Vor Gott sind alle Menschen gleich – und doch leben wir in ungleichen Gesellschaften. Der gelebte Islam kennt vielschichtige Umgangsformen, um mit diesem Paradox umzugehen: Ein Augenschein aus einer ethnografischen Feldforschung in der palästinensischen Stadt Nablus.

  • Emanuel Schäublin

    Emanuel Schaeublin ist Sozialanthropologe an der ETH Zürich. Er lebte für seine ethnographische Feldforschung von 2013 bis 2014 ein Jahr in Nablus.

Die Terrasse des alten Kaffee­hauses von Nablus ist gefüllt mit Männern, die sich vom Fasten während des Tages erholen. Sie spielen Karten, trinken Tama­rin­den­saft oder Tee und geniessen die Luft, die sich in der Ramadan-Nacht über Paläs­tina allmäh­lich abkühlt. Ich sitze mit Abu Walid, einem Bekannten um die Dreissig, über einer Partie Back­gammon, als zwischen den Tischen ein alter Mann in abge­tra­genen Klei­dern auftaucht. Er streckt ein Tablett mit Scho­ko­la­de­stück­chen und Münzen über unseren Tisch. «Vielen Dank, wir brau­chen nichts. Möge Gott Dir auf die Füsse helfen!», sagt Abu Walid zu ihm und blickt ihm in die Augen. Doch der alte Mann streckt unbe­irrt das Tablett zwischen unseren Köpfen hindurch. Plötz­lich wirft ein junger Mann am anderen Ende des Tisches eine Fünf-Schekel-Münze auf das Tablett und raunt: «Nimm das und lass uns in Ruhe!» Es wird still. Dann erwi­dert der alte Mann mit lauter Stimme ‘ayb! (etwa: «schäme Dich!») und wirft die Münze auf den Tisch. Alle starren sie betreten an, während der Mann sich abwendet und zum nächsten Tisch geht.

Reichtum und Gleich­heit als Paradox

Diese Szene spielte sich im Sommer 2014 in der nord­pa­läs­ti­nen­si­schen Stadt Nablus ab. Für den Umgang mit Bedürf­tigen in der mehr­heit­lich musli­mi­schen Stadt heisst das: Gott um Unter­stüt­zung zu bitten, ist eine respekt­volle Art, eine Bitte abzu­lehnen. Eine Münze zu werfen, ohne Scho­ko­lade zu nehmen, ist hingegen beschä­mend – ‘ayb. Im gespro­chenen Arabisch markiert dieses Wort Hand­lungen oder Aussagen, die in sozialen Inter­ak­tionen als beschä­mend oder belei­di­gend empfunden werden. Der Münzen­wurf war beschä­mend, weil er die Bedürf­tig­keit des alten Mannes vor allen Anwe­senden entlarvte.

In der Szene scheint darüber hinaus ein Paradox auf. Einer­seits sind nach musli­mi­scher Auffas­sung vor Gott alle Menschen gleich und verdienen inso­fern den glei­chen Respekt. Ande­rer­seits ist Reichtum ungleich verteilt. Mit diesem Wider­spruch muss der gelebte Islam in Nablus wie andern­orts einen Umgang finden. Der Koran schreibt Muslimen vor, jedes Jahr einen Teil ihres Besitzes an mittel­lose Menschen weiter­zu­geben. Diese Pflicht heisst Zakat und führt dazu, dass die Verant­wor­tung für Leute in schwie­rigen Situa­tionen in der Gemein­schaft gestreut ist. Ohne diese Veräus­se­rung von Besitz werden Gebete wirkungslos. Wo jemand hungrig zu Bett geht, soll Gott allen Nach­barn gute Taten in seiner mora­li­schen Buch­hal­tung abziehen. Während in den letzten Jahr­zehnten trans­na­tio­nale Insti­tu­tionen entstanden sind, die Zakat welt­weit sammeln und verteilen, bleibt in der isla­mi­schen Tradi­tion das Geben in unmit­tel­barer Nähe eine Präferenz.

Nablus liegt etwa fünfzig Kilo­meter nörd­lich von Jeru­salem und ist eine von vielen konser­va­tiven Städten im Nahen Osten mit sunnitisch-muslimischer Mehr­heit, deren alltäg­liche Umgangs­formen sich an isla­mi­schen Konzepten orien­tieren. Zugleich ist der Kontext auch ein beson­derer: Seit 1967 befindet sich dieses Gebiet unter israe­li­scher Mili­tär­herr­schaft, wobei die paläs­ti­nen­si­sche Auto­no­mie­be­hörde lokale Verwal­tungs­auf­gaben über­nimmt und mit der israe­li­schen Armee eine Sicher­heits­ko­ope­ra­tion aufrecht­erhält. Die zwischen zwei Berg­rü­cken einge­bet­tete Stadt mit ihren 120’000 Einwoh­nern ist von israe­li­schen Mili­tär­basen und Sied­lungen umgeben.

Gelebter Islam und der Nahostkonflikt

Ein Mitglied des Nablus Zakat Komi­tees unter­hält sich mit einem Mann in Nablus, 2014; Foto: Jonas Opperskalski

Die Märkte der Altstadt sind bekannt für ihre Süssig­keiten. Unter den Gassen liegen berüch­tigte unter­ir­di­sche Gänge, in denen sich paläs­ti­nen­si­sche Kämpfer während der letzten Inti­fada zwischen 2000 und 2007 versteckten, um israe­li­sche Mili­tär­pa­trouillen anzu­greifen. Während der israe­li­schen Mili­tär­be­la­ge­rung der Stadt gingen viele Indus­trie­be­triebe ein. Seither darbt die Wirt­schaft. Ohne funk­tio­nie­renden Sozi­al­staat sind viele Menschen von Zakat­s­penden abhängig. In diesem Kontext florierte im gesamten West­jor­dan­land eine Viel­zahl von Zakat-Komitees, die Spenden sammelten und an Bedürf­tige verteilten. Das funk­tio­nierte relativ gut, weil es sich herum­sprach, wenn eine Insti­tu­tion korrupt war und die Leute ihre Spenden dann schlicht einer anderen Orga­ni­sa­tion gaben.

Doch auch dieses auf Tradi­tionen bauende Sozi­al­wesen geriet bald ins Visier der Konflikt­par­teien, als die paläs­ti­nen­si­sche Auto­no­mie­be­hörde begann, Zakat­flüsse in zentralen Komi­tees unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies geschah vor dem Hinter­grund des Wahl­sieges der isla­mis­ti­schen Hamas von 2006, die dank ihrer kari­ta­tiven Tätig­keiten auf Kosten der als korrupt geltenden Auto­no­mie­be­hörde Sympa­thien gewonnen hatte. Die USA und Israel übten Druck auf die Auto­no­mie­be­hörde aus; eine Macht­über­nahme der Hamas sollte verhin­dert und die Isla­misten geschwächt werden. Obwohl sie verschie­dene Fami­lien und Parteien reprä­sen­tierten, gerieten dabei die Zakat-Komitees unter Gene­ral­ver­dacht und wurden alle­samt geschlossen. Zakat­geber im In- und Ausland miss­trauten jedoch den neuen Zentral­ko­mi­tees, weil die Auto­no­mie­be­hörde ja als korrupt galt. So wurde Zakat immer mehr direkt und in bar unter den Einwoh­nern der Stadt verteilt. Obschon sich lokale paläs­ti­nen­si­sche Behörden in der Zwischen­zeit wieder dem Aufbau eines dezen­tralen Systems isla­mi­scher Sozi­al­werke widmen, sind diese direkten Gaben weiterhin wichtig. Durch sie wird Bedürf­tig­keit vor dem Blick der Öffent­lich­keit verborgen.

Zeichen­lesen und verstecktes Geben

In Nablus liest man subtile Zeichen von Not in der eigenen Umge­bung aufmerksam. Eines Tages unter­hielt ich mich mit Kamal, einem lokalen Laden­be­sitzer, in seinem Lebens­mit­tel­laden. Ein kleiner Junge kam in den Laden und fragte: «Wieviel Eier bekomme ich für zwei Schekel?» Kamal gab ihm drei Eier in einer Tüte und nahm die Münzen entgegen. Nachdem der Junge gegangen war, wandte sich Kamal zu mir: «Hast Du das gesehen? Die Familie dieses Jungen ist pleite. Sonst hätten sie ihren Jungen geschickt, um eine ganze Box Eier für einen besseren Preis zu kaufen.» Krämer wie Kamal hatten so stets einen guten Über­blick über die Armut in ihrem Quar­tier und konnten Leute, die gerne Zakat geben wollten mit den betrof­fenen Fami­lien in Kontakt setzen.

Zakat und Sadaqa-Box in einer Moschee in der Altstadt von Nablus: «Heilt eure Kranken mit Sadaqa!»; Foto: Emanuel Schäublin

Nach­barn gehen sehr diskret vor, um mittel­lose Fami­lien zu unter­stützen. Diese Art der Fürsorge heisst auf Arabisch «bede­cken» (satara) und bezeichnet zugleich das Decken der Kosten und das Verbergen von Not. «Bedeckte Fami­lien» ist ein Synonym für Fami­lien, die ihre eigenen Kosten nicht selber decken können. Ein Bedürfnis soll «gedeckt» werden, bevor es offen­sicht­lich wird, um so niemanden in Verle­gen­heit zu bringen. Die Scham­haf­tig­keit von Not kann von Armen zugleich gegen ihre wohl­ha­benden Verwandten verwendet werden. Wenn diese im Beisein von Aussen­ste­henden um Hilfe gebeten werden, müssen sie Hilfe zusi­chern. Alles andere wäre ‘ayb.

Die Leute in Nablus nehmen zum Teil grosse Mühen auf sich, um zu verhin­dern, dass die Bedürf­tig­keit ihrer Verwandten öffent­lich zur Schau gestellt wird. Layth, ein Nähma­schi­nen­ar­beiter Mitte zwanzig, machte sich oft Sorgen über die Erschei­nung seines Cousins Ahmed. Als Ahmed seinen Job verlor und depressiv wurde, brachte ihn Layth zu einem gelehrten Sufi. Doch der konnte ihn nicht heilen. Ahmed schlief den ganzen Tag in schat­tigen Ecken von Moscheen. Als Layth sah wie Ahmed so herum­lun­gerte und in die Luft starrte, wurde er wütend. Laut Layth wurde die Ange­le­gen­heit noch schlimmer: «Ahmed hat sich nicht mehr gepflegt. Wir mussten uns schämen. Mein Onkel und ich gaben Ahmed neue Kleider. Aber er weigerte sich, irgend­etwas zu verän­dern.» Es kam zum Streit zwischen Layth und Ahmed. Am Schluss musste der Sufi-Gelehrte die beiden versöhnen.

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Von Welt­bil­dern und kleinen Gesten zur Idee des Sozialstaates

Die Bedürf­nisse von Leuten ohne Geld im eigenen Umfeld zu «decken» ist nicht nur wichtig, damit die eigene Familie ihre Ehre und auto­nome Erschei­nung aufrecht­erhalten kann. Es ist auch eine Pflicht für alle guten Muslime. Zakat ist nicht bloss eine milde Gabe. Es wird als der recht­mäs­sige Anteil von Menschen in Not am Reichtum Gottes bezeichnet. Zakat soll in einer gött­li­chen Buch­hal­tung regis­triert werden. Dadurch machen die Gebenden ein «Darlehen» an Gott, welches im Dies­seits oder erst im Jenseits mehr­fach zurück­er­stattet werden soll. Die Idee einer gerechten gött­li­chen Buch­hal­tung ist nota­bene auch in die Erfin­dung euro­päi­scher Sozi­al­staaten einge­flossen. Der fran­zö­si­sche Anthro­po­loge Marcel Mauss zitierte in den 1920er Jahren Koran­verse, um ein staat­li­ches Sozi­al­wesen vorstellbar zu machen. Er schlug vor, die Verse zum Thema so zu lesen, dass man das Wort «Gott» durch «Gesell­schaft» ersetzt.

Poster in einer Moschee von Nablus mit einer Liste von guten Taten, z.B. die Unter­stüt­zung armer Fami­lien, die Muslime ausführen können, um Punkte in einer Gött­li­chen Buch­hal­tung zu gewinnen, 2014; Foto: Jonas Opperskalski

Der Anspruch nach Gleich­heit vor Gott oder das Bedürfnis nach Bezie­hungen auf Augen­höhe inner­halb einer Gesell­schaft wird in der isla­mi­schen Praxis in Nablus durch Diskre­tion gegen­über Bedürf­tigen unter­stri­chen. Gleich­zeitig ist das Verschleiern der eigenen Not ein Zeichen für die Tugend­haf­tig­keit von armen Fami­lien. Die meisten mittel­losen Fami­lien, mit denen ich geredet habe, betonen stets, dass sie sich schämen oder scheuen, jemanden um Hilfe zu fragen. Viele sehen dies als Zeichen gottes­fürch­tiger Schüch­tern­heit. Die Anthro­po­login Lila Abu-Lughod spricht in diesem Zusam­men­hang treff­lich von Scham­haf­tig­keit als Ehre der Schwachen.

Unter Frauen wech­selt Zakat während Kaffee­kränz­chen diskret die Hände. Meine Forschungs­as­sis­tentin Marah Az hat solche Zusam­men­künfte besucht und dabei in Erfah­rung gebracht, dass Frauen während gegen­sei­tiger Besuche Wohnungen und Küchen nach Zeichen von Bedürf­tig­keit inspi­zieren; ein leerer Kühl­schrank etwa kann ein Indiz dafür sein. Marah hat mir eine solche Zusam­men­kunft von verwandten und befreun­deten Frauen beschrieben. Khadija, eine der Wohl­ha­ben­deren in der Runde, wusste, dass die Gast­ge­berin in einer schwie­rigen Lage war. Vor dem Gehen legte sie unbe­merkt ein paar Bank­noten unter ein Kissen auf einem Stuhl in der Wohn­zim­mer­ecke. Auf der Türschwelle küsste Khadija die Wangen der Gast­ge­berin und flüs­terte ihr ins Ohr, dass sie etwas für sie in der Wohnung hinter­legt hatte und erklärte, wo sich die Gabe genau befand.

Dann sagte Khadija: «Gott segne dich.» – «Und Gott segne dich,» gab die Empfän­gerin zurück. Dann sagte Khadija: «Behüte Gott dich und deine Kinder.» Auch dieser Wunsch wurde erwi­dert, ehe Khadija endlich ging. Indem Khadija und die Gast­ge­berin während ihrer Verab­schie­dung Gott anriefen, traten Gegen­sei­tig­keit und Gleich­heit ins Zentrum. Dadurch wurden bei der Über­gabe von Zakat die exis­tie­renden Klas­sen­un­ter­schiede kurz in den Schatten gestellt.

Gott als Quelle allen Reichtums

Zur Frage, ob sie ihre Gabe vor den anderen verborgen hatte, um die Empfän­gerin nicht zu beschämen, bemerkte Khadija später: «Nichts ist beschä­mend [‘ayb] an Zakat. Das gege­bene Geld kommt von Gott. Es ist nicht wirk­lich unser Geld. Es ist unsere Pflicht, es zu verteilen.» Sie spielte das Beschä­mende an offen­kun­diger Not herunter, auch wenn ihre Hand­lung das Gegen­teil sugge­rierte. In einem Versuch, die Gleich­heit aller vor Gott zu unter­strei­chen, betonte Khadija in einer Demons­tra­tion von Beschei­den­heit und Gottes­furcht, dass wir alle ledig­lich Kanäle seien, durch die Gott Geld und Güter fliessen lasse. Laut dem Koran ist nämlich Gott die Quelle allen Reichtums.

David Henig, der die isla­mi­sche Praxis des Gebens im länd­li­chen Bosnien erforscht hat, schlägt vor, musli­mi­sches Leben als ein perma­nentes Fliessen von Gottes Segen, Geld, Verdienst und Gross­zü­gig­keit zu verstehen. Dies ermög­licht es Menschen, die poli­tisch und ökono­misch repres­siven Struk­turen ausge­setzt sind – und gerade im Nahen Osten ist das eher die Regel als die Ausnahme –, Selbst­wert­ge­fühl und Gemein­schafts­sinn aufrecht zu erhalten. Zakat ist flexibel. Wenn insti­tu­tio­nelle Kanäle blockiert werden, findet es neue Rinn­sale, in denen es fliesst.

Die Heraus­for­de­rung in Trans­ak­tionen von Zakat liegt darin, sie so erscheinen zu lassen, als ob Geber und Empfänger vor Gott gleich sind. Der unter­schied­liche Zugang zu Reichtum muss unsichtbar gemacht werden. Dabei spielen Frauen eine wich­tige Rolle, in dem sie ihren Männern helfen, Zakat­gaben zu anony­mi­sieren. Der Laden­be­sitzer Kamal erzählte mir eine Geschichte über einen ehema­ligen Schul­freund, der in Geldnot geraten war und seine Familie nur noch mit grosser Mühe versorgen konnte. Mitten im Ramadan sandte Kamal ihm neue Kleider für seine Kinder. Als der Freund heraus­fand, woher die Kleider kamen, schickte er sie umge­hend zurück. Niemand sollte glauben, dass er bedürftig war. Kamal kaufte neue Kleider und gab sie seiner Frau, die einen diskreten Weg fand, die Kleider dem Schul­freund ihres Mannes zukommen zu lassen, ohne dass dieser den Ursprung der Gabe erahnen konnte. Erst jetzt nahm er die Gabe an.

 

Alle Namen sind anonymisiert.
Dieser Text erscheint in Koope­ra­tion mit dem Pilot-Blog der Schwei­ze­ri­schen Gesell­schaft Mitt­lerer Osten und Isla­mi­sche Kulturen (SGMOIK), die junge Forschende im Bereich Wissen­schafts­kom­mu­ni­ka­tion fördert.