Wer Genozid sagt, will Eindeutigkeit. In dem Buch von Esther Mujawayo, einer Überlebenden des ruandischen Völkermords, und der Journalistin Souâd Belhaddad (SurVivantes. Rwanda, dix ans après le génocide, 2004) wird auf den letzten Seiten noch eine dritte Person in das gemeinsame Gespräch einbezogen: die Französin Simone Veil, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte. Beide Völkermordüberlebende, so der Text einleitend, verbinde das Schicksal, die monströse Universalität der größten Tragödien unserer jüngsten Geschichte erlebt haben zu müssen. Was dies konkret bedeutet, im täglichen Leben, in der Familie, in der Sicht auf die Umwelt und sich selbst, entwickeln Esther Mujawayo und Simone Veil in ihrem Gespräch. Es ist ein ständig wiederkehrendes Erleben von Desinteresse, Ablehnung, Hilflosigkeit, Schweigen, Selbstzweifel und schwierigen, schmerzhaften Redeversuchen.

Verleihung Bremer Solidaritätspreis 2015 an Esther Mujawayo-Keiner (Mitte) durch Bürgermeister Jens Böhrnsen
Beide sind Opfer eines Verbrechens geworden, das ihnen und Millionen anderen wegen ihres Tutsi- beziehungsweise Jüdin-Seins das Lebensrecht abgesprochen hat, und beide sind Opfer geblieben. Einem kollektiven Vernichtungswillen ausgesetzt gewesen zu sein, ist eine Erfahrung, die sie nicht mehr loslässt. Und es ist etwas, was die schreckliche Besonderheit des erfahrenen Unrechts ausmacht. Ein Völkermord, sagen sie übereinstimmend, sei nicht mit anderen Verbrechen gleichzusetzen, darin bestärkt von der Gesprächsmoderatorin Souâd Belhaddad, für die die vorschnelle Charakterisierung anderer Konflikte als Völkermord, so barbarisch der Konflikt auch sein mag, eine Form von Relativierung des Völkermordverbrechens darstellt. „Keine Relativierung“, das sei ein grundlegendes Prinzip des langen Gesprächs zwischen ihr und Esther Mujawayo gewesen, zusammen mit einem zweiten, nicht minder grundlegendem: Nicht nach dem Grund für den Genozid zu fragen. „Wir wollten nicht versuchen zu verstehen“, sagt Souâd Belhaddad.
Die Deutungsautorität von Opfererzählungen
Aus der Perspektive des Opfers ist diese Haltung verständlich und man neigt dazu, sie bereitwillig hinzunehmen. Wer wollte auch dem Opfer schlimmster Gewalt das Recht absprechen, das erfahrene Unrecht als unvergleichlich zu empfinden und jedem – vielleicht noch von dritter Seite herangetragenen – Versuch des Verstehens, also der nachträglichen Sinngebung, mit resoluter Zurückweisung zu begegnen. Auf den zweiten Blick jedoch erweist sich diese Haltung als problematisch. Indem sie nämlich das eigene Leid absolut setzt, überträgt sie die Absolutheit der Leiderfahrung auf die Erzählung der Leidensgeschichte, das heißt auf ihr Leben als Tutsi in einem Hutu-dominierten Ruanda sowie auf ihre Wahrnehmung und Schilderung der politischen und sozialen Verhältnisse.
Über fast das gesamte Buch hinweg beschreibt Esther Mujawayo ihr Leid, das sie schließlich, im Gespräch mit Simone Veil, in Verbindung setzt zu einem anderen individuellen, im Holocaust erfahrenen Leid. Die Parallelen, die dabei erkennbar werden, vermitteln unweigerlich den Eindruck, dass die Leidensgeschichte Esther Mujawayos – denn nur diese haben wir in einzelnen, ihr bedeutsam erscheinenden Stationen kennen gelernt –, ebensolche Parallelen mit der Leidensgeschichte Simone Veils aufweist. Der Völkermord in Ruanda war also ‚wie der Holocaust‘ – das ist, in den Worten des ersten Eindrucks formuliert, die sich zwangsläufig einstellende Folgerung aus dieser Parallelität. Esther Mujawayos Erzählung wird auf diese Weise im Ergebnis in dreifacher Weise beglaubigt: Zum einen durch ihr eigenes Leid, zum zweiten durch das Leid Simone Veils sowie – implizit – durch den Holocaust. Nachfragen sind nicht erlaubt, ein „warum“ ist nicht zulässig.
Das Problematische an diesem Vorgehen ist offensichtlich. Aus dem unbestrittenen Status als Opfer wird die Autorität zur Geschichtsdarstellung und, da Darstellungen gewöhnlich Worte brauchen, Worte aber nach einem Vorverständnis gefunden werden, auch die Autorität zur Geschichtsinterpretation gefolgert. Das eigene Schicksal wird Beweismittel und schützt zugleich vor kritischen Nachfragen, denn diese werden leicht als Angriff auf den Wahrheitsgehalt des eigenen Erlebens verstanden.
Der Grund für dieses Ineinandergreifen von individueller und objektiver Ebene ist ein kulturgeschichtliches Novum. Beginnend mit der Reaktionsbildung auf die Zivilisationskatastrophe des Holocaust – erinnert sei hier insbesondere an die „Opfermemoiren“ und ihre Rezeption – werden Opfererzählungen heute moralisch positiv konnotiert, und in der Folge davon hat die soziale Rolle des Opfers eine Umwertung erfahren. Was das Opfer mitzuteilen hat, gilt als besonders wichtig und lässt ihm eine moralische und Deutungsautorität zuwachsen. Und diese ist eben, wegen der ihm zugeschriebenen Singularität, im Kontext des Holocaust besonders hoch – und darum auch, wie am Schluss der Erzählung Esther Mujawayos, die Einbeziehung des Holocaust in das Gespräch über die Person Simone Veils. Wenn beide Völkermorde deutliche Parallelen aufweisen, ist die Zeugenschaft einer Überlebenden des ruandischen Völkermords letztlich unhinterfragbar. – So weit die den Inhalt des Gesprächs zwischen Souâd Belhaddad und Esther Mujawayo validierende Schlussbotschaft des Buchs. Verständlich, aber doch falsch.
Ruandische Besonderheiten
Sie ist vor allem falsch, weil schon die Voraussetzung nicht stimmt. Der Völkermord von Ruanda kann zwar mit dem Holocaust verglichen, keinesfalls jedoch mit ihm im Hinblick auf Entstehung, Form und Verlauf der Gewalt gleichgesetzt werden. Er war kein afrikanischer Holocaust, und die ruandischen Tutsi waren und sind keine afrikanischen Juden. Es gibt Unterschiede zwischen beiden Völkermorden, deutliche und weniger deutliche.
Zu den Ersteren gehört, dass das Morden in Ruanda ausschließlich im eigenen Land geschah, während es im Holocaust vom Deutschen Reich ausging und in ganz Europa stattfand, vornehmlich jedoch in den besetzten Gebieten Osteuropas. Das bedeutet auch, dass in Ruanda das Wissen um die Verbrechen von Anfang an, vom ersten Stoß, Hieb oder Schuss an, vorhanden war. Jeder und jede konnte sehen und hören, was vor sich ging, denn es passierte in aller Öffentlichkeit ohne einen Versuch der Verschleierung.
Zu den weniger deutlichen Unterschieden gehören die jeweiligen, auf Ausgrenzung und Vernichtung zielenden Ideologien. Über die NS-Ideologie und ihren zentralen Bestandteil, den Antisemitismus, ist dabei wenig zu sagen, da beides als bekannt vorausgesetzt werden kann. Auch in Ruanda wurden Tutsi mit Bezeichnungen bedacht, die sie zu hinterhältigen Feinden abstempelten. Inyenzi, Kakerlake, war die wohl bekannteste. Heimtückisch seien die Tutsi. Wenn sie angriffen, dann aus dem Hinterhalt. Schnell verschwänden sie wieder. Diese erste Bedeutung des Wortes schuf die Grundlage für eine zweite: den Aufruf zur Vernichtung der „Kakerlaken“, des Ungeziefers. In dieser Entwicklung hin zum Massenmord liegt allerdings ein Punkt, der bereits auf den Unterschied zwischen dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda hinweist. Er lässt sich festmachen an dem Begriff inyenzi. Dieser war über viele Jahre hinweg nicht nur negativ konnotiert, sondern wurde auch zur stolzen Selbstbeschreibung der Tutsi-Guerilla verwendet, die sich zur Bekämpfung des Hutu-Staates Ruanda gebildet hatte. Ihre Kämpfer waren inyenzi, die nach der Flucht beziehungsweise Vertreibung vieler Tutsi aus Ruanda in den Jahren 1959 bis 1963 versuchten, die neue Hutu-Ordnung zu destabilisieren. Von Uganda aus griffen sie im Schutz der Dunkelheit an und zogen sich bei Tagesanbruch wieder über die Grenze zurück.
Die verhängnisvolle Macht der Erinnerung
Anders als beim Holocaust gab es also in Ruanda eine tatsächliche Bedrohung durch Angehörige der Bevölkerungsgruppe, die später Opfer des Völkermords werden sollte. Die Guerilla-Aktionen der inyenzi verstärkten die Überzeugung der Hutu in Ruanda, dass die in der Präkolonial- und Kolonialzeit mächtigen Tutsi nichts unversucht lassen würden, um den Machtverlust rückgängig zu machen und den Verlauf der Geschichte zu korrigieren (das Schicksal der Tutsi, die in Ruanda nach den Angriffen Repressalien ausgesetzt waren, schien jedenfalls ein hinzunehmender Preis zu sein). Die Angst vor einer erneuten Tutsi-Herrschaft blieb eine Konstante in der ruandischen Politik, mit allen autosuggestiven Übertreibungen und beinahe psychotischen Anwandlungen, die einer solchen Politik, wenn sie langfristig geglaubt werden soll, eigen sind.
Unglücklicherweise ist diese Angst vor den Tutsi, als sie gerade deutlich an Stärke verlor und sich für die jeweilige Hutuführung als kontraproduktiv zu erweisen begann, zweimal wieder beglaubigt worden. Das erste Mal 1972 infolge des von Tutsi begangenen Massenmords an zirka 200.000 Hutu im Nachbarland Burundi. Das zweite Mal 1993, als Tutsi den burundischen Staatspräsidenten Melchior Ndadaye, einen Hutu, ermordeten. Für die Radikalen unter den Hutu, die Vertreter einer später so genannten Hutu-Power, brauchte es da nicht viel, um das Menetekel einer drohenden Tutsi-Diktatur zu zeichnen: Der Mord an Ndadaye rief 1993 die Ereignisse von 1972 wieder in Erinnerung und beide Ereignisse erfuhren ihre tägliche Veranschaulichung durch den seit Oktober 1990 im Norden des kleinen Landes geführten Krieg und das dadurch bewirkte massenhafte Flüchtlingselend.
Bürgerkrieg und Völkermord
Damit wäre noch ein weiterer Unterschied angesprochen. Der Massenmord an den Juden begann mit dem Beginn des Krieges gegen Polen im September 1939 und in noch stärkerem Maß im Juni 1941, nachdem die Wehrmacht in die Sowjetunion eingefallen war. Beide Kriege waren Angriffskriege, und nicht im Entferntesten ist für sie ein objektiv vorwerfbares jüdisches Verhalten ursächlich gewesen. In Ruanda hingegen herrschte seit dem 1. Oktober 1990 Krieg, der von einer zum allergrößten Teil aus Tutsi bestehenden Rebellenarmee begonnen worden war. In den Jahren bis zum Völkermord wurde die Rebellenarmee stärker und erfolgreicher. Der bis heute ungeklärte Abschuss des Präsidentenflugzeugs am 6. April 1994 wurde so den Rebellen zugeschrieben, die nun auch für die Ermordung des Staatspräsidenten verantwortlich gemacht wurden. Staatspräsident Juvénal Habyarimana war die Personifizierung der Hutu-Identität des Landes gewesen. Er war Begründer der Einheitspartei MRND (Mouvement révolutionnaire national pour le développement / national-revolutionäre Bewegung für Entwicklung), der bis 1991, bis zur Zulassung eines Mehrparteiensystems, jeder Ruander, jede Ruanderin von Geburt an angehören musste.
Sein Tod markierte den Beginn des Völkermords: Denn prompt gingen die solcherart Angegriffenen oder sich angegriffen Fühlenden ihrerseits zum Angriff über, beseitigten zunächst die moderaten Kräfte innerhalb der eigenen Bevölkerungsgruppe und führten einen Krieg gegen Tutsi in der Weise weiter, die sie kannten, wegen der angenommen Bedrohlichkeit des Angriffs jedoch mit noch rücksichtloserer Entschlossenheit und totalen Vernichtungszielen.
Am Ende des Mordens, das 100 Tage andauerte, waren mindestens 500.000 Tutsi tot. Erst im Norden und Osten des kleinen, nur 26.000 qkm großen Landes, dann nach einer kurzen Pause, wie um Kraft zu schöpfen für die mörderische Arbeit (die größte Miliz der Völkermörder nannte sich tatsächlich interahamwe, das heißt die, die zusammen arbeiten), auch im Westen und Süden hatten extremistische Hutu und ihre Helfershelfer aus der Hutu-Bevölkerung Tutsi umgebracht, mit zirka zwölf Prozent eine Minderheit unter den damals ungefähr sieben Millionen Ruandern. Hunderttausende irrten im Land umher, mehr als zwei Millionen waren vor der vorrückenden Rebellenarmee nach Tansania und in den Kongo geflohen. Ruanda war nur noch seinen Grenzen nach ein Staat. Das eigentlich dazugehörige Volk und die Staatsgewalt existierten nur noch rudimentär beziehungsweise gar nicht mehr.
In den folgenden Jahren sollte sich zeigen, wie sehr die vermeintliche Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit der Täter- und Opferwahrnehmung den gesellschaftlichen und staatlichen Neuaufbau nachteilig beeinflusste.