Die fortschreitende Verflechtung der Welt hat nicht zur Überwindung von Nationalismus geführt. Vielmehr blühen aggressive Nationalismen gegenwärtig überall. Anstatt dies als Rückkehr des Nationalismus zu reflektieren, ist es Zeit, das Verhältnis von Nationalismus und Internationalismus neu zu bestimmen.

  • Volker Depkat

    Volker Depkat ist Pro­fessor für Ameri­can Stu­dies an der Uni­versität Regens­burg und arbeitet zu trans­atlantischen Bezieh­ungen und zu Visual Culture Studies.
  • Susanne Lachenicht

    Susanne Lachenicht ist Pro­fessorin für Ge­schichte der Frühen Neu­zeit an der Uni­versität Bay­reuth und Sprecherin des Profil­feldes „Kultur­begeg­nungen und trans­kulturelle Pro­zesse“.

Die BREXIT-Entscheidung der Briten, die Präsi­dent­schaft Donald Trumps, der Unbe­re­chen­bar­keit zur poli­ti­schen Stra­tegie erklärt und nun doch auf aggres­sive Außen­po­litik setzt, die impe­riale Gewalt­po­litik Russ­lands in der Ukraine und der Aufstieg der Rechts­po­pu­listen in Europa haben libe­rale Welt­bilder erschüt­tert. Der Glau­bens­satz, dass die fort­schrei­tende ökono­mi­sche Inte­gra­tion der Welt sowie Orga­ni­sa­tionen wie UNO oder EU zur Über­win­dung von Natio­na­lismen führen würden, ist nicht mehr zu halten. Viele reflek­tieren die aktu­ellen Entwick­lungen nun als Rück­fall in über­wunden geglaubte natio­na­lis­ti­sche Zeiten. Es ist die Rede von der uner­war­teten Rück­kehr des Natio­na­lismus, es gibt Verwun­de­rung über die Gleich­zei­tig­keit des scheinbar Ungleich­zei­tigen – Natio­na­lismus und Internationalismus.

Was aber, wenn Natio­na­lismus tatsäch­lich nie passé war? Wenn wir Natio­na­lismus neu denken müssen? Ist der so genannte neue Natio­na­lismus nicht nur eine Reak­tion auf Globa­li­sie­rung, sondern sind Natio­na­lismus und Inter­na­tio­na­lismus viel­leicht sogar komple­mentär aufein­ander bezogen?

Globa­li­sie­rung und Nationalismus

Der Befund scheint eindeutig: Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Globa­li­sie­rung rasant beschleu­nigt: Krabben werden im Nord­at­lantik gefangen, in Marokko gepult und in Oberst­dorf gegessen. Auto­mo­bile werden in Stutt­gart, Köln oder Detroit von einer ethnisch-kulturell diversen Arbei­ter­schaft aus Einzel­teilen zusam­men­ge­setzt, die in der ganzen Welt produ­ziert worden sind.

Neben den Waren sind auch viele Menschen (noch) mobiler geworden, und die welt­weite Migra­tion führt dazu, dass mehr und mehr Biogra­phien sich inzwi­schen in trans­na­tio­nalen sozialen Räumen abspielen, die unter­schied­liche kultu­relle Kontexte grenz­über­schrei­tend verbinden: Arbeiten in Chicago oder New York, heiraten und feiern im heimi­schen Guadalajara.

Diese rasant gewach­sene Mobi­lität von Menschen, Waren, Kapital, Ressourcen und Ideen, d.h. wach­sender Inter­na­tio­na­lismus, hat weder zum Abbau von Natio­na­lismen noch zum Ende des Natio­nal­staates geführt. In der poli­tisch, ökono­misch und virtuell vernetzten Welt blühen Natio­na­lismen, und das nicht erst seit der Finanz­krise 2007/2008: Man denke an den nicht zuletzt von Natio­na­lismen in Polen und Ungarn voran­ge­trie­benen Zerfall des Ostblocks nach 1989, an die Kriege in Tsche­tsche­nien oder dem ehema­ligen Jugo­sla­wien, an neue Natio­na­lismen in afri­ka­ni­schen Staaten, die, wie Dirk Kohnert im GIGA Focus 2008 schrieb, das Janus­ge­sicht einer „kosmo­po­li­ti­schen Nation“ zeigen.

Selbst im alten Kern­land der Euro­päi­schen Union, wie sie 1990/91 bestand, ist das Verhältnis von Natio­nal­staat und supra­na­tio­naler Orga­ni­sa­tion (EU) ebenso wenig geklärt wie das von natio­naler und euro­päi­scher Iden­tität oder von natio­nalen und euro­päi­schen, auch wirt­schaft­li­chen Inter­essen. Die EU-Erweiterungen der letzten Jahre haben das Problem noch verkom­pli­ziert. Der Prozess der euro­päi­schen Inte­gra­tion war, das wird ange­sichts wach­sender Unzu­frie­den­heit mit Europa oft vergessen, auch als Frie­dens­pro­jekt gedacht, das die Konse­quenzen aus den Erfah­rungen zweier Welt­kriege zog, Natio­na­lismus als trei­bende Kraft hinter den Kriegs­ka­ta­stro­phen erkannte und den Natio­nal­staat zu einem Anachro­nismus erklärte. Die zerstö­re­ri­sche Wirkung von Natio­na­lismus sollte durch Inte­gra­tion gebän­digt und am Ende in der Utopie einer Frie­dens­welt über­wunden werden.

Unter­zeich­nung der Verträge zur Bildung der Euro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft (EWG), Rom, 25. März 1957; Quelle: luzernerzeitung.ch

Nation und Natio­na­lismus in anthro­po­lo­gi­scher Perspektive

Wie erklärt man diesen Befund histo­risch? Was heißt er für Geschichte und Zukunft des Natio­na­lismus? Sind Natio­na­lismen „bloß“ eine Reak­tion auf ein Unbe­hagen an zuneh­mender Globa­li­sie­rung, wie sie durch Umver­tei­lung, Deindus­tria­li­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung und Auto­ma­ti­sie­rung, durch Finanz- und Wirt­schafts­krisen, Migra­tionen, Angst vor „Über­frem­dung“, durch beschleu­nigte Verän­de­rungen in allen Lebens­be­rei­chen hervor­ge­rufen wird? Ist Natio­na­lismus die iden­ti­täts­po­li­ti­sche Antwort auf durch Globa­li­sie­rung bedingte wach­sende Identitäts- und Ressour­ce­n­un­ge­wiss­heiten – wie der Histo­riker Charles Maier unlängst schrieb („Indeed for the last thirty years, our poli­tical conflicts have become waged more over iden­tity than distri­bu­tion: not about what we get, but who we are.“)?

Die anthro­po­lo­gisch gewen­dete Natio­na­lis­mus­for­schung hat in der Nach­folge von Bene­dict Anderson Nationen als „imagined commu­ni­ties“ reflek­tiert. Nationen sind nichts Gege­benes, keine Tatsa­chen an sich, sondern das Konstrukt derje­nigen, die eine Nation sein oder andere zu „einer Nation“ machen wollen. Der so defi­nierte Natio­nen­be­griff wird zu einem Entwurf kollek­tiver Iden­tität, dessen Verhältnis zu anderen Entwürfen kollek­tiver Iden­tität wie Ethnie, Volk, Reli­gion, Gesell­schaft, Kultur, „Rasse“ und Region unge­klärt ist und sich viel­fach mit ihnen über­lappen kann.

Ist die Nation in diesem Sinne ein Konstrukt, so fokus­sierte Natio­na­lis­mus­for­schung bislang Abgren­zung und daran gekop­pelte Essen­tia­li­sie­rungs­phä­no­mene. Es ging um scharfe Grenz­zie­hungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden sowie um Homo­ge­ni­täts­fik­tionen, die tatsäch­lich bestehende Hete­ro­ge­nität inner­halb einer ange­nom­menen Nation igno­rieren. Denn letzt­end­lich geht es bei Entwürfen von Kollek­tiven – und damit auch bei Nation – um Mecha­nismen von (gesell­schaft­li­cher) Inklu­sion und Exklu­sion. Erstere begründen soziale und wirt­schaft­liche Privi­le­gien und dienen zur Recht­fer­ti­gung von Diskri­mi­nie­rung und Verfol­gung Anderer, von gerechten Kriegen, Kolo­nia­lismus, Impe­ria­lismus oder – im Extrem­fall – auch Genozid.

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Natio­na­lismus in trans­na­tio­naler Perspektive

Die Einsicht in die Konstru­iert­heit der Nation wirft aller­dings nicht nur die Frage auf, welche Rolle das Andere für die Konstruk­tion des Eigenen im Sinne von Abgren­zung spielt. Sie fordert viel­mehr auch dazu auf zu unter­su­chen, inwie­fern die imagi­nierte gemein­same Kultur einer Nation nicht auch das Resultat von trans­kul­tu­rellem „borro­wing“ bzw. der Aneig­nung von Kultur­ele­menten darstellt, die eigent­lich anderen Kulturen bzw. Nationen zuge­ordnet werden. Dass der Baustil der Gotik, der von vielen Natio­na­listen des 19. Jahr­hun­derts als Ausdruck ‚deut­scher’ Inner­lich­keit gefeiert wurde, tatsäch­lich zuerst in der fran­zö­si­schen Kathe­drale von Char­tres zur höchsten Voll­endung gelangte, ist weithin bekannt. Auch Richard Wagner, dessen Werk erst in jüngster Zeit wieder als typisch Deutsch iden­ti­fi­ziert wurde (Dieter Borchmeyer), nahm u.a. Anleihen bei eigent­lich als keltisch, fran­zö­sisch, jüdisch, slawisch oder asia­tisch geltenden Stoffen und Kompo­si­tionen auf, betonte aber gleich­zeitig die „Rein­heit“ seiner „deut­schen Kunst“. Gerhart Haupt­mann sah dies 1911 anders: „Ich bin weit davon entfernt, mich an Wagner deutsch­tü­melnd zu entzü­cken; denn er ist ebenso grie­chisch wie deutsch, ebenso asia­tisch wie europäisch.“

Inwie­weit bedingen sich Natio­nales und Inter­na­tio­nales wech­sel­seitig, inwie­fern gibt es eine inter­na­tio­nale Dynamik im Natio­na­lismus, die neben nega­tiver Abgren­zung die Synthese von Eigenem und Anderem einschließt? Natio­nal­fei­er­tage, natio­nale Symbole und Rituale unter­schied­lichster Staaten sehen sich oft zum Verwech­seln ähnlich – und vor kurzem trafen sich Marine Le Pen, Geert Wilders und Frauke Petry in Koblenz zu einer Art Inter­na­tio­nale der Nationalisten.

A girl getting national flag painted on her face as she cele­brates the National Day of Paki­stan; Quelle: thenews.com.pk

Nation und natio­nale Kulturen sind ein nach Milieu, sozialer Schicht, Alter, Geschlecht, lokalen und regio­nalen (Selbst-)Zuschreibungen spezi­fi­scher und sich ständig verän­dernder blend von Diskursen und Prak­tiken. Gleich­zeitig entstehen Natio­nen­be­griffe zwar da, wo Grenzen zum Anderen defi­niert werden, aber genau an diesen Grenzen kommt es zu Austausch­pro­zessen, die das natio­nale Eigene als trans­na­tional Werdendes und sich ständig neu Konsti­tu­ie­rendes erscheinen lassen. Inso­fern bewirkt Globa­li­sie­rung nicht nur natio­na­lis­ti­sche Abwehr­re­ak­tionen, sondern auch eine perma­nente, dyna­mi­sche Neuerfin­dung der Nation im Span­nungs­feld von Natio­na­lität und Internationalität.

Ein Zeit­alter des Nationalismus?

Erwei­tert man das Konzept der Nation um diese komplexe trans- und inter­na­tio­nale Dynamik, dann wird auch die Vorstel­lung eines Zeit­al­ters des Natio­na­lismus, das mit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion begann und irgend­wann im 20. Jahr­hun­dert scheinbar endet, proble­ma­tisch. Nation und Natio­na­lismus gibt es nicht erst seit dem späteren 18. Jahr­hun­dert. Nation und Natio­na­lismus sind auch nicht ausschließ­lich mit der Entste­hung der Utopie – oder Dystopie – des modernen Natio­nal­staats verbunden. Moderne Nati­ons­be­griffe entfal­teten sich spätes­tens seit dem 15. und 16. Jahr­hun­dert im Rahmen von Impe­rien wie dem Heiligen Römi­schen Reiches deut­scher Nation, dem Briti­schen Empire, dem Spani­schen und Portu­gie­si­schen Welt­reich, dem russi­schen Zaren­reich oder dem Habs­bur­ger­reich als Viel­völ­ker­staat und damit gleich­zeitig auch in den entste­henden (vor)modernen Staaten wie Frank­reich, Spanien oder England, in denen die Nation (wie etwa die fran­zö­si­sche, spani­sche, engli­sche) den Kern des Impe­riums bilden sollte. Gleich­zeitig gab es das Konzept der auslän­di­schen Nationen (sephar­di­sche Juden, Huge­notten) im Staat, das in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion über­wunden werden sollte, aber in vielen Staaten fortbestand.

Nation, Natio­nal­staat und Natio­na­lismus als histo­ri­sche Konzepte bildeten sich also im Kontext der euro­päi­schen Expan­sion, der Staaten- und Kolo­nie­bil­dung heraus und haben neben natio­nalen oft auch „rassi­sche“ oder reli­giöse Konno­ta­tionen. Diese Phase ab ca. 1400 wird heute als eine Phase der Globa­li­sie­rung verstanden: als eine rasant zuneh­mende Vernet­zung von Menschen, Wissen, Produkten, Märkten, Ressourcen jegli­cher Art. Ab dem späten 18. Jahr­hun­dert tran­szen­dieren Nation, Natio­nal­staat und Natio­na­lismus Impe­rien durch Unab­hän­gig­keits­be­we­gungen (USA, Karibik, Mittel- und Südame­rika), natio­nale Bewe­gungen (Italien, Polen, Deutsch­land), durch Deko­lo­ni­sa­tion (Indien und Afrika ab den 1940er und 1960er Jahren). Mit unab­hängig werdenden (National-)Staaten entstanden neue impe­riale Komplexe (USA, Sowjet­union) oder blieben partiell erhalten (im briti­schen Common­wealth), die wiederum Natio­nen­viel­falt und Natio­na­lismen in ihrem Inneren gene­rieren – nicht zuletzt durch Immi­gra­tion. Nation und Impe­rium stehen also in Konkur­renz und sind häufig gleich­zeitig komple­mentär. Nation und Natio­na­lismen konkur­rieren auch inner­halb eines Staates (nicht nur zwischen Staaten) um die Frage von Hege­monie. Nation, Kolo­nia­lismus, Impe­ria­lismus und Deko­lo­ni­sa­tion sind nicht nur poli­tisch, sondern immer auch wirt­schaft­lich, gesell­schaft­lich und kultu­rell eng mitein­ander verbunden. Es geht immer auch um Zugang zu Privi­le­gien und Ressourcen inner­halb eines Staates oder eines Impe­riums oder zwischen Staaten und Imperien.

Natio­na­lismus und kein Ende?

Selbst- und Fremd­be­schrei­bungen von Kollek­tiven als Nationen scheinen dem Drang zu folgen, sich diskursiv und durch Prak­tiken gegen konstante Verän­de­rungs­pro­zesse abzu­grenzen. Es sieht so aus, als würden Menschen konstru­ierte (Gruppen-)Identität nicht nur für die Abgren­zung vom und der Ausgren­zung des Anderen brau­chen, sondern auch, um eine tatsäch­lich komplexe Welt durch Komple­xi­täts­re­duk­tion zu verein­fa­chen. Wach­sender Natio­na­lismus als Antwort auf Globa­li­sie­rung ist damit sowohl eine Reak­tion auf „iden­ti­täre Bedro­hung“ und den (realen oder befürch­teten) Verlust von sozialen und wirt­schaft­li­chen Ressourcen, als auch Ergebnis von Orien­tie­rungs­lo­sig­keit in einer rasant sich wandelnden Welt. Die Prognose wäre also, dass Natio­na­lismen bzw. andere, auf Container-Konstrukten beru­hende Formen der aggres­siven Ein- und Abgren­zung – wie „reli­giöser Fana­tismus“ oder „Rassismus“, die mit Natio­na­lismus verbunden sein können – bei sich beschleu­ni­gender Globa­li­sie­rung weiter wachsen. Die Diagnose wäre, dass Natio­na­lismus und Inter­na­tio­na­lismus komple­men­täre Elemente eines histo­ri­schen Prozesses sind, den wir Globa­li­sie­rung nennen.