Nach dem Völkermord hat die ruandische Gesellschaft die Aufarbeitung des Geschehenen nicht der Justiz überlassen, sondern sie mit traditionellen Laiengerichten ergänzt. Deren wichtige Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit war aber staatlicher Einmischung ausgesetzt. Die Bilanz ist zwiespältig.

  • Gerd Hankel

    Gerd Hankel ist Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler. Er arbeitet als wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, assoziiert am Hamburger Institut für Sozialforschung, und ist Autor zahlreicher Publikationen zum humanitären Völkerrecht, zum Völkerstrafrecht und zum Gewaltgeschehen im afrikanischen Gebiet der Großen Seen, besonders in Ruanda.

Mehr als drei Jahre Bürger­krieg, dazu ein Völker­mord mit mindes­tens 500.000 Ermor­deten, Millionen Flücht­linge und ein Land im Schock­zu­stand, in dem vom Tod gezeich­neten Menschen, bapfuye baha­gazi, umher­irrten – wie sollte da in Ruanda eine sinn­volle Perspek­tive von Sicher­heit und Frieden eröffnet werden? Die Über­gangs­re­gie­rung, die in Ruanda nach dem Völker­mord einge­setzt wurde, signa­li­sierte durch ihre Betei­li­gung von Hutu und Tutsi Koope­ra­tion und Verstän­di­gung. Eine ihrer ersten Maßnahmen bestand darin, in den Ausweis­do­ku­menten den Hinweis auf die ethni­sche Zuge­hö­rig­keit, während des Völker­mords von buch­stäb­lich lebens­ent­schei­dender Bedeu­tung, zu strei­chen. Als nächstes ging es darum, ein weiteres Verharren des Landes in der Apoka­lypse zu verhin­dern. Finan­zi­elle Hilfe aus dem Ausland sollte den wirt­schaft­li­chen Wieder­aufbau ermög­li­chen – und dies gelang auch, wie die folgenden Jahre eindrucks­voll zeigten.

Die Rolle der Justiz

Der staat­liche Wieder­aufbau jedoch sollte allein Sache Ruandas sein. Im Vorder­grund stand dabei die Justiz. Schon während des Völker­mords hatte die Ruan­di­sche Patrio­ti­sche Front gefor­dert, dass die für den Völker­mord Verant­wort­li­chen vor Gericht gestellt werden müssten. Alle, Hutu wie Tutsi, wollten keinen Zweifel daran lassen, dass das künf­tige Ruanda nicht mit der Hypo­thek unge­sühnter Verbre­chen belastet sein dürfte.

Der Inter­na­tio­nale Straf­ge­richtshof für Ruanda, im Herbst 1994 durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats einge­setzt, spielte dabei nur eine Neben­rolle. Als Instru­ment der UN wahr­ge­nommen, die den Völker­mord nicht verhin­dert hatte, und zudem mit einem Budget ausge­stattet, das Eigen­in­ter­essen und nicht der Verfah­rens­be­schleu­ni­gung diente, galt er in Ruanda als eine reali­täts­ferne Einrich­tung. Man vertraute daher auf die eigene Justiz.

Ziviles Gacaca-Gericht, Quelle: rwandajournal.blogspot.com

Ende August 1996 wurde vom ruan­di­schen Über­gangs­par­la­ment das erste Gesetz verab­schiedet, das eine straf­recht­liche Ahndung von Völker­mord­ver­bre­chen und Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit ermög­li­chen sollte. Die Höchst­strafe konnte auf den Tod lauten, doch bestand gene­rell die Möglich­keit, die Strafe durch ein frühes Geständnis erheb­lich zu mildern.

Unum­stritten war der justi­zi­elle Weg nicht – trotz regel­mä­ßiger Bekennt­nisse zu der einheits- und frie­dens­bil­denden Kraft der Justiz. Beson­ders die Straf­mil­de­rungen wurden von Über­le­benden und Abge­ord­neten als viel zu groß­zügig, als eine nur notdürftig kaschierte Form der Amnestie kriti­siert. Sie forderten höhere Strafen vor allem für Völker­mord­ver­bre­chen, um diese nicht mit jenen Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit gleich­zu­stellen, die aus anderen Gründen als dem ethni­schen Vernich­tungs­willen began­genen worden waren. Als ob sie diese Stimmen besänf­tigen wollte, boten die ruan­di­schen Justiz­be­hörden der Öffent­lich­keit am 24. April 1998 ein beson­deres Schau­spiel: 21 Männer und eine Frau wurden auf Plätzen oder in Stadien im Norden, Süden, Osten und Westen des Landes erschossen. Sie waren von den Sonder­kam­mern in Gerichts­ver­fahren, die in aller Kürze eine vorher fest­ste­hende Schuld bestä­tigt hatten, zum Tode verur­teilt worden.

Wenn auch nicht de facto, so doch poten­tiell ähnlich lebens­be­dro­hend war ein anderes Problem, das täglich größer wurde. Nach Ruanda zurück­keh­rende Hutu-Flüchtlinge, die der Teil­nahme am Völker­mord beschul­digt wurden, ließen die Zahl der Gefäng­nis­in­sassen rasant steigen. Über 120.000 waren es um die Jahr­tau­send­wende, zehnmal mehr als Haft­raum in den ohnehin deso­laten ruan­di­schen Gefäng­nissen vorhanden war. Weiterhin ausschließ­lich auf die Tätig­keit der Sonder­kam­mern zu setzen – die Abwick­lung der Verfahren hätten wohl hundert Jahre gedauert –, wäre einem sicheren Todes­ur­teil für die aller­meisten Häft­linge in der Haft gleich­ge­kommen. Und selbst wenn die durch­schnitt­liche Zahl von jähr­lich rund 600 Verfahren um ein Mehr­fa­ches erhöht worden wäre, hätte es leicht länger als ein Menschen­leben gedauert, bis alle Verfahren eröffnet worden wären.

Gacaca-Gerichte

Die Lösung für diese menschen­un­wür­dige Situa­tion erhoffte man sich von einer Justiz, die ohne über­mä­ßigen Aufwand in genü­gend großer Zahl insti­tu­tio­na­li­siert werden konnte. Diese Justiz war Gacaca (die Buch­staben „c“ im Wort „Gacaca“ werden ausge­spro­chen wie das „ch“ im engli­schen „church“), eine schon in vorko­lo­nialer Zeit prak­ti­zierte Form der einver­nehm­li­chen Streit­schlich­tung, die auf einem zentralen Platz und im Freien statt­fand (Gacaca bedeutet auf Deutsch „Gras“). Es handelt sich um eine parti­zi­pa­tive Justiz, die unter dem Vorsitz eines Inyangamu­gayo, eines weisen Mannes, und in einem Prozess von Rede und Gegen­rede einen Konflikt so zu lösen versucht, so dass der Frieden inner­halb der Gruppe – gewöhn­lich einer Groß­fa­milie oder eines Clans – wieder­her­ge­stellt wurde. Das war möglich, weil die Auto­rität von Gacaca auf der Einsicht in die Notwen­dig­keit einer intakten Gemein­schaft beruhte. Ubuntu wird diese wech­sel­sei­tige Abhän­gig­keit zwischen dem Einzelnen und der Gemein­schaft genannt.

Trans­pa­rent Gacaca; Quelle: rwandajournal.blogspot.com

Nach einer Pilot­phase, die 2002 an ausge­wählten Orten begann und 2004 zu Ende ging, wurden in allen der fast 10.000 Zellen und rund 1.500 Sektoren Ruandas Gacaca-Gerichte einge­richtet. Die lokale Bevöl­ke­rung wählte ihre Gacaca-Richter und, erst­mals, auch Rich­te­rinnen (mehr als ein Drittel der Richter waren Frauen). Welches Gericht zuständig war, rich­tete sich nach der Tatschwere. Auf der Ebene der Zelle waren die Gerichte zuständig für Vermö­gens­de­likte wie Sach­be­schä­di­gung oder Plün­de­rung. Ging es um Totschlag, Mord oder um die Verbre­chen der sexu­ellen Folter oder der Verge­wal­ti­gung, waren die Gerichte in den Sektoren zuständig (bei den beiden letzt­ge­nannten Taten konnte die Verhand­lung ausnahms­weise in einem Gerichts­saal unter Ausschluss der Öffent­lich­keit stattfinden).

Das mate­ri­elle Recht, das die Gacaca-Gerichte anwen­deten, war mehr oder weniger jenes der früheren Verfahren. Blickt man jedoch auf die Strafen, die Gacaca-Gerichte verhängen konnten, zeigt sich schnell, dass und wie dem tradi­tio­nellen Gacaca-Ansatz Rech­nung getragen werden sollte. Wer seine Taten gestand und sich für sie gegen­über der lokalen Bevöl­ke­rung in glaub­hafter Form entschul­digte, sollte eine Straf­mil­de­rung erhalten können. Diese konnte desto größer ausfallen, je früher der Beschul­digte gestand und bereute. So erhielt ein Mörder, auch ein mehr­fa­cher, im güns­tigsten Fall, d.h. wenn das von Reue beglei­tete Geständnis abge­legt wurde, bevor sich die Gacaca-Justiz mit dem konkreten Tatvor­wurf beschäf­tigte, eine Frei­heits­strafe von nur wenigen Jahren. Und schließ­lich kamen gestän­dige Täter in den Genuss einer groß­zü­gigen Bewährungs- und Strafersatzregelung.

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Eine ambi­va­lente Bilanz

Als im Juni 2012 die Gacaca-Gerichte zur Ahndung von Völker­mord­ver­bre­chen nach genau zehn Jahren ihre Tätig­keit einstellten, hatten sie sich mit fast zwei Millionen Tatvor­würfen befasst, die sich in ihrer großen Mehr­heit auf die drei Monate des Völker­mords bezogen. Sie spra­chen ca. eine Million Urteile, die in ihrer großen Mehr­heit männ­liche Ange­klagte betrafen (90 Prozent). Wie viele Ange­klagte frei­ge­spro­chen wurden, ist nicht genau bekannt. Schät­zungen zufolge sollen es, von Tatvor­wurf zu Tatvor­wurf vari­ie­rend, im Durch­schnitt rund 15 Prozent gewesen sein.

Aber hat Gacaca die in sie gesetzten Hoff­nungen als eine Form der Justiz erfüllt, die dazu beitragen sollte, „ubuntu“ wieder­her­zu­stellen oder zumin­dest die Voraus­set­zung für ein neues, sozial geeintes und fried­li­ches Ruanda geschaffen?

Trotz des fürch­ter­li­chen Hinter­grunds von Massen­mord und Zerstö­rung hatten Täter etliche Male den Mut, ihre Taten zu gestehen und um Verzei­hung zu bitten. Und Opfer bzw. Über­le­bende hatten oftmals den wohl noch viel größeren Mut, die Bitte um Verzei­hung anzu­nehmen und sich auf ein perspek­ti­vi­sches Zusam­men­leben mit den Tätern einzu­lassen. So gesehen war Gacaca also erfolg­reich. Wegen seiner tradi­tio­nellen Veran­ke­rung bot es den gesell­schaft­lich akzep­tierten Rahmen, die tiefe, durch Krieg und Völker­mord geschla­gene Kluft zwischen Hutu und Tutsi zu überwinden.

Akten im Gacaca Docu­men­ta­tion Centre, die einge­scannt und digi­ta­li­siert werden; Quelle: youtube.com

Doch das ist nur die eine Seite der Gacaca-Justiz. Die andere ist längst nicht so strah­lend und droht auf die posi­tive Seite von Gacaca eine Schatten zu werfen, der so dunkel ist, dass er das gesamte Unter­nehmen zu diskre­di­tieren vermag. Um diesen Schatten zu erkennen und zu verstehen, müssen wir die indi­vi­du­elle, zwischen­mensch­li­chen Ebene zwischen Täter und Opfer verlassen und uns dem poli­ti­schen Rahmen zuwenden, der die Bedin­gungen vorgab, unter denen die Gacaca-Verfahren statt­fanden. Er lässt sich im Wesent­li­chen durch drei Punkte charakterisieren:

Der erste bezieht sich auf die Täter-Opfer-Wahrnehmung. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Opfer des Völker­mords Tutsi und die Täter Hutu waren. Ebenso wenig aber besteht ein Zweifel daran, dass während des Krieges und auch während des Völker­mords viele Hutu, und mitnichten nur die Täter, von den Soldaten der Rebel­len­armee getötet worden sind (die Zahlen schwanken zwischen 30.000 und 100.000 Menschen). Vergli­chen mit den Hundert­tau­senden von Völker­mord­op­fern mag das eine kleine Zahl sein, doch ist sie groß genug, um den Wunsch nach Aner­ken­nung der eigenen Opfer entstehen zu lassen. Abge­sehen von einigen, vor Mili­tär­ge­richten mit großer Nach­sicht durch­ge­führten Verfahren gegen Ange­hö­rige der Rebel­len­armee (die später in Befrei­ungs­armee umbe­nannt wurde), ist in der Gacaca-Justiz nichts geschehen, was diesem Wunsch entge­gen­ge­kommen wäre. Es hat nicht ein einziges Verfahren wegen der Ermor­dung von Hutu gegeben – ein Versäumnis, das gerade vor dem Hinter­grund der span­nungs­rei­chen Hutu-Tutsi-Geschichte und der heutigen Erfor­der­nissen des Zusam­men­le­bens in einem Land umso schwerer wiegt.

Der zweite Punkt betrifft das Narrativ, das sich um dieses Versäumnis gebildet hat. Es wurde vor allem durch zwei Kriege gefes­tigt, die Ruanda 1996 und zwischen 1998 und 2002/03 auf dem Boden der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo geführt hatte und in deren Verlauf wahr­schein­lich mehrere Hundert­tau­send ruan­di­sche Hutu-Flüchtlinge getötet wurden. Selbst der Tatvor­wurf des Völker­mords steht nach einem UN-Bericht von 2010 im Raum. Dass für diese Morde niemand aus der ruan­di­schen Armee oder Politik die Verant­wor­tung über­nehmen musste, ja, dass allein schon ihre Erwäh­nung zu einem straf­be­wehrten Tabu wurde, machte für die über­große Mehr­heit der Ruander die Gacaca-Justiz, die in zeit­li­cher Hinsicht für diese Verbre­chen gar nicht zuständig war (sie erstreckte sich auf den Tatzeit­raum 1.10.1990-31.12.1994), rück­bli­ckend gleich­wohl pauschal und endgültig zu einer Siegerjustiz.

Eine Kultur des Gehorsams

Daraus folgt schließ­lich der dritte Punkt. Er könnte mit „Kultur des Gehor­sams“ über­schrieben werden, eigent­lich eine Unkultur, die bereits während des Völker­mords, als Mord­be­fehle klaglos ausge­führt wurden, eine verhäng­nis­volle Rolle spielte. Diese „Kultur des Gehor­sams“ hätte durch Gacaca aufge­bro­chen und in ihrer Frag­wür­dig­keit allen Ruan­dern demons­triert werden können. Doch statt­dessen fanden immer wieder Gerichts­ver­fahren statt, in denen die über­ge­ord­nete Wahr­heit von vorn­herein fest­stand; Zeugen wurden einge­schüch­tert; eine Vertei­di­gung war oftmals abwe­send; Urteile standen im Ruch der Willkür und wurden dem Verur­teilten nicht zugäng­lich gemacht. Kurzum, anstelle eines tatsäch­li­chen Stre­bens nach Gerech­tig­keit fand hier nur eine Insze­nie­rung derselben statt. Und fata­ler­weise hat diese Insze­nie­rung das Gesamt­ur­teil über die Gacaca-Justiz geprägt, auch wenn es viele Verfahren gegeben hat, in denen die Laien­richter und Laien­rich­te­rinnen ernst­haft versucht haben, Opfern wie Tätern Gerech­tig­keit wider­fahren zu lassen. Doch ein Justiz­system, das Einfluss­nahme und Willkür duldet, beschä­digt sich letzt­lich ganz erheb­lich selbst.

Heute herr­schen in Ruanda Frieden und eine wirt­schaft­liche Situa­tion, um die seine Nach­barn es beneiden. Aus der Perspek­tive der Geber­länder gilt das Land als Leucht­turm der Entwick­lung im subsa­ha­ri­schen Afrika. Das sind wich­tige Faktoren, die sich die Regie­rung zugute schreiben kann. Ande­rer­seits aber hat sich der ruan­di­sche Staat die Geschichte, ihre Bewer­tung und Behand­lung ange­eignet. Solange sich die Bevöl­ke­rung darin wieder­findet, ist das völlig unpro­ble­ma­tisch. Zu einem Problem wird es erst dann, wenn sich indi­vi­du­elle Erfah­rung, dadurch begrün­dete Hoff­nung und staat­liche Politik in immer größeren Schritten vonein­ander entfernen.

Die dann unwei­ger­lich einset­zenden kriti­schen Stimmen und Proteste kann der Staat mit seinem Macht­mo­nopol zwar zu unter­drü­cken versu­chen – und der ruan­di­sche Sicher­heits­ap­parat scheut inzwi­schen vor keiner bekannten Methode der Repres­sion zurück. Der innere Frieden, dessen dieser Staat sich rühmt, steht damit jedoch auf tönernen Füßen. Daran ändern auch die bei jedem Gedenktag zu hörenden und so wohl­klin­genden Worte wie Wahr­heit, Einheit oder Versöh­nung nichts.