
Serie „Dickinson“: Emily Dickinson am Schreibtisch in ihrem Mansardenzimmer. Quelle: youtube.com
Wenn von der großen amerikanischen Dichterin Emily Dickinson (1830-1886) die Rede ist, fehlt selten der Hinweis auf ihre Unzeitgemäßheit. Die in ihren letzten Lebensjahrzehnten fast vollkommen zurückgezogen lebende Dichterin schrieb Gedichte, die in ihrer Zartheit, Beharrlichkeit und Verrücktheit ihresgleichen suchen. Scheinbar ›aus der Zeit gefallen‹ oder ›ihrer Zeit‹ um Jahrzehnte ›voraus‹, gehören diese Gedichte nicht nur dem subjektiven Empfinden nach, sondern auch faktisch zu den in der Geschichte der Literatur gelegentlich zutage geförderten Zeitkapseln, die erst mit einer beträchtlichen Verspätung zu einer vielfältigen Rezeption gelangt sind.
Von den rund 1800 Gedichten erschienen nur rund zehn zu Lebzeiten der Autorin, alle anonym, alle anderen wurden lange nach ihrem Tod erst einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die schwierige Editionsgeschichte bis zur vorläufig letzten Etappe, der praktisch kompletten und frei nutzbaren Digitalisierung der handschriftlichen Überlieferung im elektronischen Emily Dickinson Archive (hier), trug dazu bei, dass Dickinsons Gedichte immer wieder neue Leser:innen erreicht haben.
Exzentrische Zeit
Allerdings: Sollte man angesichts der merkwürdigen Unzeitgemäßheit dieser Gedichte und ihrer abenteuerlichen Überlieferungsgeschichte überhaupt von einer ›Verspätung‹ sprechen? Was wäre denn die ›richtige‹ Zeit gewesen? Betritt man lesend das berückende Universum von Dickinsons Gedichten, bekommt man es immer wieder mit einer sehr merkwürdigen Reflexion und Erfahrung von Zeit zu tun. Am eindrücklichsten geschieht das in dem berühmten Gedicht »Because I could not stop for Death«, das – wie man erst in der letzten Strophe erfährt – vorgibt, die geschilderte Vergangenheit ausgehend von einer träumerisch vorweggenommenen Zukunft (dem Tod des sprechenden Ichs) in den Blick genommen zu haben.
Die Zeit, von der dieses Gedicht spricht, ist eine exzentrische Zeit, weil sie die erinnerte Vergangenheit, versuchsweise, von einer bestimmten Zukunft her ›präsentiert‹. Die mit jedem Lesen wieder von Neuem sich formierende Gegenwart ist vom Gedicht her in eine ungeheure Spannung versetzt: Was wir lesen, erscheint so, wie es aus der Perspektive einer fernen Zukunft stattgefunden haben mag.
Das Gedicht kann man hier nachlesen. Oder man wirft einen Blick in die Handschrift, die im Grunde alles ist, was es zu Lebzeiten Dickinsons von diesem Gedicht zu lesen gab – mit der Autorin selbst als seiner womöglich einzigen Leserin. Oder man hört sich die von Susan McKeown und Natalie Merchant gesungene Version an, die allerdings auf einer fehlerhaften und verkürzten Edition beruht und außerdem einer Pathetik zuneigt, die Gefahr läuft, dem Gedicht den verstörend nüchternen Charme zu nehmen.

Anfang des Gedichts „Because I could not stop for Death“ (mit Transkription rechts) im elektronischen Emily Dickinson Archive. Quelle: edickinson.org
Das Gedicht beschreibt in Form eines Rückblicks die Reise, die ein sprechendes Ich mit dem Tod unternimmt. Dieser kommt, personifiziert, in einer Kutsche an und nimmt das Ich, das sich über die unerwartete Gesellschaft freut, mit. Ohne Eile fahren die beiden – und mit ihnen noch die »Unsterblichkeit« – am Schulhof vorbei, an Kornfeldern, bis sich, nach Sonnenuntergang, die Szenerie auf einmal ändert: Es wird kühl, die Kleider der sprechenden Person scheinen sich aufzulösen, ein Haus taucht auf, das sich allerdings noch im Lauf seiner Beschreibung in ein verfallenes Grabmal verwandelt.
Man ahnt: Hier wird die Zeit, zwar gemächlich im Empfinden, aber im tatsächlichen Verlauf rapide durchschritten. Die Stimme hat sich längst von ihrem Körper gelöst, »Jahrhunderte« sind der letzten Strophe zufolge bereits vergangen, wir sind irgendwo in einer erfundenen Zukunft angelangt und merken nun, dass alles, was zuvor beschrieben wurde, von dieser Zukunft her erinnert worden sein muss. Liest man die gerade mal sechs Vierzeiler des Gedichts in aller Ruhe, braucht man dazu etwa eineinhalb Minuten. In dieser kurzen Zeit aber rast man, dem Gedicht zufolge, durch Jahrhunderte.
Die Zeit der Serie
Und was hat das nun mit der von Apple produzierten Serie Dickinson zu tun, die Ende 2019 in einer ersten und Anfang 2021 in einer zweiten Staffel zu je zehn halbstündigen Folgen erstmals ausgestrahlt wurde?

Serie „Dickinson“: Der Tod in der Kutsche. Quelle: youtube.com
Genau dies: dass diese Serie – wie bewusst oder unbewusst auch immer – in einer vergleichbaren Zeitstruktur unterwegs ist. Unterstrichen wird dies dadurch, dass die erste Folge ausgerechnet das Gedicht »Because I could not stop for Death« in den Vordergrund rückt, wenn auch nur mit den ersten Zeilen. Der Rest des Gedichts scheint allerdings auf einer anderen Ebene mit im Spiel zu sein. Denn aus der Perspektive der historischen Zeit, in der die Serie zu spielen vorgibt, befindet sich die Serie selbst, als Produkt ihrer Zeit, in der Zukunft. Nun wird man dies zwar von jedem Film, der ›in der Geschichte spielt‹, sagen können. Aber in der Serie Dickinson ist dieser Umstand ständig präsent, ja er macht gerade die Spannung aus, in die man gerät, wenn man die einzelnen Folgen anschaut.

Serie „Dickinson“: Der Vater (links) flippt aus, als er von den poetischen Ambitionen seiner Tochter Emily (rechts) erfährt. Quelle: youtube.com
Die Serie folgt der Biografie von Emily Dickinson nur in groben Zügen. Die erste Staffel schildert das Leben in der Kleinstadt Amherst in Massachusetts (New England, USA), die Familie mit dem strengen und im Film zugleich als weinerlich dargestellten Vater, der Mutter, die in der Serie ihre Rolle als Hausfrau geradezu übererfüllt, die beiden Geschwister, in der filmischen Inszenierung beide von eher unbeholfener Natur, der Freundin und späteren Schwägerin Susan (Sue), mit der Dickinson in der Serie (beruhend auf realen Indizien) eine innige Liebesbeziehung unterhält. Vor allem aber wird erzählt, wie Dickinson, als junge Frau, ihr poetisches Talent entdeckt, wie sie in allem, was sie anstrebt, behindert wird, und wie sie durch Eigenwilligkeit ebenso aneckt wie fasziniert. Im Hintergrund kündigt sich der Sezessionskrieg an, Diskussionen rund um die Abschaffung der Sklaverei finden statt, technischer Fortschritt (Eisenbahn, Elektrizität) kündigt sich auch in der Provinz an.

Serie „Dickinson“: Der Tod, bekifft und mit Goldzahn (Wiz Khalifa). Quelle: youtube.com
Dazu kommen in der Serie gänzlich erfundene Elemente wie etwa ein Treffen Dickinsons mit dem Öko-Bestseller-Autor Henry David Thoreau, groteske Elemente wie eine übergroße Biene, die gelegentlich erscheint, oder eben der personifizierte Tod (»sexy like hell«): gespielt vom kiffenden Rapper (mit Goldzahn) Wiz Khalifa. In der zweiten Staffel dann rückt die Welt der Presse und der Verleger in den Vordergrund – und die ganzen Schikanen, die es Dickinson unmöglich machen, als Frau, trotz außerordentlicher schriftstellerischer Begabung, öffentliche Wertschätzung zu erfahren.
…und die Gedichte?
Die Gedichte spielen insofern eine zentrale Rolle, als der Titel einer jeden Folge aus der Zeile eines Dickinson-Gedichtes besteht und zudem die Handlung der Serie lose um – weitgehend erfundene – Momente der Inspiration oder mögliche lebensweltliche Bezüge der jeweiligen Gedichte kreist. Das ist erfrischend, denn dass diese Bezüge nur mögliche Bezüge sind und keine historisch verbürgten Tatsachen spiegeln, wird schon dadurch unterstrichen, dass die Sprache der Gedichte zwar strikt dem Wortlaut ihrer Vorlagen, ja tatsächlich der handschriftlichen Überlieferung folgt, die Serie insgesamt aber durchsetzt ist mit Elementen, die aus der heutigen Zeit stammen.

Serie „Dickinson“: Emily Dickinson (rechts) mit der Freundin Sue (links) beim Gitarrenrock. Quelle: youtube.com
Dazu gehören, auf der Ebene wiederum der Sprache, gegenwärtige umgangssprachliche Wendungen (»cool«, »damn«, »nailed it«), auf der Ebene der Musik Popmusik, auf der Ebene der szenischen Einfälle Visualisierungen, die offensichtliche Computeranimationen sind, zudem Handlungselemente, die aus der Populärkultur der Gegenwart stammen (so etwa die diversen Tänze). Der etwaige Eindruck, man würde sich wirklich im 19. Jahrhundert befinden, wird laufend konterkariert. Man kennt diese Gestaltungsmittel aus aktualisierenden Adaptionen klassischer Werke, so etwa aus Baz Luhrmanns William Shakespeares Romeo + Julia. In der Serie Dickinson geht es allerdings nicht um die Adaption oder Neuinterpretation eines literarischen Stoffes, sondern um eine wechselseitige Verfremdung von Vergangenheit und Gegenwart anhand von Indizien eines historisch doch bezeugten Lebens.
Wer es allenfalls gewohnt war, Dickinson als scheinbar bloß in sich gekehrte ernsthafte oder gar frömmlerische Dichterin präsentiert zu bekommen, wird in der Serie mit dem Bild einer ebenso lustigen wie leicht verschrobenen, melancholischen, zugleich aber eben auch ›coolen‹ jungen Frau konfrontiert. Verkörpert wird sie von der Schauspielerin (und Mitproduzentin) Hailee Steinfeld, die auch als Pop-Sängerin bekannt ist. Die Frische, die Dickinson in der Serie verpasst bekommt, wird noch gesteigert durch die Komik, die an allen Ecken und Enden lauert. Ganz offensiv wird die Serie von Apple denn auch als ›Comedy‹ vertrieben und beworben. Dabei dient die Komik gewiss der Unterhaltung, ebenso aber der Brechung verstaubter Rezeptionserwartungen. Dies allerdings mit guten Gründen. Denn sind nicht viele der Gedichte von Dickinson selbst urkomisch? So ist es, möchte man sagen: »In the name of the Bee – / And of the Butterfly – / And of the Breeze – Amen!«
Auch die Komik der Serie greift demnach Elemente aus Dickinsons Gedichten auf. Dabei geht es im Bereich des Komischen wiederum gerade nicht um historische Repräsentanz oder Akkuratesse, sondern darum, aus unserer Gegenwart heraus einen Zugang zu diesen Gedichten (und durch sie hindurch auch zu ihrer Autorin und ihrer Zeit) zu finden. Umgekehrt wird es möglich, die Gegenwart in ihrer möglichen Kontinuität zu vergangenen Entwicklungen und Prägungen zu sehen. Erinnert werden kann auch hier wiederum, wie es auch in der Serie selbst mehrfach geschieht, an ein Zitat von Dickinson selbst: »Tell all the truth but tell it slant«. (»Sag die ganze Wahrheit, aber sag sie schräg.«)
Lockerungen
Man kann der Serie ohne Weiteres gut folgen, ohne je Gedichte Dickinsons gelesen zu haben oder etwas über den historischen Kontext zu wissen. Die Serie will unterhalten, so viel ist klar. Als ich mir die erste und später die zweite Staffel angeschaut habe (eine dritte soll noch folgen), war ich zunächst skeptisch, da ich, beruflich vorbelastet, ein paar Jahre Lektürevorsprung glaubte in die Waagschale werfen zu können. Es wäre von daher ein Leichtes gewesen, der Serie Effekthascherei vorzuwerfen, Verfälschung der historischen Umstände, forcierte Aktualisierung.

Serie „Dickinson“: Bündel mit Gedichten. Quelle: youtube.com
Die verblüffende Erfahrung war jedoch: Die möglichen Einwände können zwar sehr wohl mit Blick auf die historisch gesicherten Informationen formuliert werden (an einem Faktencheck versucht sich dieses YouTube-Video); vor den Gedichten aber halten diese Einwände nicht stand. Denn diese sind, so sehr sie ihre Anlässe im Kontext ihrer Zeit gefunden haben mögen, doch zugleich in ungeheurem Maße offen für künftige Lesegelegenheiten, denen sie sich, wenn man so sagen kann, verschrieben haben – auch deshalb, weil Dickinson nicht damit rechnen konnte, ihre Leser:innen in ihrer Gegenwart zu finden. Dass in der Serie auch der personifizierte Tod darum weiß, dass Dickinsons Ruhm ein künftiger sein wird, ist eine der Pointen, die sich die Drehbuchschreiberin und Produzentin der Serie, Alena Smith, nicht hat entgehen lassen:
»My darling, you’ll be the only Dickinson they talk about in 200 years. I promise you that. […] Your type of immortality won’t come from you following the rules. It’s gonna come from you breaking them.«