Es ist nun das dritte Jahr. Das dritte Jahr, in dem wir die Namen von neun Menschen nennen, die am 19. Februar 2020 zu Opfern rechtsradikalen Terrors gemacht wurden. Von einem rassistischen Täter und den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er und die von ihm Ermordeten lebten.
Wir sagen Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz. Die Namen der ersten drei jungen Männer, die erschossen wurden an diesem Abend vor drei Jahren. 3 Menschen in 11 Sekunden in der Innenstadt.
Wir sagen Vili Viorel Păun. Wir atmen kurz durch, wir denken an den Notruf, den er mehrmals wählte und nicht erreichte. Nicht erreichte, weil Hanau nicht an ein funktionierendes Notrufsystem angeschlossen war.
Wir sagen Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar. Diese beiden Männer und diese eine Frau starben gemeinsam am fünften Tatort, einem gewöhnlichen Kiosk im Erdgeschoss eines Wohnhauses. Wir sagen Said Nesar Hashemi, Hamza Kurtović. Zwei Freunde, die nicht über den Notausgang fliehen konnten, weil er verschlossen war. Ein Notausgang, verschlossen für die Razzien der Polizei. 6 Menschen in 24 Sekunden in Kesselstadt.
Wir sagen ihre neun Namen. Wir wissen, es sind nur 12 Minuten vergangen zwischen dem ersten und dem letzten tödlichen Schuss. Seit diesen Schüssen sind nun 1095 Tage vergangen. Mehr als eintausend schwere Tage vor allem für ihre Familien, ihre Freund*innen, die Hinterbliebenen, die Überlebenden.
Der heutige Tag soll ein Tag des Gedenkens sein – wir erinnern an diese neun ermordeten Menschen und zeigen unsere Solidarität mit denen, die sie kannten und liebten und nun für sie kämpfen mit der Forderung: Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen.
Kaloyan, Fatih, Sedat, Vili, Gökhan, Mercedes, Ferhat, Said Nesar, Hamza.
Wir sagen ihre Namen in diesem dritten Jahr, das mit einer Silvesterdebatte begann, die auf mich wirkte wie der willentliche Versuch, weitere Namen zu dieser langen Liste hinzuzufügen – der Liste mit ermordeten Menschen, die in diesem Land zu Opfern rassistischer Gewalt gemacht wurden. Diese Diskussion ächtet junge migrantisierte Männer und reduzierte sie auf Klischees und Phänotypen. Noch mehr Munition für rassistische Terrorakte.
Wir sagen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat. Neun weitere Namen, Namen von Männern, die in diesem Land aus rassistischen Motiven erschossen wurden. Vom jahrelang mordenden NSU. Mit einer Česká-Pistole wie in Hanau.
Wir sagen ihre Namen, wir sagen „Say Their Names“, weil das Gedenken an die gewaltsam beendeten Leben im Zentrum stehen soll. Ihre Namen zu nennen ist nicht nur Erinnerung, es ist Zusammenhalt, es ist Widerstand. Weil die Opfer in diesem Land viel zu oft und immer wieder namenlos und gesichtslos geblieben sind. Und damit die gemeinsame Erfahrung derer, die überlebten, die zurückblieben. Die trauerten und trauern. Die kriminalisiert oder missachtet wurden und nun gegen die gesellschaftliche Abwehr, die politische Apathie und die rassistischen Strukturen in diesem Land um Aufklärung und Anerkennung kämpfen müssen. Ankämpfen gegen Menschenfeindlichkeit. Wenn sie es schaffen. Jahrelang, jahrzehntelang laut sein, dagegenhalten, kämpfen.
Im dritten Jahr der Erinnerung gehört zu Verantwortung, Gerechtigkeit und Konsequenzen dazu, über die Gesellschaft zu sprechen, gegen die sie kämpfen müssen. Die Gesellschaft, die diesen Täter hervorgebracht hat. Über den Täter zu sprechen, der von dieser Gesellschaft nicht aufgehalten, der sogar von ihr getragen wurde.
Es gibt eine Faszination für Täter. Genau dieser Faszination gilt es entgegenzuwirken, weil jeder Täter zur Inspiration wird, vor allem, wenn sich gesellschaftlich nicht genug bewegt. Darum sagt man zu Recht, dass es nicht um die Täter, sondern um die Ermordeten gehen muss. Das Innenleben und die Entwicklung des Täters interessieren mich nicht. Was mich interessiert, ist, wie geschickt der Täter aus Hanau zum anderen wurde, gemacht wurde, ausgelagert wurde, von einer Gesellschaft, die nun drei Jahre nach seiner Tat die Frage verdient: Warum seid ihr so sicher, dass er mit euch nichts zu tun hat?
Die Opfer mit ihren Namen, ihren Gesichtern und Geschichten, sie sind ohnehin andere. Sie sind schon vor ihrem Mord Projektionsfläche, sind jene, die bei Döner-Morden und Shisha-Morden draufgehen, sind jene, die zu Kopftuchmädchen und Messermännern erklärt werden.
Aber auch der Täter mit seinen Wahnvorstellungen wurde zum anderen gemacht. Seine Gewalt irre, seine Gedanken irre. Das sagten Politiker*innen aus allen Parteien, so stand es in Medienberichten und Kommentaren. Auf diese Weise kann das deutsche Selbstverständnis unversehrt bleiben.
Ja, der Täter war psychisch krank, wurde mit paranoider Schizophrenie diagnostiziert. Er hatte einen Verfolgungswahn. In diesem Wahn, den er sehr artikuliert und ruhig erklären konnte, machte er sehr bestimmte Menschen zur Bedrohung, die auch ganz ohne Wahnvorstellungen immer wieder als bedrohlich dargestellt werden. Über diese Überschneidung zwischen dem individuellen Wahn eines psychisch kranken Mannes und einer Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist – in der er Waffen besessen hat –, kann im öffentlichen Diskurs nicht immer wieder hinweggegangen werden.
Und nun. Vielleicht ist auch sein Vater psychisch krank. Ich weiß es nicht. Der Vater, der die Česká-Pistole zurückverlangt, mit der sein Sohn gemordet hat. Der immer wieder durch Beleidigungen auffällt, der Strafanzeige erstattet hat gegen eine Mahnwache in Hanau mit den Worten: „Sie sollen schlicht weg, das Maul halten und sich dem deutschen Volk unterordnen.“ Der Vater, der wiederholt vor dem Haus von Serpil Temiz Unvar steht, um sie zu terrorisieren. Jene Mutter, deren Sohn Ferhat sein eigener Sohn ermordet hat. Ein Vater, der nach dem Terroranschlag seines Sohnes von den Hinterbliebenen, seinen Nachbar*innen in Hanau, als „fremde Wilde“ spricht.
Ein deutscher Vater und sein deutscher Sohn, die die Menschheit in Rassen denken, sich der weißen Rasse zuordnen und sie bedroht sehen durch andere Rassen, die sie imaginieren. So wie der CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen es kürzlich getan hat. So wie der ehemalige SPD-Politiker Thilo Sarrazin es vor über zehn Jahren in seinem deutschen Superbeststeller getan hat, das heute noch in Millionen Bücherregalen steht. Wie es die drei namentlich bekannten Mitglieder des NSU taten, in ihrem Versteck, das nie gefunden wurde, weil die Ermittler und der Verfassungsschutz immer bloß das Umfeld und die Familien der ermordeten Männer verdächtigten.
Wie kann man etwas einen Wahn nennen, das heute noch so stark, so dominant in dieser Gesellschaft wirkt? Es findet tagtäglich in Worten und Taten Ausdruck, hat so viele Leben gekostet. Prägt den Alltag von Millionen Menschen, ihre Ängste. Prägte das politische System und die Geschichte dieses Landes. Wieso wird etwas Wahn genannt, das dieses Land einte? Was daran ist ein Wahn, dass in Deutschland Rassismus, Antisemitismus und Faschismus sich verbinden können zu einer tödlichen Bewegung?
„Heil Hitler“ brüllten die Attentäter von Mölln ins Telefon, als sie die Feuerwehr anriefen, während Bahide Arslan und die beiden Cousinen Yeliz und Ayşe im Alter von 10 und 14 Jahren bei lebendigem Leib verbrannten.
Auf einen Wahn reduziert wird die Gefahr der nationalsozialistischen Ideologie zu etwas, das man zum Störgeräusch erklären kann, das nichts mit der Gesellschaft und den Verhältnissen im Hier und Heute zu tun hat. Es wurde entschieden, dass es vorbei ist, dass Deutschland nun gut ist, es gut gemacht hat. Oder wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz es kürzlich sagte, als er über die Entwicklung Deutschlands sprach, die er plötzlich zu einer selbstgewählten und nicht durch die Niederlage erzwungenen machte – am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz also sagte er: „Wenn man das hört, ist man stolz auf Deutschland.“
Es war auch Friedrich Merz, der sich wenige Tage zuvor an dieser rassistischen Silvesterdebatte beteiligte, als er von „kleinen Paschas“ sprach. Er meinte Kinder und Teenager, die in dieser Gesellschaft leben, über die er aber nicht als Teil dieser Gesellschaft spricht. Er benannte sie als 8- und 15-Jährige. Er sagte: „Wir sprechen hier über Leute, die eigentlich in Deutschland nichts zu suchen haben.“ Er sagte: „Das sind überwiegend Jugendliche aus dem arabischen Raum, die nicht bereit sind, sich hier in Deutschland an die Regeln zu halten.“
Aus dem arabischen Raum. Oder wie es in einem Polizeibericht zum Anschlag in Hanau hieß: „orientalisch-südländisch“. In diesem Absatz des Berichts ging es um Hamza Kurtović, der wie sein Vater Armin Kurtović in Deutschland geboren ist. Hamza, dessen bosniakische Vorfahren aus dem heutigen Bosnien-Herzegowina stammten. Er hätte dunkle Haare und dunkle Augen haben können. Hatte er aber nicht.
Doch für den stigmatisierenden deutschen Diskurs über jene jungen Männer ist nicht von Belang, wie sie wirklich aussehen und heißen. Was sie denken und fühlen, wovor sie Angst haben und was ihre Hoffnungen, ihre Pläne, ihre Wut und Enttäuschungen sind. Sie zählen nicht und werden nicht gesehen, wenn die Bundesinnenministerin und SPD-Politikerin Nancy Faeser sie „gewaltbereite Integrationsverweigerer“ nennt, wenn die FDP-Bundestagsabgeordnete Katja Adler sie als Beweis einer „kulturellen Überfremdung“ ausmacht. Wir brauchen für solche Sätze keine AfD.
Dieser grausame Blick trifft auf Kinder und Jugendliche, auf junge Menschen, macht sie zur Projektionsfläche von Ressentiments. Wussten Sie, dass migrantische Jungs häufig gemeinsam auftreten, sich in Gruppen durch die Öffentlichkeit bewegen, aus Selbstschutz? Und nun werden sie in diesen Gruppen zu Gefährdern erklärt, alle auf einmal, einfach so, ohne Blick auf die Hintergründe oder die gesellschaftlichen Verhältnisse, als hätten wir keine Erfahrung damit, was passiert, wenn man mit solch grausamem Blick auf Menschen schaut, wenn man Individuen für Projektionen heranzieht, in denen ganze Gruppen, Kulturen, Phänotypen als gefährlich gebrandmarkt werden.
Dem Täter von Hanau reichte es jedenfalls nicht, auf diese Weise auf sie zu blicken. Er wollte sie auslöschen. Er hat acht Männer und eine Frau hingerichtet. Sie sahen für ihn aus wie die Menschen, über die unsere Politiker*innen und unsere Medien auf diese Weise sprechen und schreiben. Das Schreckgespenst des bedrohlichen Fremden, des anderen.
Ich weiß nicht, wen Friedrich Merz vor sich sieht, wenn er von diesen „kleinen Paschas“ spricht, aber ich sehe Jungs wie meine eigenen Söhne. Ich sehe unsere Kinder, so wie Ferhat, Said Nesar oder Hamza. Ich sehe den 16-Jährigen Mouhamed, einen Teenager in seelischer Not, einen Schwarzen Jugendlichen, der letzten Herbst ohne Anlass oder Vorwarnung von der Dortmunder Polizei mit einem Maschinengewehr hingerichtet wurde.
Armin Kurtović sagte in einem Interview: „Ich hab verstanden, dass ich nicht mehr dazugehöre, niemals dazugehört hab. Sonst wäre mein Sohn nicht ermordet worden.“
Der Attentäter von Hanau musste sich nicht fragen, ob er dazugehörte. Er war ein 43-jähriger diplomierter Betriebswirt aus bürgerlichen Verhältnissen. Er fuhr in seinem frischgeputzten BMW 430 Gran Coupé zu den Orten seiner Terrortat. Er war wieder in sein Elternhaus gezogen, er war arbeitslos, er war 35.000 Euro im Minus. Dabei hätte alles so glatt laufen sollen für ihn. Er studierte von September 2000 bis März 2007 am selben Bayreuther Institut wie die AfD-Politikerin Alice Weidel. Er schloss mit einem Diplom in Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Internationales Management, ab. Er hatte einen guten Job, er spielte Fußball, er wollte eine gesunde deutsche Ehefrau.
Er schrieb ein faschistisches Pamphlet, in dem er erklärte, ganze Länder müssten ausradiert werden. In erster Linie „orientalisch-südländische“ Länder. Er nahm Videos von sich auf, in denen er seine rassistischen Vorstellungen darüber, dass die weiße Rasse vor der Auslöschung stehe, ausführte. Er begann, Frauen zu hassen. Er hatte einen Waffenschein. Er hatte Waffen.
Er hatte einen Vater, der seit Jahren rassistische Beschwerden schrieb und ihn in seinem Weltbild stützte, vielleicht sogar prägte. Er hatte eine Mutter, über die wir nicht viel wissen, außer, dass sie pflegebedürftig wurde, dass er sie pflegte und sie dann erschoss. Er hatte Familienmitglieder, Kommiliton*innen und Kolleg*innen, die ihn gelegentlich seltsam fanden – eigensinnig, schrullig, anders –, aber ihm nicht sagten: Das geht mir zu weit, das möchte ich nicht hören, das kannst du nicht sagen. Hör auf. Sie zeigten ihn nicht an, sie warnten nicht vor ihm. Er hörte Radio, er sah Fernsehen. Er hatte eine psychische Krankheit. Er hatte keine großen Hindernisse auf dem Weg, ein rassistischer Attentäter zu werden.
Sedats Mutter Emiş Gürbüz fragte im Dezember im Untersuchungsausschuss, wieso keiner den Mörder gestoppt habe. Emiş Gürbüz, die gemeinsam mit Armin Kurtović, Serpil Temiz Unvar und den anderen Eltern und Hinterbliebenen der neun in Hanau ermordeten Menschen innerhalb weniger Tage die Initiative 19. Februar Hanau gründete.
Der politische, behördliche und gesellschaftliche Umgang mit dem NSU-Terror hatte ihnen gezeigt, dass Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen in diesem Land von den Betroffenen selbst erkämpft werden müssen. Es waren auch damals die Familien der Ermordeten – verdächtigt, im Stich gelassen –, die uns zeigten, wie sehr der Staat verwickelt und verantwortlich ist.
Auch bei den Brandanschlägen von Mölln und Solingen und dem Anschlag im Münchner OEZ verdanken wir es in erster Linie den Hinterbliebenen, dass wir die Namen der Opfer nicht vergessen haben. Dass wir in so vielen Details bewiesen bekommen haben, dass der Staat nicht ausreichend schützt und nicht aufarbeitet, selbst unter Druck nicht, wie wir in mehreren Untersuchungsausschüssen zum NSU und auch jetzt zu Hanau sehen konnten. Oder in Halle, wo sich trotz der ständigen Bedrohung für jüdische Einrichtungen die jüdische Gemeinde selbst darum kümmern musste, dass die Synagoge bewacht und geschützt wird. Und unser Wissen über den Mord an Oury Jalloh durch die Dessauer Polizei verdanken wir ebenfalls der Arbeit einer Initiative. Sein Tod ist einer von vielen, die zeigen, dass die Gefahr auch vom Staat und seinen Vertreter*innen selbst ausgeht. Denken wir an die 13 SEK-Beamten, die am 19. Februar 2020 in Hanau im Einsatz waren und später als Mitglieder einer Nazi-Chatgruppe entlarvt wurden. Eine von vielen solcher Chatgruppen. Denken wir an den NSU 2.0 und wie lächerlich die institutionelle Aufarbeitung und juristische Ahndung dieser rassistischen Drohbriefe ausgefallen ist.
Und so führte Emiş Gürbüz vor dem Untersuchungsausschuss aus: „Das ist euer Werk. Wenn ihr Verantwortung übernommen hättet, wäre mein Kind noch am Leben. Es ist aufgrund eurer Nachlässigkeit geschehen. Deutschland ist in meinen Augen schuldig.“ Deutschland weiß viel über Schuld. Es ist dennoch so phänomenal schlecht darin, sie zu tragen und aufzuarbeiten und wirkungsvolle Konsequenzen aus seiner Schuld zu ziehen.
Drei Jahre sind vergangen und das geplante Denkmal für die Opfer von Hanau ist nicht realisiert. Drei Jahre, in denen sich weder der ehemalige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier oder auch der jetzige Boris Rhein noch irgendein Verantwortlicher aus den hessischen Behörden bei den Hinterbliebenen entschuldigt hätte. Ich sage Verantwortliche, als hätte jemand Verantwortung übernommen. Aber Peter Beuth ist auch nach drei Jahren noch im Amt. Und auch die Polizei und die Staatsanwaltschaft gestehen drei Jahre später nicht ihre Fahrlässigkeit ein, die durch die Recherchen von Forensic Architecture nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Diese Fahrlässigkeit, die mit Inkompetenz und Überforderung allein nicht zu erklären ist, dieses totale Versagen des Staates, in der Prävention, in der Nacht selbst, im Umgang mit den Familien der Opfer, in der Aufarbeitung. Die offenen Fragen dazu laufen in einer großen Frage zur Rolle der Polizei in unserer Gesellschaft zusammen: Wen schützt die Polizei, und wen macht sie zum Opfer?
Warum habe ich in diesen drei Jahren von vielen meiner Kolleg*innen kaum etwas über Hanau gehört? Warum beschreiben und beklagen sie nicht die Zustände in Hessen? In Deutschland? Warum sagen sie nicht, dass sie die Tatenlosigkeit angesichts der wiederholten Skandale in der hessischen Polizei nicht mehr hinnehmen? Wo bleiben die deutschen Philosoph*innen, die Autor*innen, die Künstler*innen, die sich über die Einschränkung der Freiheit beschweren? Welche größere Einschränkung gibt es als Todesangst? Welches Canceln ist drastischer als Terror? Als Mord?
Ich erinnere mich, wie leidenschaftlich Kolleg*innen argumentierten, man müsse mit Rechten reden, um nicht den Kontakt zu den Menschen zu verlieren, um ihre Sorgen zu kennen. Hat sich einer von ihnen bei den Hinterbliebenen in Hanau gemeldet, um mit ihnen zu reden? Welche Worte, welche Antworten, überhaupt welche Fragen haben sie für Hanau gefunden?
Vor einer Woche las ich mit einer Gruppe von Autor*innen in Hanau und es war auffällig, dass wir uns alle auf ähnliche Weise mit dem Terroranschlag auseinandersetzen. Die Opfer von Hanau sind für uns keine Fremden. Sie erinnern uns an Menschen, die wir kennen und lieben. Wir trauern um sie, wir schreiben in unseren Texten über sie. Wir wissen, was ihre Ermordung mit den vielen anderen rassistischen und antisemitischen Taten in diesem Land zu tun hat. Was sie mit uns zu tun hat. Eine von uns musste durch eine Sicherheitsfirma geschützt werden.
Wir waren aus Solidarität mit den Überlebenden und Hinterbliebenen und aus Dankbarkeit für die Arbeit der Initiative 19. Februar in Hanau. Weil wir ohne sie nicht wüssten, dass Vili den Notruf nicht erreichen konnte oder dass der Notausgang der Arena-Bar verschlossen war. Es gäbe keinen Untersuchungsausschuss, es gäbe noch nicht einmal den Plan eines Denkmals.
Eine Initiative von Betroffenen beauftragt ein unabhängiges Recherchekollektiv aus London, um jene Untersuchungen vorzunehmen, die von unserem Staat und seinen Behörden geleistet werden müssten. Was für eine Zumutung, was für eine politische und moralische Kraft. Ich glaube, dass diese Gesellschaft noch gar nicht weiß, wie viel sie diesen Menschen zu verdanken hat. Und wie viel sie ihnen schuldet.
Weshalb sollten Menschen wie Enver Şimşek und İsmail Yaşar, Sedat Gürbüz und Ferhat Unvar für diese Gesellschaft schuften, wenn sie nicht als Teil der Gesellschaft gesehen und behandelt werden? Wenn sie und ihre Kinder, ihre Eltern und Geschwister, sich nicht sicher fühlen dürfen in den Straßen, Geschäften, Bars und Cafés dieses Landes?
Ferhats Mutter Serpil Temiz Unvar berichtete nach seinem Tod, dass er häufiger mit den rassistischen Strukturen kämpfte, zum Beispiel an seiner Schule. Sie hielt ihn dazu an, sich noch mehr zu bemühen, keinen Ärger zu machen. Am Tag seines Todes hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und erfahren, dass er von seinem Betrieb übernommen wurde. Weil er einen guten Job machte. Er wollte an diesem Abend feiern. Es war sein letzter, weil ein anderer Sohn ihm das Leben nahm. Rassismus hört nicht auf, wenn man sich bemüht und anpasst, wenn man sich beugt und duckt. Das ist ein Mythos. Das sind unehrliche Diskurse. Es muss aufhören, dass man Friedrich Merz und den anderen beweisen möchte, dass man gleichwertig ist. Gleichwertigkeit ist bedingungslos, ist Menschenrecht.
Serpil Temiz Unvar macht sich nun Vorwürfe, ihren Sohn als Schüler nicht mehr bestärkt und geschützt zu haben. Dafür steht die Gründung der Bildungsinitiative, die sie in seinem Namen ins Leben gerufen hat, um andere Kinder aufzuklären, zu stärken und zu schützen. Unsere Kinder.
Und auch Emiş Gürbüz ist eine Kämpferin geworden. Während einer Diskussion, an der unter andrem der Untersuchungsausschuss-Vorsitzende Marius Weiß von der SPD und der hessische Grünen-Fraktionschef Mathias Wagner teilnahmen, sagt letzterer, dass es einen Neuanfang in der hessischen Polizei brauche. Frau Gürbüz unterbrach ihn aus dem Publikum und schrie: „Neuanfang – 30 Jahre nicht angefangen, aber jetzt Neuanfang. Das ist nicht der erste und auch nicht der letzte Fall. Ich will mein Kind haben, was bringt jetzt der Neuanfang. Sie sitzen da und reden, reden, reden. Worauf habt ihr gewartet? Warum habt ihr gewartet?“
Die Menschen, die sich in der Initiative 19. Februar zusammengefunden haben, zeigen uns, wohin wir als Gesellschaft schreiten müssen. Sie dürfen nicht allein kämpfen, nicht allein bleiben in ihren Forderungen. Sie haben es sich beileibe nicht ausgesucht, wie sehr wünscht man sich, dass sie es nicht müssten. Aber sie sind nun unser Kompass, sie und die anderen Familien in Dessau und Mölln und Solingen und so vielen anderen Orten dieses Landes.
Wenn wir sie hören, und wir müssen sie hören und ernstnehmen, wenn wir die Namen ihrer ermordeten Familienmitglieder sagen, wenn wir die Opfer von Faschismus benennen, dann sollten wir das im Bewusstsein dessen tun, dass es genau auf diesen zivilgesellschaftlichen, solidarischen Chor ankommt. Auf uns alle, darauf, dass wir sehen, erkennen und laut sprechen, damit nicht noch mehr Menschen ermordet werden. Es braucht Wähler*innen, die einen Politiker wie Merz nicht mehr durchkommen lassen, es braucht Autor*innen, die seine Art der Rhetorik als Gefahr benennen, es braucht Kulturarbeiter*innen, die sich den Schüler*innen, den Geflüchteten, den migrantischen Arbeiter*innen zuwenden und schreiben, dichten, reden, damit sie nicht mehr als Projektionsfläche für alles Hässliche und Falsche in diesem Land herangezogen werden können.
Mir fehlt eine Woche nach der Wahl in Berlin der Optimismus, der Glaube. Die CDU von Merz ist mit ihrer Rhetorik durchgekommen, sie wird ihre Schlüsse daraus ziehen. Ich gebe zu, das ist niederschmetternd für mich. Und gleichzeitig sehe ich die Gesichter der Ermordeten und denke an diese drei Jahre im Leben ihrer Eltern und Familienmitglieder und dann sage ich ihre Namen.
Bei all den schmerzlichen Worten in diesen Artikeln. Ich fürchte, die Realität ist viel banaler. Ich, geb. 1954, wuchs auf in einem Dorf. Die ersten Ausländer sah ich mit 16 durch eine Busscheibe vor dem Bahnhof meiner Schulstadt. Eine Gruppe in schwarzen Anzügen. Aliens. 1 Jahr später (Ferienjob in einem Klein-Unternehmen) kam wer aufgeregt auf mich zu: Da vorne an der Maschine ist ein Türke! Ich lief hin. Kräuselhaar wie Hendrix, aber rötlich. War verblüfft: Echt ein Mensch wie ich? Heute lebe ich nah der Innenstadt, die sich in den letzten Jahren sehr verändert hat: Man sieht, hört mehr Menschen,… Mehr anzeigen »