Schweres Schnaufen. Rhythmisches Piepsen. Das Pulsfrequenz-Überwachungsgerät meldet eine korrekte Belastung des Körpers. Sonnengruß, einmal durchstrecken. Daumen aufs Handgelenk, Blick auf die Uhr, Pulsschläge zählen. Eine Kamera fängt alles ein. Engadin, Mitte der 1970er Jahre. Schweizer Filmschaffende um Roman Hollenstein, Alexa Haberthür und Georg Janett filmen ein „Gesundheitsseminar für Führungskräfte“. Sie arbeiten am Film Je Ka Mi oder Dein Glück liegt ganz in dieser Welt. Dazu interviewen sie sehr unterschiedliche „Experten“, die alle Sport als bestes Mittel empfehlen, um Herzkreislaufkrankheiten vorzubeugen und Stress abzubauen.
Gesundheitsseminar für Führungskräfte im Engadin, geleitet von Günter Traub, Weltmeister im Eisschnell- und Rollschuhlauf aus Österreich. Als zweite Person spricht der Hotelier, der das Seminar beherbergte. Ausschnitt aus Je Ka Mi (1978), Filmkollektiv Zürich.
Je Ka Mi ist aus verschiedenen Gründen ein spannendes Beispiel für den Neuen Schweizer Film der 1960er und 1970er Jahre. So gehörten mehrere Mitglieder der Filmcrew zum Kern der cineastischen Erneuerungsbewegung. Auch Je Ka Mi-Regisseur Hollenstein zählte bis zu seinem Freitod 1977 zu dieser Gruppe.
Interessant ist zudem die Rezeption des Films. 1978 an den Solothurner Filmtagen uraufgeführt, wurde er als Abrechnung mit dem Breitensport wahrgenommen. An Filmfestivals stieg er zum Geheimtipp auf, das Schweizer Fernsehen widersetzte sich später dennoch einer Ausstrahlung. Statt im Fernsehen wurde der Film im Kinobetrieb des Autonomen Jugendzentrum Zürich (AJZ) wieder gezeigt.
Der hier interessierende Aspekt ist jedoch ein inhaltlicher: Der Film lenkte die Aufmerksamkeit nicht nur auf Selbstoptimierung durch Fitness-Training, sondern thematisierte auch den Stellenwert und die politische Bedeutung der dabei erhobenen persönlichen Daten. Das macht ihn für eine Gegenwart interessant, in der Smartphones und andere Wearables eine Unmenge von Daten über ihre User erzeugen.
Fitnessboom, angepasstes Verhalten und Überwachung
Zwar gab es in den 1970er Jahren noch kein Internet der Dinge, über das die Pulsüberwachungsgeräte wandernder Manager im Engadin mit den Servern eines IT-Dienstleisters in Kalifornien verbunden gewesen wären und Angaben zum körperlichen Leistungsvermögen versendet hätten. Trotzdem stellten sich die Je Ka Mi-Macher bereits Fragen zum Umgang mit solchen Daten: Muss, ja soll man sie erheben? Wer darf sie speichern? Und was sollen sie bewirken? Um diese Fragen aufzuwerfen, zeigten die Filmschaffenden Lochkarten, nahmen Magnetspulen auf und schnitten über diese Filmsequenzen dann eine Expertenstimme. Diese verlangte aus dem Off Systeme staatlicher Kontrolle, welche über die individuelle Leistungsfähigkeit Buch führen.
Sollen Fitnesstests obligatorisch sein? Und wer entscheidet über die angemessene Reaktion auf die Resultate? Es spricht ein unbekannter Gesundheitsexperte. Ausschnitt aus Je KA Mi (1978), Filmkollektiv Zürich.
Diese Wendung war in der Schweiz Ende der 1970er Jahre auch ohne vernetzte Wearables brisant. Zwar blieb vorläufig noch geheim, dass die Bundespolizei längst ein riesiges Schattenarchiv aufgebaut hatte, in dem 1989 900’000 Personen erfasst sein werden. Während der Dreharbeiten zu Je Ka Mi hatten aber Aktivisten um den Journalisten Jürg Frischknecht aufgedeckt, dass der private „Subversivenjäger“ Ernst Cincera Daten zu Personen aus der linken Szene gesammelt und an Interessierte aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung weitergegeben hatte.
Vor diesem Hintergrund stilisierten die Je Ka Mi-Macher das Streben nach Fitness zum konformen Verhalten schlechthin, dessen Einhaltung staatlich überwacht werden könnte. Das „Jeder kann mitmachen“ des Titels wird im Verlauf des Films immer mehr zu einem „Jeder muss mitmachen“. Eine düstere Welt entsteht: Je Ka Mi endet in der Wohnung einer gespielten Kleinfamilie, die bei laufendem Fernseher mit Übungsgeräten trainiert. Manipulation und Gleichschaltung bis in die eigenen vier Wände hinein. Nicht von ungefähr war als alternativer Filmtitel 1983 ½ diskutiert worden – ein halbes Jahr noch bis zu George Orwells Nineteen Eighty-Four…
Das Streben nach Fitness als Lebensinhalt. Ausschnitt aus Je Ka Mi (1978), Filmkollektiv Zürich.
Doch was hat die derart artikulierte Dystopie aus den 1970er Jahren mit der Gegenwart zu tun? – Je Ka Mi führt mitten in die meines Erachtens nach wie vor relevante Auseinandersetzung um die Frage nach einer angemessenen Machtkritik nach 68 hinein. Einer durch die Beschäftigung mit Nationalsozialismus und Totalitarismus entstandene Gesellschaftskritik, die vornehmlich ideologiekritisch argumentierte, stand eine von französischen Theoretikern – neben Jacques Derrida und Roland Barthes vor allem von Michel Foucault – beeinflusste Kritik gegenüber, die Macht ganz anders konzipierte und verortete.
Machtkritik nach 68
Je Ka Mi geht davon aus, dass Macht hauptsächlich von ‚oben‘ kommt, von Herrschenden ausgeht. Im Film unterwirft die „Gesundheitserziehung“ die Menschen einem Leistungsdenken, das allein auf die Herstellung wirtschaftlich nutzbarer Körper abzielt und damit im Interesse der Herrschenden sei: der Unternehmer, der Militärs, der Regierung. Insofern interpretieren die Filmschaffenden Sport als „verschleierte Repression“, ein Sportverständnis, das vom linken Psychoanalytiker Wilhelm Reich geprägt war, dessen Schriften in der 68er-Bewegung stark rezipiert wurden. Nach Reich dient der Sport in industrialisierten Gesellschaften der Unterdrückung der Sexualität, was stabilisierend auf die kapitalistische Ordnung wirke und auch den Nationalsozialismus begünstigt habe.
Der Physiologe Gottfried Schönholzer, der in den 1960er Jahren das Forschungsinstitut der Eidgenössischen Turn- und Sportschule Magglingen aufgebaut hatte, definiert Fitness. Ausschnitt aus Je KA Mi (1978), Filmkollektiv Zürich.
Gegen diese Vorstellung einer die Gesellschaft steuernden repressiven Macht wandte sich Michel Foucault, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Denksysteme am renommierten Collège de France, in den 1970er Jahren. Die Sexualität war das Feld, auf dem er der Repression eine stimulierende Kontrolle gegenüberstellte. Er ging davon aus, dass Macht produktiv wirkt, indem sie ein bestimmtes Verhalten oder eine entsprechende Vorstellung erst hervorbringt.
Während die Je Ka Mi-Macher – passend zu Reichs These – die Erotisierung fitter Körper aus ihrer Gesellschaftskritik ausblendeten, verwies Foucault auf diesen in Massenmedien genauso wie in Pornofilmen fassbaren Vorgang, um die schiere Möglichkeit der von der 68er-Bewegung ausgerufenen Befreiung der Sexualität in Frage zu stellen. Denn auch die ‚befreite‘ Sexualität existierte für Foucault nicht unabhängig von Macht: „Zeige dich nackt… aber sei schlank, schön und gebräunt!“
Entscheidend aber ist, dass Foucault mit seiner Kritik auf Machtmechanismen verwies, die ohne zentrale Machtinstanz, also zum Beispiel ohne Zutun des Staats funktionieren, sondern vielmehr in lokalen, heterogenen Auseinandersetzungen, gleichsam ‚von unten‘ entstehen. Manipulationen, wie sie die Je Ka Mi-Macher den Fitnesspromotoren unterstellten, sind in dieser Sichtweise noch keine Form von Macht, sondern lediglich eine Strategie in einer endlosen Auseinandersetzung, deren Machteffekte für die Akteure unberechenbar bleiben.
Ein Beispiel für diese Unberechenbarkeit gibt Jane Fondas Workout Book (1982). Die werdende Aerobic-Ikone propagierte hier – anders als das Je Ka Mi vorhersagte – keinen Rückzug auf den privaten Hometrainer, sondern den Gang auf die Straße: „Soll aber unsere private Entscheidung für ein gesundes Leben wirklich Sinn haben, müssen wir uns aktiv, kämpferisch und systematisch mit den umfassenderen Problemen der nationalen Politik auseinandersetzen.“ Die Hinwendung zum Körper brachte also nicht nur Disziplinierung hervor, sondern auch Widerstand gegen die Regierung, ohne dass die Gesundheit als Wert aufgegeben worden wäre. Was aber heißt das für die Frage nach einer stichhaltigen Problematisierung gegenwärtiger Entwicklungen?
Die Rolle des Staates
Ich will hier nicht gegen kritische Debatten über die Kompetenzen staatlicher Nachrichtendienste, über den Sinn und Unsinn von Videoüberwachung und über Alternativen zu mehr Überwachung in liberalen Demokratien anschreiben (dazu Jan Jirát u.a. in der WOZ vom 22.01.2015, 12.03.2015 und 31.03.2016). Die Rede vom Überwachungsstaat taugt allerdings meines Erachtens nicht zu einer angemessenen Problematisierung gegenwärtiger Entwicklungen, weil sie von jenen – von Foucault analysierten – lokalen Auseinandersetzungen ablenkt, in denen unser Verständnis von Privatsphäre, unser Umgang mit persönlichen Daten, unsere Vorstellung von Gesundheit und anderes mehr gerade geformt werden.
Der Gebrauch von Wearables wie Smartphones und Fitnessarmbänder zählt zu den Schauplätzen solcher Auseinandersetzungen. Geräte und Apps regen dazu an, eine Vielzahl von Daten zu erheben und zu teilen, die ohne sie nicht erhoben würden. Sie gestalten zudem die Art und Weise, wie wir uns mit uns selbst beschäftigen und nach welchen Vorgaben wir uns dabei richten.
Ein Beispiel dafür gibt die digital health-Kultur. Der Publizist Eduard Kaeser stellte kürzlich in der NZZ seine Diagnose dazu vor. Diese verläuft zunächst parallel zur Position der Je Ka Mi-Macher: Der zur Anwendung kommende Gesundheitsbegriff ist durch ökonomisches Denken geprägt. Anders als in Je Ka Mi wird dieses Gesundheitsverständnis aber gerade nicht von einem Überwachungsstaat durchgesetzt. Stattdessen verinnerlichen wir es durch den Konsum der Produkte der digital health-Industrie.
Weitere lokale Auseinandersetzungen sind im Gange: Kaeser berichtet von Arbeitgebern, die GPS-Daten ihrer Arbeitnehmer abgreifen; auf spiegel.de macht eine Krankenkasse Schlagzeilen, die die Daten von Fitnessarmbändern nutzen möchte; in der Sonntagszeitung erwähnt Andreas Kunz, dass via Social Media Details aus dem Privatleben ‚freiwillig‘ ins Internet gelangen und privaten Unternehmen anvertraut werden.
Derartige Entwicklungen vor Augen, lenkt die Rede vom Überwachungsstaat nicht nur von den eigentlichen Schauplätzen ab, sondern ist gefährlich, weil sie den – vielleicht einzigen – Verbündeten verteufelt, der die Kräfteverhältnisse in den lokalen Auseinandersetzungen entscheidend beeinflussen kann und den wir darüber hinaus mitgestalten können: den Staat. Denn der Staat kann die Informationslust von Arbeitgebern und Dienstleistungsanbietern Regeln unterstellen, was die Arbeitnehmerinnen von der Wahl zwischen Kündigung oder Preisgabe persönlicher Daten bewahrt und den Usern den Gebrauch potenter Geräte und Applikationen erlaubt, ohne dabei die Kontrolle über persönliche Daten im Cyberspace zu verlieren.
Neben der Rolle des Staates bleibt am Ende aber auch die Frage zu beantworten, wie weit man selbst in der Mitteilung seiner Daten gehen und nach welchen Werten man leben möchte. Im Roman Ausweitung der Kampfzone (1994) schilderte der französische Autor Michel Houellebecq eine Welt, in der Werte wie Jugendlichkeit, Schönheit und Gesundheit ohne die Schimäre des Überwachungsstaates abstoßende Wirkungen entfalten. Der zurückgezogen lebende Houellebecq wird an der Kunstausstellung Manifesta 11 in Zürich diesen Sommer seine Privatsphäre aufgeben und zum Spektakel des Publikums einen Arzt Daten zu seinem Gesundheitszustand erheben lassen. Vielleicht Anlass zu jenen Fragen, die schon die Je Ka Mi-Macher umgetrieben haben mögen: Weshalb tun wir uns das eigentlich alles an? Macht es uns glücklich?