaft, erzwungener Segregationen und schließlich des Genozids. Der Literaturwissenschaftler Dorian Bell, der über Antisemitismus im französischen Kaiserreich schreibt, bezeichnet in seinem Buch Globalizing Race: Antisemitism and Empire in French and European Culture (2018) die Art und Weise, wie sich imperiale Logiken der „Rasse“ in verschiedenen Formen und in unterschiedlichen Maßstäben und Skalen an verschiedenen Orten realisieren, als „rassische Skalarität“. Mit diesem Konzept lässt sich verstehen, wie „es für [die Idee von] Rasse möglich war, Raum zu produzieren, wie auch umgekehrt für Raum, Rasse zu vermitteln und zu produzieren.“ Anders gesagt, bedeutet das, dass das Konzept „Lebensraum“, das im Deutschen Kaiserreich Geltung erlangte, zwar Merkmale besaß, die demjenigen des nationalsozialistischen Deutschlands ähnlich waren, aber dennoch nicht in diesem aufging; und zwar deshalb, weil die Kontexte des Bevölkerungsmanagements (indigene Afrikaner in Südwestafrika im Vergleich zu Juden, Roma und anderen in Deutschland) und der Landnahme (afrikanische Kolonien im Vergleich zu Mittel- und Osteuropa) unterschiedlich waren – die politischen Ziele aber doch ähnlich, nämlich die Schaffung eines reinen deutschen Volkes.
Schwarzsein
Schwarzsein erforschen und das Engagement im Feld der „Black Studies“ haben ein Konzept starkgemacht, das Michelle Wright als „epiphänomenale Zeit“ beschreibt: Ein „‚Heute‘, durch das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer interpretiert werden“, indem es ein Denken von „direkter oder linearer Kausalität“ zurückweist und durch ein Denken in Relationen ersetzt. Konkreter: Es bedarf keiner Kausalitätsbehauptung, um sinnvoller Weise anzuerkennen, dass viele in Deutschland auch nach dem Verlust ihrer afrikanischen Kolonien koloniale Ambitionen hegten, dass der Genozid an den Ovaherero und Nama die Massenvernichtung in das Arsenal der biopolitischen Möglichkeiten einbrachte oder dass der „Lebensraum“ der Nazis ausgeprägt siedlerkoloniale Züge trug.
Die Fokussierung auf das Schwarzsein ist für mich eine ständige Erinnerung daran, dass bei diesen historiografischen Debatten sehr viel auf dem Spiel steht. Dringender als die Auseinandersetzungen darüber, ob der deutsche Weg von Windhoek nach Auschwitz ein direkter, indirekter oder nicht vorhandener war, ist die Inkonsistenz, mit der Genoziderfahrungen betrachtet und beurteilt werden.
Obwohl Raphael Lemkin den Begriff des Genozids mit Blick auf imperiale und koloniale Herrschaft prägte – er stand maßgeblich unter dem Eindruck des osmanisch-türkischen Genozids an der armenischen, assyrischen und griechischen Bevölkerung des Reiches sowie der spanischen Kolonisation in Amerika –, bietet dieser Begriff erstaunlich wenig Raum dafür, europäische koloniale Genozide anzuklagen und rückwirkende Wiedergutmachung einzufordern. Denn während wir darüber debattieren, ob der nationalsozialistische Genozid eine Ausnahme darstellt oder historische Verbindungen gibt, wird den Opfern des vorangegangenen deutschen Genozids in Südwestafrika bzw. Namibia ein beleidigendes und unwürdiges Minimalangebot präsentiert: Von den überlebenden Gemeinschaften wird erwartet, dass sie diese rhetorische Anerkennung (eher ein Schuldeingeständnis als eine Entschuldigung) ohne bedeutsame Entschädigung akzeptieren, obwohl die Deutschen seit langem die Maxime hochhalten, dass es keine Anerkennung von Verbrechen ohne Wiedergutmachung geben kann. Deutschlands aktuelle Anerkennung seiner kolonialen Verbrechen kann daher unmöglich als erster Schritt auf dem langen Weg zur Versöhnung gefeiert werden, und dies nicht zuletzt deshalb, weil die Ovaherero- und Nama-Gemeinschaften weiterhin unter der spirituellen, kulturellen und metaphysischen Wunde ihrer ermordeten Vorfahren leiden, die trotz früherer staatlicher Rückführungszeremonien immer noch in deutschen (und anderen) Archiven und musealen Einrichtungen eingekerkert sind.
Was in dieser Debatte über Kontinuität auf eklatante Weise abwesend ist, sind die Black Studies und die Schwarzen Menschen selbst: die schockierende Herabstufung von und das Desinteresse an lebenden und toten Schwarzen Menschen, die abstrakte Behandlung afrikanischer/Schwarzer Menschen als Subjekte distanzierter historischer Betrachtungen – während es Gemeinschaften gibt, die weiterhin die Kontinuitäten kolonialer Enteignung ertragen und immer noch Wiedergutmachung für ihr Leiden fordern. Welche Funktion hat die Entpolitisierung der versuchten Vernichtung als bloß „ideologische“ Angelegenheit, als gäbe es nicht – und dies hat nicht zuletzt sein Fundament in der gewaltsamen Rückseite des Westfälischen Staatensystems –, klare und eindeutige politische Motive für das Othering, die Dämonisierung und den Versuch, ganze Völker zu vernichten? Was wäre, wenn diese Geschichte mit den indigenen Namibier:innen und ihrer Ablehnung des Deals beginnen würde, anstatt diese kritische Ablehnung in der westlichen Berichterstattung zu einem Nachsatz am Ende der Geschichte zu degradieren? Was wäre, wenn afrikanische Realitäten einen wesentlichen Kern der Debatte ausmachen würden, und nicht unsere Interpretation der Gewalt kolonialer Unterdrücker? Was wäre, wenn die Ovaherero und Nama als ausreichend verlässliche Erzähler angesehen würden, so dass wir ihre Weltsicht, ihre historischen Interpretationen, ihre andauernden Traumata und ihre Forderungen nach Wiedergutmachung als unsere bestimmenden Wahrheiten betrachten würden?
Ereignisse sind sicherlich einzigartig, aber selten außergewöhnlich. Das Verständnis für die tiefe Verflechtung von historischen Ereignissen und Prozessen anstelle einer bloß linearen Abfolge kann unser Verständnis für historische Ereignisse und das Potenzial für Solidarität, das aus dieser wahrhaften Anerkennung erwächst, nur stärken. Eine nachhaltige Beschäftigung mit den Black Studies kann dazu beitragen, dies zu erleichtern.