Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen. Die Essayistin Asal Dardan blickt in einer Rede am Brechtfestival in Augsburg zurück auf drei Jahre Erinnerung an Hanau und auf jene politischen Haltungen, die die strukturellen Hintergründe dieser Tat ausblenden. Wir dokumentieren ihre Rede hier geringfügig gekürzt im Wortlaut.

  • Asal Dardan

    Asal Dardan, geboren 1978 in Teheran, wuchs nach der Flucht ihrer Eltern aus dem Iran in Köln, Bonn und Aberdeen auf. Sie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund. Als Essayistin und freie Autorin schreibt sie u.a. für Zeit Online und Die Presse. Für ihren Text „Neue Jahre“ wurde sie mit dem Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik ausgezeichnet.

Es ist nun das dritte Jahr. Das dritte Jahr, in dem wir die Namen von neun Menschen nennen, die am 19. Februar 2020 zu Opfern rechts­ra­di­kalen Terrors gemacht wurden. Von einem rassis­ti­schen Täter und den gesell­schaft­li­chen Verhält­nissen, in denen er und die von ihm Ermor­deten lebten.

Wir sagen Kaloyan Velkov, Fatih Sara­çoğlu, Sedat Gürbüz. Die Namen der ersten drei jungen Männer, die erschossen wurden an diesem Abend vor drei Jahren. 3 Menschen in 11 Sekunden in der Innenstadt.

Wir sagen Vili Viorel Păun. Wir atmen kurz durch, wir denken an den Notruf, den er mehr­mals wählte und nicht erreichte. Nicht erreichte, weil Hanau nicht an ein funk­tio­nie­rendes Notruf­system ange­schlossen war.

Wir sagen Gökhan Gültekin, Mercedes Kier­pacz, Ferhat Unvar. Diese beiden Männer und diese eine Frau starben gemeinsam am fünften Tatort, einem gewöhn­li­chen Kiosk im Erdge­schoss eines Wohn­hauses. Wir sagen Said Nesar Hashemi, Hamza Kurtović. Zwei Freunde, die nicht über den Notaus­gang fliehen konnten, weil er verschlossen war. Ein Notaus­gang, verschlossen für die Razzien der Polizei. 6 Menschen in 24 Sekunden in Kesselstadt.

Wir sagen ihre neun Namen. Wir wissen, es sind nur 12 Minuten vergangen zwischen dem ersten und dem letzten tödli­chen Schuss. Seit diesen Schüssen sind nun 1095 Tage vergangen. Mehr als eintau­send schwere Tage vor allem für ihre Fami­lien, ihre Freund*innen, die Hinter­blie­benen, die Überlebenden.

Der heutige Tag soll ein Tag des Geden­kens sein – wir erin­nern an diese neun ermor­deten Menschen und zeigen unsere Soli­da­rität mit denen, die sie kannten und liebten und nun für sie kämpfen mit der Forde­rung: Erin­ne­rung, Aufklä­rung, Gerech­tig­keit, Konsequenzen.

Kaloyan, Fatih, Sedat, Vili, Gökhan, Mercedes, Ferhat, Said Nesar, Hamza.

Wir sagen ihre Namen in diesem dritten Jahr, das mit einer Silves­ter­de­batte begann, die auf mich wirkte wie der willent­liche Versuch, weitere Namen zu dieser langen Liste hinzu­zu­fügen – der Liste mit ermor­deten Menschen, die in diesem Land zu Opfern rassis­ti­scher Gewalt gemacht wurden. Diese Diskus­sion ächtet junge migran­ti­sierte Männer und redu­zierte sie auf Klischees und Phäno­typen. Noch mehr Muni­tion für rassis­ti­sche Terrorakte.

Wir sagen: Enver Şimşek, Abdur­rahim Özüd­oğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theo­doros Boul­ga­rides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat. Neun weitere Namen, Namen von Männern, die in diesem Land aus rassis­ti­schen Motiven erschossen wurden. Vom jahre­lang mordenden NSU. Mit einer Česká-Pistole wie in Hanau.

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Wir sagen ihre Namen, wir sagen „Say Their Names“, weil das Gedenken an die gewaltsam been­deten Leben im Zentrum stehen soll. Ihre Namen zu nennen ist nicht nur Erin­ne­rung, es ist Zusam­men­halt, es ist Wider­stand. Weil die Opfer in diesem Land viel zu oft und immer wieder namenlos und gesichtslos geblieben sind. Und damit die gemein­same Erfah­rung derer, die über­lebten, die zurück­blieben. Die trau­erten und trauern. Die krimi­na­li­siert oder miss­achtet wurden und nun gegen die gesell­schaft­liche Abwehr, die poli­ti­sche Apathie und die rassis­ti­schen Struk­turen in diesem Land um Aufklä­rung und Aner­ken­nung kämpfen müssen. Ankämpfen gegen Menschen­feind­lich­keit. Wenn sie es schaffen. Jahre­lang, jahr­zehn­te­lang laut sein, dage­gen­halten, kämpfen.

Im dritten Jahr der Erin­ne­rung gehört zu Verant­wor­tung, Gerech­tig­keit und Konse­quenzen dazu, über die Gesell­schaft zu spre­chen, gegen die sie kämpfen müssen. Die Gesell­schaft, die diesen Täter hervor­ge­bracht hat. Über den Täter zu spre­chen, der von dieser Gesell­schaft nicht aufge­halten, der sogar von ihr getragen wurde.

Es gibt eine Faszi­na­tion für Täter. Genau dieser Faszi­na­tion gilt es entge­gen­zu­wirken, weil jeder Täter zur Inspi­ra­tion wird, vor allem, wenn sich gesell­schaft­lich nicht genug bewegt. Darum sagt man zu Recht, dass es nicht um die Täter, sondern um die Ermor­deten gehen muss. Das Innen­leben und die Entwick­lung des Täters inter­es­sieren mich nicht. Was mich inter­es­siert, ist, wie geschickt der Täter aus Hanau zum anderen wurde, gemacht wurde, ausge­la­gert wurde, von einer Gesell­schaft, die nun drei Jahre nach seiner Tat die Frage verdient: Warum seid ihr so sicher, dass er mit euch nichts zu tun hat?

Die Opfer mit ihren Namen, ihren Gesich­tern und Geschichten, sie sind ohnehin andere. Sie sind schon vor ihrem Mord Projek­ti­ons­fläche, sind jene, die bei Döner-Morden und Shisha-Morden drauf­gehen, sind jene, die zu Kopf­tuch­mäd­chen und Messer­män­nern erklärt werden.

Aber auch der Täter mit seinen Wahn­vor­stel­lungen wurde zum anderen gemacht. Seine Gewalt irre, seine Gedanken irre. Das sagten Politiker*innen aus allen Parteien, so stand es in Medi­en­be­richten und Kommen­taren. Auf diese Weise kann das deut­sche Selbst­ver­ständnis unver­sehrt bleiben.

Ja, der Täter war psychisch krank, wurde mit para­no­ider Schi­zo­phrenie diagnos­ti­ziert. Er hatte einen Verfol­gungs­wahn. In diesem Wahn, den er sehr arti­ku­liert und ruhig erklären konnte, machte er sehr bestimmte Menschen zur Bedro­hung, die auch ganz ohne Wahn­vor­stel­lungen immer wieder als bedroh­lich darge­stellt werden. Über diese Über­schnei­dung zwischen dem indi­vi­du­ellen Wahn eines psychisch kranken Mannes und einer Gesell­schaft, in der er aufge­wachsen ist – in der er Waffen besessen hat –, kann im öffent­li­chen Diskurs nicht immer wieder hinweg­ge­gangen werden.

Und nun. Viel­leicht ist auch sein Vater psychisch krank. Ich weiß es nicht. Der Vater, der die Česká-Pistole zurück­ver­langt, mit der sein Sohn gemordet hat. Der immer wieder durch Belei­di­gungen auffällt, der Straf­an­zeige erstattet hat gegen eine Mahn­wache in Hanau mit den Worten: „Sie sollen schlicht weg, das Maul halten und sich dem deut­schen Volk unter­ordnen.“ Der Vater, der wieder­holt vor dem Haus von Serpil Temiz Unvar steht, um sie zu terro­ri­sieren. Jene Mutter, deren Sohn Ferhat sein eigener Sohn ermordet hat. Ein Vater, der nach dem Terror­an­schlag seines Sohnes von den Hinter­blie­benen, seinen Nachbar*innen in Hanau, als „fremde Wilde“ spricht.

Ein deut­scher Vater und sein deut­scher Sohn, die die Mensch­heit in Rassen denken, sich der weißen Rasse zuordnen und sie bedroht sehen durch andere Rassen, die sie imagi­nieren. So wie der CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen es kürz­lich getan hat. So wie der ehema­lige SPD-Politiker Thilo Sarrazin es vor über zehn Jahren in seinem deut­schen Super­best­steller getan hat, das heute noch in Millionen Bücher­re­galen steht. Wie es die drei nament­lich bekannten Mitglieder des NSU taten, in ihrem Versteck, das nie gefunden wurde, weil die Ermittler und der Verfas­sungs­schutz immer bloß das Umfeld und die Fami­lien der ermor­deten Männer verdächtigten.

Wie kann man etwas einen Wahn nennen, das heute noch so stark, so domi­nant in dieser Gesell­schaft wirkt? Es findet tagtäg­lich in Worten und Taten Ausdruck, hat so viele Leben gekostet. Prägt den Alltag von Millionen Menschen, ihre Ängste. Prägte das poli­ti­sche System und die Geschichte dieses Landes. Wieso wird etwas Wahn genannt, das dieses Land einte? Was daran ist ein Wahn, dass in Deutsch­land Rassismus, Anti­se­mi­tismus und Faschismus sich verbinden können zu einer tödli­chen Bewegung?

„Heil Hitler“ brüllten die Atten­täter von Mölln ins Telefon, als sie die Feuer­wehr anriefen, während Bahide Arslan und die beiden Cousinen Yeliz und Ayşe im Alter von 10 und 14 Jahren bei leben­digem Leib verbrannten.

Auf einen Wahn redu­ziert wird die Gefahr der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­logie zu etwas, das man zum Stör­ge­räusch erklären kann, das nichts mit der Gesell­schaft und den Verhält­nissen im Hier und Heute zu tun hat. Es wurde entschieden, dass es vorbei ist, dass Deutsch­land nun gut ist, es gut gemacht hat. Oder wie der CDU-Vorsitzende Fried­rich Merz es kürz­lich sagte, als er über die Entwick­lung Deutsch­lands sprach, die er plötz­lich zu einer selbst­ge­wählten und nicht durch die Nieder­lage erzwun­genen machte – am 27. Januar, dem Tag des Geden­kens an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus, dem Jahrestag der Befreiung von Ausch­witz also sagte er: „Wenn man das hört, ist man stolz auf Deutschland.“

Es war auch Fried­rich Merz, der sich wenige Tage zuvor an dieser rassis­ti­schen Silves­ter­de­batte betei­ligte, als er von „kleinen Paschas“ sprach. Er meinte Kinder und Teen­ager, die in dieser Gesell­schaft leben, über die er aber nicht als Teil dieser Gesell­schaft spricht. Er benannte sie als 8- und 15-Jährige. Er sagte: „Wir spre­chen hier über Leute, die eigent­lich in Deutsch­land nichts zu suchen haben.“ Er sagte: „Das sind über­wie­gend Jugend­liche aus dem arabi­schen Raum, die nicht bereit sind, sich hier in Deutsch­land an die Regeln zu halten.“

Aus dem arabi­schen Raum. Oder wie es in einem Poli­zei­be­richt zum Anschlag in Hanau hieß: „orientalisch-südländisch“. In diesem Absatz des Berichts ging es um Hamza Kurtović, der wie sein Vater Armin Kurtović in Deutsch­land geboren ist. Hamza, dessen bosnia­ki­sche Vorfahren aus dem heutigen Bosnien-Herzegowina stammten. Er hätte dunkle Haare und dunkle Augen haben können. Hatte er aber nicht.

Doch für den stig­ma­ti­sie­renden deut­schen Diskurs über jene jungen Männer ist nicht von Belang, wie sie wirk­lich aussehen und heißen. Was sie denken und fühlen, wovor sie Angst haben und was ihre Hoff­nungen, ihre Pläne, ihre Wut und Enttäu­schungen sind. Sie zählen nicht und werden nicht gesehen, wenn die Bundes­in­nen­mi­nis­terin und SPD-Politikerin Nancy Faeser sie „gewalt­be­reite Inte­gra­ti­ons­ver­wei­gerer“ nennt, wenn die FDP-Bundestagsabgeordnete Katja Adler sie als Beweis einer „kultu­rellen Über­frem­dung“ ausmacht. Wir brau­chen für solche Sätze keine AfD.

Dieser grau­same Blick trifft auf Kinder und Jugend­liche, auf junge Menschen, macht sie zur Projek­ti­ons­fläche von Ressen­ti­ments. Wussten Sie, dass migran­ti­sche Jungs häufig gemeinsam auftreten, sich in Gruppen durch die Öffent­lich­keit bewegen, aus Selbst­schutz? Und nun werden sie in diesen Gruppen zu Gefähr­dern erklärt, alle auf einmal, einfach so, ohne Blick auf die Hinter­gründe oder die gesell­schaft­li­chen Verhält­nisse, als hätten wir keine Erfah­rung damit, was passiert, wenn man mit solch grau­samem Blick auf Menschen schaut, wenn man Indi­vi­duen für Projek­tionen heran­zieht, in denen ganze Gruppen, Kulturen, Phäno­typen als gefähr­lich gebrand­markt werden.

Dem Täter von Hanau reichte es jeden­falls nicht, auf diese Weise auf sie zu blicken. Er wollte sie auslö­schen. Er hat acht Männer und eine Frau hinge­richtet. Sie sahen für ihn aus wie die Menschen, über die unsere Politiker*innen und unsere Medien auf diese Weise spre­chen und schreiben. Das Schreck­ge­spenst des bedroh­li­chen Fremden, des anderen.

Ich weiß nicht, wen Fried­rich Merz vor sich sieht, wenn er von diesen „kleinen Paschas“ spricht, aber ich sehe Jungs wie meine eigenen Söhne. Ich sehe unsere Kinder, so wie Ferhat, Said Nesar oder Hamza. Ich sehe den 16-Jährigen Mouhamed, einen Teen­ager in seeli­scher Not, einen Schwarzen Jugend­li­chen, der letzten Herbst ohne Anlass oder Vorwar­nung von der Dort­munder Polizei mit einem Maschi­nen­ge­wehr hinge­richtet wurde.

Armin Kurtović sagte in einem Inter­view: „Ich hab verstanden, dass ich nicht mehr dazu­ge­höre, niemals dazu­ge­hört hab. Sonst wäre mein Sohn nicht ermordet worden.“

Der Atten­täter von Hanau musste sich nicht fragen, ob er dazu­ge­hörte. Er war ein 43-jähriger diplo­mierter Betriebs­wirt aus bürger­li­chen Verhält­nissen. Er fuhr in seinem frisch­ge­putzten BMW 430 Gran Coupé zu den Orten seiner Terrortat. Er war wieder in sein Eltern­haus gezogen, er war arbeitslos, er war 35.000 Euro im Minus. Dabei hätte alles so glatt laufen sollen für ihn. Er studierte von September 2000 bis März 2007 am selben Bayreu­ther Institut wie die AfD-Politikerin Alice Weidel. Er schloss mit einem Diplom in Betriebs­wirt­schafts­lehre, Schwer­punkt Inter­na­tio­nales Manage­ment, ab. Er hatte einen guten Job, er spielte Fußball, er wollte eine gesunde deut­sche Ehefrau.

Er schrieb ein faschis­ti­sches Pamphlet, in dem er erklärte, ganze Länder müssten ausra­diert werden. In erster Linie „orientalisch-südländische“ Länder. Er nahm Videos von sich auf, in denen er seine rassis­ti­schen Vorstel­lungen darüber, dass die weiße Rasse vor der Auslö­schung stehe, ausführte. Er begann, Frauen zu hassen. Er hatte einen Waffen­schein. Er hatte Waffen.

Er hatte einen Vater, der seit Jahren rassis­ti­sche Beschwerden schrieb und ihn in seinem Welt­bild stützte, viel­leicht sogar prägte. Er hatte eine Mutter, über die wir nicht viel wissen, außer, dass sie pfle­ge­be­dürftig wurde, dass er sie pflegte und sie dann erschoss. Er hatte Fami­li­en­mit­glieder, Kommiliton*innen und Kolleg*innen, die ihn gele­gent­lich seltsam fanden – eigen­sinnig, schrullig, anders –, aber ihm nicht sagten: Das geht mir zu weit, das möchte ich nicht hören, das kannst du nicht sagen. Hör auf. Sie zeigten ihn nicht an, sie warnten nicht vor ihm. Er hörte Radio, er sah Fern­sehen. Er hatte eine psychi­sche Krank­heit. Er hatte keine großen Hinder­nisse auf dem Weg, ein rassis­ti­scher Atten­täter zu werden.

Sedats Mutter Emiş Gürbüz fragte im Dezember im Unter­su­chungs­aus­schuss, wieso keiner den Mörder gestoppt habe. Emiş Gürbüz, die gemeinsam mit Armin Kurtović, Serpil Temiz Unvar und den anderen Eltern und Hinter­blie­benen der neun in Hanau ermor­deten Menschen inner­halb weniger Tage die Initia­tive 19. Februar Hanau gründete.

Der poli­ti­sche, behörd­liche und gesell­schaft­liche Umgang mit dem NSU-Terror hatte ihnen gezeigt, dass Aufklä­rung, Gerech­tig­keit und Konse­quenzen in diesem Land von den Betrof­fenen selbst erkämpft werden müssen. Es waren auch damals die Fami­lien der Ermor­deten – verdäch­tigt, im Stich gelassen –, die uns zeigten, wie sehr der Staat verwi­ckelt und verant­wort­lich ist.

Auch bei den Brand­an­schlägen von Mölln und Solingen und dem Anschlag im Münchner OEZ verdanken wir es in erster Linie den Hinter­blie­benen, dass wir die Namen der Opfer nicht vergessen haben. Dass wir in so vielen Details bewiesen bekommen haben, dass der Staat nicht ausrei­chend schützt und nicht aufar­beitet, selbst unter Druck nicht, wie wir in mehreren Unter­su­chungs­aus­schüssen zum NSU und auch jetzt zu Hanau sehen konnten. Oder in Halle, wo sich trotz der stän­digen Bedro­hung für jüdi­sche Einrich­tungen die jüdi­sche Gemeinde selbst darum kümmern musste, dass die Synagoge bewacht und geschützt wird. Und unser Wissen über den Mord an Oury Jalloh durch die Dessauer Polizei verdanken wir eben­falls der Arbeit einer Initia­tive. Sein Tod ist einer von vielen, die zeigen, dass die Gefahr auch vom Staat und seinen Vertreter*innen selbst ausgeht. Denken wir an die 13 SEK-Beamten, die am 19. Februar 2020 in Hanau im Einsatz waren und später als Mitglieder einer Nazi-Chatgruppe entlarvt wurden. Eine von vielen solcher Chat­gruppen. Denken wir an den NSU 2.0 und wie lächer­lich die insti­tu­tio­nelle Aufar­bei­tung und juris­ti­sche Ahndung dieser rassis­ti­schen Droh­briefe ausge­fallen ist.

Und so führte Emiş Gürbüz vor dem Unter­su­chungs­aus­schuss aus: „Das ist euer Werk. Wenn ihr Verant­wor­tung über­nommen hättet, wäre mein Kind noch am Leben. Es ist aufgrund eurer Nach­läs­sig­keit geschehen. Deutsch­land ist in meinen Augen schuldig.“ Deutsch­land weiß viel über Schuld. Es ist dennoch so phäno­menal schlecht darin, sie zu tragen und aufzu­ar­beiten und wirkungs­volle Konse­quenzen aus seiner Schuld zu ziehen.

Drei Jahre sind vergangen und das geplante Denkmal für die Opfer von Hanau ist nicht reali­siert. Drei Jahre, in denen sich weder der ehema­lige hessi­sche Minis­ter­prä­si­dent Volker Bouf­fier oder auch der jetzige Boris Rhein noch irgendein Verant­wort­li­cher aus den hessi­schen Behörden bei den Hinter­blie­benen entschul­digt hätte. Ich sage Verant­wort­liche, als hätte jemand Verant­wor­tung über­nommen. Aber Peter Beuth ist auch nach drei Jahren noch im Amt. Und auch die Polizei und die Staats­an­walt­schaft gestehen drei Jahre später nicht ihre Fahr­läs­sig­keit ein, die durch die Recher­chen von Forensic Archi­tec­ture nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Diese Fahr­läs­sig­keit, die mit Inkom­pe­tenz und Über­for­de­rung allein nicht zu erklären ist, dieses totale Versagen des Staates, in der Präven­tion, in der Nacht selbst, im Umgang mit den Fami­lien der Opfer, in der Aufar­bei­tung. Die offenen Fragen dazu laufen in einer großen Frage zur Rolle der Polizei in unserer Gesell­schaft zusammen: Wen schützt die Polizei, und wen macht sie zum Opfer?

Warum habe ich in diesen drei Jahren von vielen meiner Kolleg*innen kaum etwas über Hanau gehört? Warum beschreiben und beklagen sie nicht die Zustände in Hessen? In Deutsch­land? Warum sagen sie nicht, dass sie die Taten­lo­sig­keit ange­sichts der wieder­holten Skan­dale in der hessi­schen Polizei nicht mehr hinnehmen? Wo bleiben die deut­schen Philosoph*innen, die Autor*innen, die Künstler*innen, die sich über die Einschrän­kung der Frei­heit beschweren? Welche größere Einschrän­kung gibt es als Todes­angst? Welches Canceln ist dras­ti­scher als Terror? Als Mord?

Ich erin­nere mich, wie leiden­schaft­lich Kolleg*innen argu­men­tierten, man müsse mit Rechten reden, um nicht den Kontakt zu den Menschen zu verlieren, um ihre Sorgen zu kennen. Hat sich einer von ihnen bei den Hinter­blie­benen in Hanau gemeldet, um mit ihnen zu reden? Welche Worte, welche Antworten, über­haupt welche Fragen haben sie für Hanau gefunden?

Vor einer Woche las ich mit einer Gruppe von Autor*innen in Hanau und es war auffällig, dass wir uns alle auf ähnliche Weise mit dem Terror­an­schlag ausein­an­der­setzen. Die Opfer von Hanau sind für uns keine Fremden. Sie erin­nern uns an Menschen, die wir kennen und lieben. Wir trauern um sie, wir schreiben in unseren Texten über sie. Wir wissen, was ihre Ermor­dung mit den vielen anderen rassis­ti­schen und anti­se­mi­ti­schen Taten in diesem Land zu tun hat. Was sie mit uns zu tun hat. Eine von uns musste durch eine Sicher­heits­firma geschützt werden.

Wir waren aus Soli­da­rität mit den Über­le­benden und Hinter­blie­benen und aus Dank­bar­keit für die Arbeit der Initia­tive 19. Februar in Hanau. Weil wir ohne sie nicht wüssten, dass Vili den Notruf nicht errei­chen konnte oder dass der Notaus­gang der Arena-Bar verschlossen war. Es gäbe keinen Unter­su­chungs­aus­schuss, es gäbe noch nicht einmal den Plan eines Denkmals.

Eine Initia­tive von Betrof­fenen beauf­tragt ein unab­hän­giges Recher­che­kol­lektiv aus London, um jene Unter­su­chungen vorzu­nehmen, die von unserem Staat und seinen Behörden geleistet werden müssten. Was für eine Zumu­tung, was für eine poli­ti­sche und mora­li­sche Kraft. Ich glaube, dass diese Gesell­schaft noch gar nicht weiß, wie viel sie diesen Menschen zu verdanken hat. Und wie viel sie ihnen schuldet.

Weshalb sollten Menschen wie Enver Şimşek und İsmail Yaşar, Sedat Gürbüz und Ferhat Unvar für diese Gesell­schaft schuften, wenn sie nicht als Teil der Gesell­schaft gesehen und behan­delt werden? Wenn sie und ihre Kinder, ihre Eltern und Geschwister, sich nicht sicher fühlen dürfen in den Straßen, Geschäften, Bars und Cafés dieses Landes?

Ferhats Mutter Serpil Temiz Unvar berich­tete nach seinem Tod, dass er häufiger mit den rassis­ti­schen Struk­turen kämpfte, zum Beispiel an seiner Schule. Sie hielt ihn dazu an, sich noch mehr zu bemühen, keinen Ärger zu machen. Am Tag seines Todes hatte er seine Ausbil­dung abge­schlossen und erfahren, dass er von seinem Betrieb über­nommen wurde. Weil er einen guten Job machte. Er wollte an diesem Abend feiern. Es war sein letzter, weil ein anderer Sohn ihm das Leben nahm. Rassismus hört nicht auf, wenn man sich bemüht und anpasst, wenn man sich beugt und duckt. Das ist ein Mythos. Das sind unehr­liche Diskurse. Es muss aufhören, dass man Fried­rich Merz und den anderen beweisen möchte, dass man gleich­wertig ist. Gleich­wer­tig­keit ist bedin­gungslos, ist Menschenrecht.

Serpil Temiz Unvar macht sich nun Vorwürfe, ihren Sohn als Schüler nicht mehr bestärkt und geschützt zu haben. Dafür steht die Grün­dung der Bildungs­in­itia­tive, die sie in seinem Namen ins Leben gerufen hat, um andere Kinder aufzu­klären, zu stärken und zu schützen. Unsere Kinder.

Und auch Emiş Gürbüz ist eine Kämp­ferin geworden. Während einer Diskus­sion, an der unter andrem der Untersuchungsausschuss-Vorsitzende Marius Weiß von der SPD und der hessi­sche Grünen-Fraktionschef Mathias Wagner teil­nahmen, sagt letz­terer, dass es einen Neuan­fang in der hessi­schen Polizei brauche. Frau Gürbüz unter­brach ihn aus dem Publikum und schrie: „Neuan­fang – 30 Jahre nicht ange­fangen, aber jetzt Neuan­fang. Das ist nicht der erste und auch nicht der letzte Fall. Ich will mein Kind haben, was bringt jetzt der Neuan­fang. Sie sitzen da und reden, reden, reden. Worauf habt ihr gewartet? Warum habt ihr gewartet?“

Die Menschen, die sich in der Initia­tive 19. Februar zusam­men­ge­funden haben, zeigen uns, wohin wir als Gesell­schaft schreiten müssen. Sie dürfen nicht allein kämpfen, nicht allein bleiben in ihren Forde­rungen. Sie haben es sich beileibe nicht ausge­sucht, wie sehr wünscht man sich, dass sie es nicht müssten. Aber sie sind nun unser Kompass, sie und die anderen Fami­lien in Dessau und Mölln und Solingen und so vielen anderen Orten dieses Landes.

Wenn wir sie hören, und wir müssen sie hören und ernst­nehmen, wenn wir die Namen ihrer ermor­deten Fami­li­en­mit­glieder sagen, wenn wir die Opfer von Faschismus benennen, dann sollten wir das im Bewusst­sein dessen tun, dass es genau auf diesen zivil­ge­sell­schaft­li­chen, soli­da­ri­schen Chor ankommt. Auf uns alle, darauf, dass wir sehen, erkennen und laut spre­chen, damit nicht noch mehr Menschen ermordet werden. Es braucht Wähler*innen, die einen Poli­tiker wie Merz nicht mehr durch­kommen lassen, es braucht Autor*innen, die seine Art der Rhetorik als Gefahr benennen, es braucht Kulturarbeiter*innen, die sich den Schüler*innen, den Geflüch­teten, den migran­ti­schen Arbeiter*innen zuwenden und schreiben, dichten, reden, damit sie nicht mehr als Projek­ti­ons­fläche für alles Häss­liche und Falsche in diesem Land heran­ge­zogen werden können.

Mir fehlt eine Woche nach der Wahl in Berlin der Opti­mismus, der Glaube. Die CDU von Merz ist mit ihrer Rhetorik durch­ge­kommen, sie wird ihre Schlüsse daraus ziehen. Ich gebe zu, das ist nieder­schmet­ternd für mich. Und gleich­zeitig sehe ich die Gesichter der Ermor­deten und denke an diese drei Jahre im Leben ihrer Eltern und Fami­li­en­mit­glieder und dann sage ich ihre Namen.

Rede gehalten am 19.2.2023 auf dem Brecht­fes­tival in Augs­burg. Mit Dank an Fabian Wolff für die Unter­stüt­zung beim Nach­denken und Verfassen der Rede.