Die BREXIT-Entscheidung der Briten, die Präsidentschaft Donald Trumps, der Unberechenbarkeit zur politischen Strategie erklärt und nun doch auf aggressive Außenpolitik setzt, die imperiale Gewaltpolitik Russlands in der Ukraine und der Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa haben liberale Weltbilder erschüttert. Der Glaubenssatz, dass die fortschreitende ökonomische Integration der Welt sowie Organisationen wie UNO oder EU zur Überwindung von Nationalismen führen würden, ist nicht mehr zu halten. Viele reflektieren die aktuellen Entwicklungen nun als Rückfall in überwunden geglaubte nationalistische Zeiten. Es ist die Rede von der unerwarteten Rückkehr des Nationalismus, es gibt Verwunderung über die Gleichzeitigkeit des scheinbar Ungleichzeitigen – Nationalismus und Internationalismus.
Was aber, wenn Nationalismus tatsächlich nie passé war? Wenn wir Nationalismus neu denken müssen? Ist der so genannte neue Nationalismus nicht nur eine Reaktion auf Globalisierung, sondern sind Nationalismus und Internationalismus vielleicht sogar komplementär aufeinander bezogen?
Globalisierung und Nationalismus
Der Befund scheint eindeutig: Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Globalisierung rasant beschleunigt: Krabben werden im Nordatlantik gefangen, in Marokko gepult und in Oberstdorf gegessen. Automobile werden in Stuttgart, Köln oder Detroit von einer ethnisch-kulturell diversen Arbeiterschaft aus Einzelteilen zusammengesetzt, die in der ganzen Welt produziert worden sind.
Neben den Waren sind auch viele Menschen (noch) mobiler geworden, und die weltweite Migration führt dazu, dass mehr und mehr Biographien sich inzwischen in transnationalen sozialen Räumen abspielen, die unterschiedliche kulturelle Kontexte grenzüberschreitend verbinden: Arbeiten in Chicago oder New York, heiraten und feiern im heimischen Guadalajara.
Diese rasant gewachsene Mobilität von Menschen, Waren, Kapital, Ressourcen und Ideen, d.h. wachsender Internationalismus, hat weder zum Abbau von Nationalismen noch zum Ende des Nationalstaates geführt. In der politisch, ökonomisch und virtuell vernetzten Welt blühen Nationalismen, und das nicht erst seit der Finanzkrise 2007/2008: Man denke an den nicht zuletzt von Nationalismen in Polen und Ungarn vorangetriebenen Zerfall des Ostblocks nach 1989, an die Kriege in Tschetschenien oder dem ehemaligen Jugoslawien, an neue Nationalismen in afrikanischen Staaten, die, wie Dirk Kohnert im GIGA Focus 2008 schrieb, das Janusgesicht einer „kosmopolitischen Nation“ zeigen.
Selbst im alten Kernland der Europäischen Union, wie sie 1990/91 bestand, ist das Verhältnis von Nationalstaat und supranationaler Organisation (EU) ebenso wenig geklärt wie das von nationaler und europäischer Identität oder von nationalen und europäischen, auch wirtschaftlichen Interessen. Die EU-Erweiterungen der letzten Jahre haben das Problem noch verkompliziert. Der Prozess der europäischen Integration war, das wird angesichts wachsender Unzufriedenheit mit Europa oft vergessen, auch als Friedensprojekt gedacht, das die Konsequenzen aus den Erfahrungen zweier Weltkriege zog, Nationalismus als treibende Kraft hinter den Kriegskatastrophen erkannte und den Nationalstaat zu einem Anachronismus erklärte. Die zerstörerische Wirkung von Nationalismus sollte durch Integration gebändigt und am Ende in der Utopie einer Friedenswelt überwunden werden.

Unterzeichnung der Verträge zur Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Rom, 25. März 1957; Quelle: luzernerzeitung.ch
Nation und Nationalismus in anthropologischer Perspektive
Wie erklärt man diesen Befund historisch? Was heißt er für Geschichte und Zukunft des Nationalismus? Sind Nationalismen „bloß“ eine Reaktion auf ein Unbehagen an zunehmender Globalisierung, wie sie durch Umverteilung, Deindustrialisierung, Digitalisierung und Automatisierung, durch Finanz- und Wirtschaftskrisen, Migrationen, Angst vor „Überfremdung“, durch beschleunigte Veränderungen in allen Lebensbereichen hervorgerufen wird? Ist Nationalismus die identitätspolitische Antwort auf durch Globalisierung bedingte wachsende Identitäts- und Ressourcenungewissheiten – wie der Historiker Charles Maier unlängst schrieb („Indeed for the last thirty years, our political conflicts have become waged more over identity than distribution: not about what we get, but who we are.“)?
Die anthropologisch gewendete Nationalismusforschung hat in der Nachfolge von Benedict Anderson Nationen als „imagined communities“ reflektiert. Nationen sind nichts Gegebenes, keine Tatsachen an sich, sondern das Konstrukt derjenigen, die eine Nation sein oder andere zu „einer Nation“ machen wollen. Der so definierte Nationenbegriff wird zu einem Entwurf kollektiver Identität, dessen Verhältnis zu anderen Entwürfen kollektiver Identität wie Ethnie, Volk, Religion, Gesellschaft, Kultur, „Rasse“ und Region ungeklärt ist und sich vielfach mit ihnen überlappen kann.
Ist die Nation in diesem Sinne ein Konstrukt, so fokussierte Nationalismusforschung bislang Abgrenzung und daran gekoppelte Essentialisierungsphänomene. Es ging um scharfe Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden sowie um Homogenitätsfiktionen, die tatsächlich bestehende Heterogenität innerhalb einer angenommenen Nation ignorieren. Denn letztendlich geht es bei Entwürfen von Kollektiven – und damit auch bei Nation – um Mechanismen von (gesellschaftlicher) Inklusion und Exklusion. Erstere begründen soziale und wirtschaftliche Privilegien und dienen zur Rechtfertigung von Diskriminierung und Verfolgung Anderer, von gerechten Kriegen, Kolonialismus, Imperialismus oder – im Extremfall – auch Genozid.
Nationalismus in transnationaler Perspektive
Die Einsicht in die Konstruiertheit der Nation wirft allerdings nicht nur die Frage auf, welche Rolle das Andere für die Konstruktion des Eigenen im Sinne von Abgrenzung spielt. Sie fordert vielmehr auch dazu auf zu untersuchen, inwiefern die imaginierte gemeinsame Kultur einer Nation nicht auch das Resultat von transkulturellem „borrowing“ bzw. der Aneignung von Kulturelementen darstellt, die eigentlich anderen Kulturen bzw. Nationen zugeordnet werden. Dass der Baustil der Gotik, der von vielen Nationalisten des 19. Jahrhunderts als Ausdruck ‚deutscher’ Innerlichkeit gefeiert wurde, tatsächlich zuerst in der französischen Kathedrale von Chartres zur höchsten Vollendung gelangte, ist weithin bekannt. Auch Richard Wagner, dessen Werk erst in jüngster Zeit wieder als typisch Deutsch identifiziert wurde (Dieter Borchmeyer), nahm u.a. Anleihen bei eigentlich als keltisch, französisch, jüdisch, slawisch oder asiatisch geltenden Stoffen und Kompositionen auf, betonte aber gleichzeitig die „Reinheit“ seiner „deutschen Kunst“. Gerhart Hauptmann sah dies 1911 anders: „Ich bin weit davon entfernt, mich an Wagner deutschtümelnd zu entzücken; denn er ist ebenso griechisch wie deutsch, ebenso asiatisch wie europäisch.“
Inwieweit bedingen sich Nationales und Internationales wechselseitig, inwiefern gibt es eine internationale Dynamik im Nationalismus, die neben negativer Abgrenzung die Synthese von Eigenem und Anderem einschließt? Nationalfeiertage, nationale Symbole und Rituale unterschiedlichster Staaten sehen sich oft zum Verwechseln ähnlich – und vor kurzem trafen sich Marine Le Pen, Geert Wilders und Frauke Petry in Koblenz zu einer Art Internationale der Nationalisten.

A girl getting national flag painted on her face as she celebrates the National Day of Pakistan; Quelle: thenews.com.pk
Nation und nationale Kulturen sind ein nach Milieu, sozialer Schicht, Alter, Geschlecht, lokalen und regionalen (Selbst-)Zuschreibungen spezifischer und sich ständig verändernder blend von Diskursen und Praktiken. Gleichzeitig entstehen Nationenbegriffe zwar da, wo Grenzen zum Anderen definiert werden, aber genau an diesen Grenzen kommt es zu Austauschprozessen, die das nationale Eigene als transnational Werdendes und sich ständig neu Konstituierendes erscheinen lassen. Insofern bewirkt Globalisierung nicht nur nationalistische Abwehrreaktionen, sondern auch eine permanente, dynamische Neuerfindung der Nation im Spannungsfeld von Nationalität und Internationalität.
Ein Zeitalter des Nationalismus?
Erweitert man das Konzept der Nation um diese komplexe trans- und internationale Dynamik, dann wird auch die Vorstellung eines Zeitalters des Nationalismus, das mit der Französischen Revolution begann und irgendwann im 20. Jahrhundert scheinbar endet, problematisch. Nation und Nationalismus gibt es nicht erst seit dem späteren 18. Jahrhundert. Nation und Nationalismus sind auch nicht ausschließlich mit der Entstehung der Utopie – oder Dystopie – des modernen Nationalstaats verbunden. Moderne Nationsbegriffe entfalteten sich spätestens seit dem 15. und 16. Jahrhundert im Rahmen von Imperien wie dem Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, dem Britischen Empire, dem Spanischen und Portugiesischen Weltreich, dem russischen Zarenreich oder dem Habsburgerreich als Vielvölkerstaat und damit gleichzeitig auch in den entstehenden (vor)modernen Staaten wie Frankreich, Spanien oder England, in denen die Nation (wie etwa die französische, spanische, englische) den Kern des Imperiums bilden sollte. Gleichzeitig gab es das Konzept der ausländischen Nationen (sephardische Juden, Hugenotten) im Staat, das in der Französischen Revolution überwunden werden sollte, aber in vielen Staaten fortbestand.
Nation, Nationalstaat und Nationalismus als historische Konzepte bildeten sich also im Kontext der europäischen Expansion, der Staaten- und Koloniebildung heraus und haben neben nationalen oft auch „rassische“ oder religiöse Konnotationen. Diese Phase ab ca. 1400 wird heute als eine Phase der Globalisierung verstanden: als eine rasant zunehmende Vernetzung von Menschen, Wissen, Produkten, Märkten, Ressourcen jeglicher Art. Ab dem späten 18. Jahrhundert transzendieren Nation, Nationalstaat und Nationalismus Imperien durch Unabhängigkeitsbewegungen (USA, Karibik, Mittel- und Südamerika), nationale Bewegungen (Italien, Polen, Deutschland), durch Dekolonisation (Indien und Afrika ab den 1940er und 1960er Jahren). Mit unabhängig werdenden (National-)Staaten entstanden neue imperiale Komplexe (USA, Sowjetunion) oder blieben partiell erhalten (im britischen Commonwealth), die wiederum Nationenvielfalt und Nationalismen in ihrem Inneren generieren – nicht zuletzt durch Immigration. Nation und Imperium stehen also in Konkurrenz und sind häufig gleichzeitig komplementär. Nation und Nationalismen konkurrieren auch innerhalb eines Staates (nicht nur zwischen Staaten) um die Frage von Hegemonie. Nation, Kolonialismus, Imperialismus und Dekolonisation sind nicht nur politisch, sondern immer auch wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell eng miteinander verbunden. Es geht immer auch um Zugang zu Privilegien und Ressourcen innerhalb eines Staates oder eines Imperiums oder zwischen Staaten und Imperien.
Nationalismus und kein Ende?
Selbst- und Fremdbeschreibungen von Kollektiven als Nationen scheinen dem Drang zu folgen, sich diskursiv und durch Praktiken gegen konstante Veränderungsprozesse abzugrenzen. Es sieht so aus, als würden Menschen konstruierte (Gruppen-)Identität nicht nur für die Abgrenzung vom und der Ausgrenzung des Anderen brauchen, sondern auch, um eine tatsächlich komplexe Welt durch Komplexitätsreduktion zu vereinfachen. Wachsender Nationalismus als Antwort auf Globalisierung ist damit sowohl eine Reaktion auf „identitäre Bedrohung“ und den (realen oder befürchteten) Verlust von sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen, als auch Ergebnis von Orientierungslosigkeit in einer rasant sich wandelnden Welt. Die Prognose wäre also, dass Nationalismen bzw. andere, auf Container-Konstrukten beruhende Formen der aggressiven Ein- und Abgrenzung – wie „religiöser Fanatismus“ oder „Rassismus“, die mit Nationalismus verbunden sein können – bei sich beschleunigender Globalisierung weiter wachsen. Die Diagnose wäre, dass Nationalismus und Internationalismus komplementäre Elemente eines historischen Prozesses sind, den wir Globalisierung nennen.