Unter dem Eindruck anhaltender Flüchtlingsbewegungen werden gegenwärtig Forderungen nach Assimilation immer lauter. Dabei ist dieses Konzept ein Produkt des Nationalstaatsgedankens des 19. Jahrhunderts und seiner Vorstellung abgegrenzter, homogener Gesellschaften. Die Nostalgie danach steht hinter den neuen Anpassungsforderungen.

  • Andreas Kilcher

    Andreas Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Er ist Mitglied des Zentrums Geschichte des Wissens an der ETH und Universität Zürich sowie Mitbegründer der European Society for the Study of Western Esotericism.

Poli­ti­sches Kapital scheint sich gegen­wärtig am erfolg­reichsten aus einem Angst­kom­plex gewinnen zu lassen. Die Sorge gilt dem Erhalt national-kultureller Iden­tität und Souve­rä­nität, die länger schon durch Globa­li­sie­rung und Euro­päi­sie­rung, akut zudem vor allem durch die anhal­tende Migra­tion aus arabi­schen und afri­ka­ni­schen Ländern als hoch­gradig bedroht erfahren wird. Mit xeno­phober Rhetorik und Ikono­gra­phie wird zugleich das Mittel für die Rettung des vermeint­lich Bedrohten stark gemacht, das zwei­erlei einschliesst: Ausgren­zung und Anpas­sung. Gefor­dert wird zum einen gegen Aussen eine quan­ti­ta­tive physi­sche Abwehr durch „Kontin­gen­tie­rung“, „Ober­grenze“, „Grenz­schlies­sung“, Zäune, Mauern; sowie zum zweiten gegen Innen eine nicht weniger massive quali­ta­tive symbo­li­sche Neutra­li­sie­rung durch eine norma­tive Anpassung.

Neuer Unter­gang des alten Abendlandes

Woody Allen als "Zelig", der sich je nach Kontext automatisch an diesen anpasst. Quelle: http://www.dasscinemag.com

Woody Allen als „Zelig“, der sich je nach Kontext auto­ma­tisch an diesen anpasst. Quelle: dasscinemag.com

Die Forde­rungen aktu­eller popu­lis­ti­scher Bewe­gungen wie Pegida („Patrio­ti­sche Euro­päer gegen die Isla­mi­sie­rung des Abend­landes“) oder AfD („Alter­na­tive für Deutsch­land“) über­bieten darin die alten rechtsbürgerlich-konservativen Parteien. Das zeigt sympto­ma­tisch die Anpas­sungs­for­de­rung als Mittel zur Re-Homogenisierung gesell­schaft­li­cher Plura­li­sie­rung, sei es einzelner euro­päi­scher Staaten oder des „christ­li­chen Abend­landes“ über­haupt. Die plaka­tiven Programme dieser Bewe­gungen spre­chen sich hierzu unver­hohlen aus: gegen „Parallelgesellschaften/ Paral­lel­ge­richte in unserer Mitte“, für „die Erhal­tung und den Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abend­land­kultur“, gegen „unkon­trol­lierte quan­ti­ta­tive Zuwan­de­rung“, für die grund­ge­setz­liche „Pflicht zur Inte­gra­tion“ – so das „Posi­ti­ons­pa­pier“ der Pegida von Dezember 2014. Und im ersten „Grund­satz­pro­gramm“ der AfD vom Mai 2016 heisst es zu „Kultur, Sprache, Iden­tität“: „Deut­sche Leit­kultur statt Multi­kul­tu­ra­lismus“ (genauer: „Chris­tentum“ und „römi­sches Recht“ anstatt Islam und Scharia) und daher auch: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“.

Mit seiner Äusse­rung über den deut­schen Fuss­baller Jérôme Boateng hat der AfD-Vize Alex­ander Gauland jüngst ein Exempel dafür gegeben; am 29. Mai zitierte ihn die Frank­furter Sonn­tags­zei­tung: „Die Leute finden ihn als Fußball­spieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nach­barn haben.“ Sympto­ma­tisch ist nicht nur die rassis­ti­sche Behaup­tung, die sich hinter „den Leuten“ verbirgt und von Gauland nach heftigen Gegen­re­ak­tionen inzwi­schen abge­stritten wird, sondern auch seine nach­ge­lie­ferte Erklä­rung, die die Anpas­sungs­for­de­rung auf die Spitze treibt und zugleich anmas­send beur­teilt: „Ich habe […] die Einstel­lung mancher Menschen beschrieben, aber mich an keiner Stelle über Herrn Boateng geäu­ßert, dessen gelun­gene Inte­gra­tion und christ­li­ches Glau­bens­be­kenntnis mir aus Berichten über ihn bekannt sind.“ Während also „die Leute“ den in Deutsch­land gebo­renen Boateng wegen seiner Haut­farbe angeb­lich instinktiv ablehnen, beschei­nigt ihm Gauland aufgrund seiner Assi­mi­la­tion an die christ­liche Leit­kultur „erfolg­reiche“ Inte­gra­tion. Inte­gra­tion fällt hier zurück in Assimilation.

Inte­gra­tion und Assimilation

Dem histo­ri­schen Blick erweist sich solche Argu­men­ta­tion als Rück­fall in über­wunden geglaubte Muster der Behaup­tung natio­naler Iden­tität des 19. Jahr­hun­derts. Das haben selbst einzelne staat­liche Einrich­tungen erkannt, die demge­gen­über (zumin­dest auf dem Papier) die Vorstel­lung einer libe­ralen und plura­lis­ti­schen Gesell­schaft verfechten. Das tut hier­zu­lande etwa die „Eidge­nös­si­sche Migra­ti­ons­kom­mis­sion“, die auf ihrer Home­page die Schweiz über­haupt als eine „plura­lis­ti­sche Gesell­schaft“ erklärt, in der immer schon „Menschen verschie­dener Herkunft lebten“. Das histo­ri­sche Bewusst­sein wird hier termi­no­lo­gisch begründet, indem der ältere Begriff der „Assi­mi­la­tion“ durch den der „Inte­gra­tion“ ersetzt wird. „Inte­gra­tion“, so heisst es, bedeutet, „dass die verschie­denen Teile der Gesell­schaft, aber auch die einzelnen Menschen zum Gelingen des gemein­schaft­li­chen Handelns beitragen. Der Begriff der Inte­gra­tion auf natio­naler Ebene fand Mitte der Neun­zi­ger­jahre Eingang in die Ausländer- und Migra­ti­ons­po­litik. Im Gegen­satz zur lange verfolg­ten Assi­mi­la­ti­ons­po­litik […] sollte mit dem Begriff ‚Inte­gra­tion‘ eine Trend­wende markiert werden. Im Vorder­grund stand dabei die Vorstel­lung von Inte­gra­tion als einem Prozess, der sowohl Migran­tinnen und Migranten als auch Einhei­mi­sche betrifft und Ein­fluss auf die Entwick­lung der gesell­schaft­li­chen Struktu­ren auf allen Ebenen hat“.

In strik­terer Weise ist im deut­schen „Aufent­halts­ge­setz“ von 2005 („Gesetz über den Aufent­halt, die Erwerbs­tä­tig­keit und die Inte­gra­tion von Auslän­dern“) von „Inte­gra­tion“ die Rede, wobei der Staat nicht nur „Inte­gra­ti­ons­kurse“ anbietet, die „den Auslän­dern die Sprache, die Rechts­ord­nung, die Kultur und die Geschichte in Deutsch­land“ vermit­teln sollen, sondern dies mit einer „Inte­gra­ti­ons­pflicht“ verbindet, gar von „Inte­gra­ti­ons­zwang“ spricht. Nicht nur am rigiden Inte­gra­ti­ons­be­griff der Rechts­po­pu­listen, auch an seinen staat­li­chen Verwen­dungen wird deut­lich, dass mit dem begriff­li­chen Wechsel von Assi­mi­la­tion zu Inte­gra­tion allein wenig gewonnen ist. Denn auch die ihrem Anspruch nach libe­rale Gesell­schaft tut sich mit kultu­rellen Diffe­renzen keines­wegs leicht, indem auch sie – obwohl weniger strikt – letzt­lich auf Homo­ge­ni­sie­rung abzielt. Während der Rechts­po­pu­lismus konse­quent into­le­rant ist, ist die libe­rale Gesell­schaft wider­sprüch­lich: Sie ist inklusiv nur unter der Voraus­set­zung der Anpas­sung an vorherr­schende Sprache, Kultur, Werte. Sie will gleich­zeitig Inte­gra­tion und Assimilation.

Anamnese der Gegenwart

Ärzte untersuchen "Zeligs" Assimilation als Krankheit, Quelle: http://www.filmblerg.com

Ärzte unter­su­chen „Zeligs“ Assi­mi­la­tion als Krank­heit, Quelle: filmblerg.com

Der gegen­wär­tige rechts­po­pu­lis­ti­sche Diskurs wie auch die libe­ralen Ambi­va­lenzen im Umgang mit kultu­rellen Diffe­renzen und Plura­li­täten haben ihren histo­ri­schen Index im Entste­hungs­kon­text des Natio­nal­staats­ge­dan­kens des 19. Jahr­hun­derts. Die euro­päi­schen Fremden par excel­lence waren damals die Juden, die, ermög­licht durch die philo­so­phi­schen und poli­ti­schen Bedin­gungen der Aufklä­rung, zuneh­mend in die bürger­liche Gesell­schaft aufge­nommen wurden. In diesem Kontext gewann der Begriff der „Assi­mi­la­tion“ (bis dahin ein biolo­gi­scher, ernäh­rungs­phy­sio­lo­gi­scher Begriff) seine sozio-kulturelle Bedeu­tung, wobei er unter­schied­lich inter­pre­tiert wurde: Der natio­nale Libe­ra­lismus sah in der kultu­rellen Anpas­sung die Bedin­gung der Möglich­keit, die bis dahin an den Rand gedrängten Juden zu recht­lich gleich­ge­stellten und nütz­li­chen Bürgern des Natio­nal­staats zu machen, der natio­nale Konser­va­ti­vismus hingegen sah eben darin eine Bedro­hung, jedoch um die Assi­mi­la­tion damit um so stärker einzu­for­dern. Die bis dahin von allen Rechten ausge­schlos­senen Juden selbst wiederum begrüssten die Assi­mi­la­tion anfäng­lich opti­mis­tisch als Ausweg aus dem Ghetto in die euro­päi­sche Gesell­schaft durch Teil­habe an Bildung, Recht, Wirtschaft.

Wie auch immer gedeutet: Das Verhältnis des aufgeklärt-absolutistischen Staates zu jenen Fremden bestand von Anfang an darin, dass die Juden die Bürger­rechte („Eman­zi­pa­tion“) nur um den Preis weitest­ge­hender Anpas­sung („Assi­mi­la­tion“) an die vorherr­schenden sozialen und kultu­rellen Normen erhalten konnten. Das erste, 1782 vom öster­rei­chi­schen Kaisers Joseph II. erlas­sene Tole­ranz­pa­tent sah in diesem Sinne zwar die Aufhe­bung der Kopf­steuer, die Öffnung der Ghettos, Gewer­be­frei­heit und Zugang zu univer­si­tärer Bildung vor. Doch die Verlei­hung solcher Frei­heit und Rechte ging mit einer umfas­senden Assi­mi­la­ti­ons­for­de­rung einher: Die Juden sollten bürger­liche Namen annehmen, die deut­sche Sprache spre­chen, Mili­tär­dienst leisten, und dies alles weniger in huma­nis­ti­scher, sondern in utili­ta­ris­ti­scher Absicht, so das Patent: Ziel war es, „die jüdi­sche Nazion haupt­säch­lich durch bessere Unter­rich­tung und Aufklä­rung ihrer Jugend und durch Verwen­dung auf Wissen­schaften, Künste und Hand­werke dem Staate nütz­li­cher und brauch­barer zu machen“.

Hannah Arendt, ca. 1932; Quelle: denismateriaux.com

Hannah Arendt, ca. 1932; Quelle: denismateriaux.com

Es war diese Ambi­va­lenz, die die junge Hannah Arendt in ihrem Aufsatz Aufklä­rung und Juden­frage im Jahr 1932 – und damit im Rück­blick auf die schei­ternde Epoche der Aufklä­rung und der Eman­zi­pa­tion – aufzeigte. Die Ambi­va­lenzen der poli­ti­schen Aufklä­rung machte sie aber grund­le­gender, nämlich in ihrem Vernunft­be­griff aus, der parti­ku­lare kultu­relle und reli­giöse Phäno­mene (wie das Judentum) zu kontin­genten „Geschichts­wahr­heiten“ degra­diert und allein die univer­salen „Vernunft­wahr­heiten“ als „notwendig“ und „verbind­lich“ gelten lässt: „Die Allherr­schaft der Vernunft ist eine Allherr­schaft des Mensch­li­chen, des Humanen. […] Schließ­lich (sind) alle Konfes­sionen für den Tole­ranten, und das heißt für den wahr­haft Mensch­li­chen, nur verschie­dene Benen­nungen desselben Menschen.“ Die Ambi­va­lenz der Aufklä­rung liegt also nach Arendt ausge­rechnet in ihrem inte­gra­tiven univer­sa­lis­ti­schen Postulat, das kultu­relle Parti­ku­la­rität und Diffe­renz nicht gelten lässt, sondern neutralisiert.

Im Gegenzug zum libe­ralen Univer­sa­lismus der Aufklä­rung reagierte der natio­nal­kon­ser­va­tive Diskurs der „Juden­frage“ seit rund 1850 auf die Eman­zi­pa­tion der Juden aller­dings nicht univer­sa­li­sie­rend, neutra­li­sie­rend, inklusiv, sondern viel­mehr ausgren­zend. Mit politisch-theologischem Affekt gegen die Juden argu­men­tierte etwa der rechts­he­ge­lia­ni­sche Theo­loge Bruno Bauer in Die Juden­frage (1843), indem er die Eman­zi­pa­tion mit der Behaup­tung mangelnder Assi­mi­la­ti­ons­be­reit­schaft der Juden im „christ­li­chen Staat“ in Frage stellte und sie damit zugleich – zynisch – für den Juden­hass selber verant­wort­lich machte. Während alle anderen Völker sich entwi­ckelten, zeich­neten sich die Juden durch einen grund­sätz­li­chen „Mangel an geschicht­li­cher Entwick­lungs­fä­hig­keit“ aus, ein „statio­näres Volks­wesen“, das sie letzt­lich immer als „Fremd­linge“ par excel­lence erscheinen lässt. Die politisch-theologische Anpas­sungs­for­de­rung an die Juden „im christ­li­chen Staat“ war daher um so massiver; sie zielt auf Selbst­auf­lö­sung: „sich zu einem Nicht-Volk zu machen. […] für sich selbst soll es […] Nichts seyn.“ „[…] ihre boden­lose Natio­na­lität müssen sie zum Opfer bringen, ehe sie sich auch nur im Entfern­testen in Stande setzen können, an wirk­li­chen Staats- und Volks­an­ge­le­gen­heiten aufrichtig und ohne geheimen Vorbe­halt Theil zu nehmen.“

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Quelle: http://www.quest-cdecjournal.it/focus.php?id=307

Quelle: quest-cdecjournal.it

Dieses massive Assi­mi­la­ti­ons­pos­tulat gehörte zum Diskurs der „Juden­frage“ von den Grün­der­jahren bis in die NS-Zeit. Analog argu­men­tierte, um nur noch ein Beispiel zu geben, der konser­va­tive Histo­riker Hein­rich von Treit­schke in dem Essay Unsere Aussichten (1879), der in dem berüch­tigten Satz mündete: „die Juden sind unser Unglück!“. Die Beschwö­rung der neu errun­genen natio­nalen Einheit verband er mit einer Anpran­ge­rung der „natio­nalen Sonder­exis­tenz“ der Juden, denen er mangelnde Assi­mi­la­ti­ons­be­reit­schaft vorhielt und forderte, dass sie „sich den Sitten und Gedanken ihrer christ­li­chen Mitbürger“ anpassen sollten, die ihnen doch „die Rechte des Menschen und des Bürgers geschenkt“ haben. Statt­dessen „bestand man dreist auf seinem ‚Schein‘; man forderte die buch­stäb­liche Parität in Allem und Jedem und wollte nicht mehr sehen, dass wir Deut­schen denn doch ein christ­li­ches Volk sind.“ „Deutsch redende Orien­talen“ sah Treit­schke also in den Juden, die nur durch maxi­male Anpas­sungs­for­de­rung in den neuen Natio­nal­staat zu inte­grieren waren: „Sie sollen Deut­sche werden […]; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahr­tau­sende germa­ni­scher Gesit­tung ein Zeit­alter deutsch-jüdischer Misch­cultur folge.“

Rück­fall

Die gegen­wär­tigen Anpas­sungs­for­de­rungen sind offen­sicht­lich in diesen Mustern aus dem Zeit­alter der Natio­nal­staaten vorge­prägt. In ähnli­cher Weise bauen sie auf der Vorstel­lung einer homo­genen Natio­nal­kultur („Leit­kultur“), weisen kultu­relle Diffe­renz und Plura­lität („Multi­kul­tu­ra­lismus“) zurück und stellen vor diesem Hinter­grund ihre strikte Anpas­sungs­for­de­rung („Inte­gra­ti­ons­zwang“). Dem Histo­riker der Gegen­wart müssen sie daher als Nost­algie für natio­nal­staat­liche Verhält­nisse mit geschlos­senen Grenzen und homo­genen Kulturen erscheinen – als Rück­fall allemal weit hinter die euro­päi­sche Idee einer kultu­rell viel­fäl­tigen Gesell­schaft, die Assi­mi­la­tion und Inte­gra­tion auf ein Minimum redu­zieren kann.

zitierte Lite­ratur:
Harm Klue­ting (Hg.): Der Jose­phi­nismus. Ausge­wählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, Darm­stadt 1995.
Hannah Arendt: Aufklä­rung und Juden­frage, in: Zeit­schrift für Geschichte der Juden in Deutsch­land, Heft 2/3, 1932.
Bruno Bauer: Die Juden­frage, Braun­schweig 1843.
Walter Boeh­lich (Hrsg.): Der Berliner Anti­se­mi­tis­mus­streit, Frank­furt am Main 1988.