Man kann Völkermorde miteinander vergleichen – aber sind deshalb alle Genozide immer „das Gleiche“? Und war daher der Völkermord in Ruanda ein „afrikanischer Holocaust“? Es gibt gute Gründe, einer solchen Sichtweise zu widersprechen und zu versuchen, die unterschiedlichen Geschichten dieser Massenverbrechen zu rekonstruieren.

  • Gerd Hankel

    Gerd Hankel ist Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler. Er arbeitet als wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, assoziiert am Hamburger Institut für Sozialforschung, und ist Autor zahlreicher Publikationen zum humanitären Völkerrecht, zum Völkerstrafrecht und zum Gewaltgeschehen im afrikanischen Gebiet der Großen Seen, besonders in Ruanda.

Wer Genozid sagt, will Eindeu­tig­keit. In dem Buch von Esther Muja­wayo, einer Über­le­benden des ruan­di­schen Völker­mords, und der Jour­na­listin Souâd Belhaddad (SurVi­vantes. Rwanda, dix ans après le géno­cide, 2004) wird auf den letzten Seiten noch eine dritte Person in das gemein­same Gespräch einbe­zogen: die Fran­zösin Simone Veil, die Ausch­witz und Bergen-Belsen über­lebt hatte. Beide Völker­mord­über­le­bende, so der Text einlei­tend, verbinde das Schicksal, die mons­tröse Univer­sa­lität der größten Tragö­dien unserer jüngsten Geschichte erlebt haben zu müssen. Was dies konkret bedeutet, im tägli­chen Leben, in der Familie, in der Sicht auf die Umwelt und sich selbst, entwi­ckeln Esther Muja­wayo und Simone Veil in ihrem Gespräch. Es ist ein ständig wieder­keh­rendes Erleben von Desin­ter­esse, Ableh­nung, Hilf­lo­sig­keit, Schweigen, Selbst­zweifel und schwie­rigen, schmerz­haften Redeversuchen.

Verlei­hung Bremer Soli­da­ri­täts­preis 2015 an Esther Mujawayo-Keiner (Mitte) durch Bürger­meister Jens Böhrnsen

Beide sind Opfer eines Verbre­chens geworden, das ihnen und Millionen anderen wegen ihres Tutsi- bezie­hungs­weise Jüdin-Seins das Lebens­recht abge­spro­chen hat, und beide sind Opfer geblieben. Einem kollek­tiven Vernich­tungs­willen ausge­setzt gewesen zu sein, ist eine Erfah­rung, die sie nicht mehr loslässt. Und es ist etwas, was die schreck­liche Beson­der­heit des erfah­renen Unrechts ausmacht. Ein Völker­mord, sagen sie über­ein­stim­mend, sei nicht mit anderen Verbre­chen gleich­zu­setzen, darin bestärkt von der Gesprächs­mo­de­ra­torin Souâd Belhaddad, für die die vorschnelle Charak­te­ri­sie­rung anderer Konflikte als Völker­mord, so barba­risch der Konflikt auch sein mag, eine Form von Rela­ti­vie­rung des Völker­mord­ver­bre­chens darstellt. „Keine Rela­ti­vie­rung“, das sei ein grund­le­gendes Prinzip des langen Gesprächs zwischen ihr und Esther Muja­wayo gewesen, zusammen mit einem zweiten, nicht minder grund­le­gendem: Nicht nach dem Grund für den Genozid zu fragen. „Wir wollten nicht versu­chen zu verstehen“, sagt Souâd Belhaddad.

Die Deutungs­au­torität von Opfererzählungen

Aus der Perspek­tive des Opfers ist diese Haltung verständ­lich und man neigt dazu, sie bereit­willig hinzu­nehmen. Wer wollte auch dem Opfer schlimmster Gewalt das Recht abspre­chen, das erfah­rene Unrecht als unver­gleich­lich zu empfinden und jedem – viel­leicht noch von dritter Seite heran­ge­tra­genen – Versuch des Verste­hens, also der nach­träg­li­chen Sinn­ge­bung, mit reso­luter Zurück­wei­sung zu begegnen. Auf den zweiten Blick jedoch erweist sich diese Haltung als proble­ma­tisch. Indem sie nämlich das eigene Leid absolut setzt, über­trägt sie die Abso­lut­heit der Leid­er­fah­rung auf die Erzäh­lung der Leidens­ge­schichte, das heißt auf ihr Leben als Tutsi in einem Hutu-dominierten Ruanda sowie auf ihre Wahr­neh­mung und Schil­de­rung der poli­ti­schen und sozialen Verhältnisse.

Über fast das gesamte Buch hinweg beschreibt Esther Muja­wayo ihr Leid, das sie schließ­lich, im Gespräch mit Simone Veil, in Verbin­dung setzt zu einem anderen indi­vi­du­ellen, im Holo­caust erfah­renen Leid. Die Paral­lelen, die dabei erkennbar werden, vermit­teln unwei­ger­lich den Eindruck, dass die Leidens­ge­schichte Esther Muja­wayos – denn nur diese haben wir in einzelnen, ihr bedeutsam erschei­nenden Stationen kennen gelernt –, eben­solche Paral­lelen mit der Leidens­ge­schichte Simone Veils aufweist. Der Völker­mord in Ruanda war also ‚wie der Holo­caust‘ – das ist, in den Worten des ersten Eindrucks formu­liert, die sich zwangs­läufig einstel­lende Folge­rung aus dieser Paral­le­lität. Esther Muja­wayos Erzäh­lung wird auf diese Weise im Ergebnis in drei­fa­cher Weise beglau­bigt: Zum einen durch ihr eigenes Leid, zum zweiten durch das Leid Simone Veils sowie – implizit – durch den Holo­caust. Nach­fragen sind nicht erlaubt, ein „warum“ ist nicht zulässig.

Das Proble­ma­ti­sche an diesem Vorgehen ist offen­sicht­lich. Aus dem unbe­strit­tenen Status als Opfer wird die Auto­rität zur Geschichts­dar­stel­lung und, da Darstel­lungen gewöhn­lich Worte brau­chen, Worte aber nach einem Vorver­ständnis gefunden werden, auch die Auto­rität zur Geschichts­in­ter­pre­ta­tion gefol­gert. Das eigene Schicksal wird Beweis­mittel und schützt zugleich vor kriti­schen Nach­fragen, denn diese werden leicht als Angriff auf den Wahr­heits­ge­halt des eigenen Erle­bens verstanden.

Der Grund für dieses Inein­an­der­greifen von indi­vi­du­eller und objek­tiver Ebene ist ein kultur­ge­schicht­li­ches Novum. Begin­nend mit der Reak­ti­ons­bil­dung auf die Zivi­li­sa­ti­ons­ka­ta­strophe des Holo­caust – erin­nert sei hier insbe­son­dere an die „Opfer­me­moiren“ und ihre Rezep­tion – werden Opfer­er­zäh­lungen heute mora­lisch positiv konno­tiert, und in der Folge davon hat die soziale Rolle des Opfers eine Umwer­tung erfahren. Was das Opfer mitzu­teilen hat, gilt als beson­ders wichtig und lässt ihm eine mora­li­sche und Deutungs­au­torität zuwachsen. Und diese ist eben, wegen der ihm zuge­schrie­benen Singu­la­rität, im Kontext des Holo­caust beson­ders hoch – und darum auch, wie am Schluss der Erzäh­lung Esther Muja­wayos, die Einbe­zie­hung des Holo­caust in das Gespräch über die Person Simone Veils. Wenn beide Völker­morde deut­liche Paral­lelen aufweisen, ist die Zeugen­schaft einer Über­le­benden des ruan­di­schen Völker­mords letzt­lich unhin­ter­fragbar. – So weit die den Inhalt des Gesprächs zwischen Souâd Belhaddad und Esther Muja­wayo vali­die­rende Schluss­bot­schaft des Buchs. Verständ­lich, aber doch falsch.

Ruan­di­sche Besonderheiten

Sie ist vor allem falsch, weil schon die Voraus­set­zung nicht stimmt. Der Völker­mord von Ruanda kann zwar mit dem Holo­caust vergli­chen, keines­falls jedoch mit ihm im Hinblick auf Entste­hung, Form und Verlauf der Gewalt gleich­ge­setzt werden. Er war kein afri­ka­ni­scher Holo­caust, und die ruan­di­schen Tutsi waren und sind keine afri­ka­ni­schen Juden. Es gibt Unter­schiede zwischen beiden Völker­morden, deut­liche und weniger deutliche.

Zu den Ersteren gehört, dass das Morden in Ruanda ausschließ­lich im eigenen Land  geschah, während es im Holo­caust vom Deut­schen Reich ausging und in ganz Europa statt­fand, vornehm­lich jedoch in den besetzten Gebieten Osteu­ropas. Das bedeutet auch, dass in Ruanda das Wissen um die Verbre­chen von Anfang an, vom ersten Stoß, Hieb oder Schuss an, vorhanden war. Jeder und jede konnte sehen und hören, was vor sich ging, denn es passierte in aller Öffent­lich­keit ohne einen Versuch der Verschleierung.

Zu den weniger deut­li­chen Unter­schieden gehören die jewei­ligen, auf Ausgren­zung und Vernich­tung zielenden Ideo­lo­gien. Über die NS-Ideologie und ihren zentralen Bestand­teil, den Anti­se­mi­tismus, ist dabei wenig zu sagen, da beides als bekannt voraus­ge­setzt werden kann. Auch in Ruanda wurden Tutsi mit Bezeich­nungen bedacht, die sie zu hinter­häl­tigen Feinden abstem­pelten. Inyenzi, Kaker­lake, war die wohl bekann­teste. Heim­tü­ckisch seien die Tutsi. Wenn sie angriffen, dann aus dem Hinter­halt. Schnell verschwänden sie wieder. Diese erste Bedeu­tung des Wortes schuf die Grund­lage für eine zweite: den Aufruf zur Vernich­tung der „Kaker­laken“, des Unge­zie­fers. In dieser Entwick­lung hin zum Massen­mord liegt aller­dings ein Punkt, der bereits auf den Unter­schied zwischen dem Holo­caust und dem Völker­mord in Ruanda hinweist. Er lässt sich fest­ma­chen an dem Begriff inyenzi. Dieser war über viele Jahre hinweg nicht nur negativ konno­tiert, sondern wurde auch zur stolzen Selbst­be­schrei­bung der Tutsi-Guerilla verwendet, die sich zur Bekämp­fung des Hutu-Staates Ruanda gebildet hatte. Ihre Kämpfer waren inyenzi, die nach der Flucht bezie­hungs­weise Vertrei­bung vieler Tutsi aus Ruanda in den Jahren 1959 bis 1963 versuchten, die neue Hutu-Ordnung zu desta­bi­li­sieren. Von Uganda aus griffen sie im Schutz der Dunkel­heit an und zogen sich bei Tages­an­bruch wieder über die Grenze zurück.

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Die verhäng­nis­volle Macht der Erinnerung

Anders als beim Holo­caust gab es also in Ruanda eine tatsäch­liche Bedro­hung durch Ange­hö­rige der Bevöl­ke­rungs­gruppe, die später Opfer des Völker­mords werden sollte. Die Guerilla-Aktionen der inyenzi verstärkten die Über­zeu­gung der Hutu in Ruanda, dass die in der Präkolonial- und Kolo­ni­al­zeit mäch­tigen Tutsi nichts unver­sucht lassen würden, um den Macht­ver­lust rück­gängig zu machen und den Verlauf der Geschichte zu korri­gieren (das Schicksal der Tutsi, die in Ruanda nach den Angriffen Repres­sa­lien ausge­setzt waren, schien jeden­falls ein hinzu­neh­mender Preis zu sein). Die Angst vor einer erneuten Tutsi-Herrschaft blieb eine Konstante in der ruan­di­schen Politik, mit allen auto­sug­ges­tiven Über­trei­bungen und beinahe psycho­ti­schen Anwand­lungen, die einer solchen Politik, wenn sie lang­fristig geglaubt werden soll, eigen sind.

Unglück­li­cher­weise ist diese Angst vor den Tutsi, als sie gerade deut­lich an Stärke verlor und sich für die jewei­lige Hutu­füh­rung als kontra­pro­duktiv zu erweisen begann, zweimal wieder beglau­bigt worden. Das erste Mal 1972 infolge des von Tutsi began­genen Massen­mords an zirka 200.000 Hutu im Nach­bar­land Burundi. Das zweite Mal 1993, als Tutsi den burun­di­schen Staats­prä­si­denten Melchior Ndadaye, einen Hutu, ermor­deten. Für die Radi­kalen unter den Hutu, die Vertreter einer später so genannten Hutu-Power, brauchte es da nicht viel, um das Mene­tekel einer drohenden Tutsi-Diktatur zu zeichnen: Der Mord an Ndadaye rief 1993 die Ereig­nisse von 1972 wieder in Erin­ne­rung und beide Ereig­nisse erfuhren ihre tägliche Veran­schau­li­chung durch den seit Oktober 1990 im Norden des kleinen Landes geführten Krieg und das dadurch bewirkte massen­hafte Flüchtlingselend.

Bürger­krieg und Völkermord

Damit wäre noch ein weiterer Unter­schied ange­spro­chen. Der Massen­mord an den Juden begann mit dem Beginn des Krieges gegen Polen im September 1939 und in noch stär­kerem Maß im Juni 1941, nachdem die Wehr­macht in die Sowjet­union einge­fallen war. Beide Kriege waren Angriffs­kriege, und nicht im Entfern­testen ist für sie ein objektiv vorwerf­bares jüdi­sches Verhalten ursäch­lich gewesen. In Ruanda hingegen herrschte seit dem 1. Oktober 1990 Krieg, der von einer zum aller­größten Teil aus Tutsi bestehenden Rebel­len­armee begonnen worden war. In den Jahren bis zum Völker­mord wurde die Rebel­len­armee stärker und erfolg­rei­cher. Der bis heute unge­klärte Abschuss des Präsi­den­ten­flug­zeugs am 6. April 1994 wurde so den Rebellen zuge­schrieben, die nun auch für die Ermor­dung des Staats­prä­si­denten verant­wort­lich gemacht wurden. Staats­prä­si­dent Juvénal Haby­ari­mana war die Perso­ni­fi­zie­rung der Hutu-Identität des Landes gewesen. Er war Begründer der Einheits­partei MRND (Mouve­ment révo­lu­ti­on­n­aire national pour le déve­lo­p­pe­ment / national-revolutionäre Bewe­gung für Entwick­lung), der bis 1991, bis zur Zulas­sung eines Mehr­par­tei­en­sys­tems, jeder Ruander, jede Ruan­derin von Geburt an ange­hören musste.

Sein Tod markierte den Beginn des Völker­mords: Denn prompt gingen die solcherart Ange­grif­fenen oder sich ange­griffen Fühlenden ihrer­seits zum Angriff über, besei­tigten zunächst die mode­raten Kräfte inner­halb der eigenen Bevöl­ke­rungs­gruppe und führten einen Krieg gegen Tutsi in der Weise weiter, die sie kannten, wegen der ange­nommen Bedroh­lich­keit des Angriffs jedoch mit noch rück­sicht­lo­serer Entschlos­sen­heit und totalen Vernichtungszielen.

Am Ende des Mordens, das 100 Tage andau­erte, waren mindes­tens 500.000 Tutsi tot. Erst im Norden und Osten des kleinen, nur 26.000 qkm großen Landes, dann nach einer kurzen Pause, wie um Kraft zu schöpfen für die mörde­ri­sche Arbeit (die größte Miliz der Völker­mörder nannte sich tatsäch­lich inter­ahamwe, das heißt die, die zusammen arbeiten), auch im Westen und Süden hatten extre­mis­ti­sche Hutu und ihre Helfers­helfer aus der Hutu-Bevölkerung Tutsi umge­bracht, mit zirka zwölf Prozent eine Minder­heit unter den damals unge­fähr sieben Millionen Ruan­dern. Hundert­tau­sende irrten im Land umher, mehr als zwei Millionen waren vor der vorrü­ckenden Rebel­len­armee nach Tansania und in den Kongo geflohen. Ruanda war nur noch seinen Grenzen nach ein Staat. Das eigent­lich dazu­ge­hö­rige Volk und die Staats­ge­walt exis­tierten nur noch rudi­mentär bezie­hungs­weise gar nicht mehr.

In den folgenden Jahren sollte sich zeigen, wie sehr die vermeint­liche Eindeu­tig­keit und Ausschließ­lich­keit der Täter- und Opfer­wahr­neh­mung den gesell­schaft­li­chen und staat­li­chen Neuaufbau nach­teilig beeinflusste. 

Der zweite Teil zur Aufar­bei­tung des Völker­mordes in Ruanda erscheint im April.