Hört auf mit Euren Geschichten!“ – so mahnte Lukas Bärfuss kürzlich in der Republik. Der Fall Relotius war einer der Auslöser für den gleichnamigen Artikel. Er steht in einer Reihe mit anderen Feuilleton-Beiträgen, die sich in letzter Zeit kritisch mit dem Phänomen ‚Storytelling‘ – dem auf Spannungserzeugung beruhenden und auf Merkbarkeit zielenden Erzählen von Geschichten – im Journalismus befasst haben.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel legte bekanntlich im vergangenen Dezember offen, dass der im eigenen Haus beschäftigte Claas Relotius in einer ganzen Reihe von Artikeln munter Tatsachen mit Fiktionen vermischte, letztere aber nicht als solche kenntlich machte. Seit Januar werden auf der Spiegel-Webseite die einzelnen Texte von Relotius einem ‚Faktencheck‘ unterzogen. Dessen Ergebnisse kann man im Einzelnen nachlesen.
Darf man im Journalismus nun keine Geschichten mehr erzählen, kein Storytelling mehr betreiben? Die Frage wurde unterschiedlich beantwortet. Im Spektrum möglicher Antworten steht Bärfuss an dem einen Ende: Storytelling wird grundsätzlich verdächtigt, im Journalismus fehl am Platz zu sein, weil es dort nicht um Geschichten gehen solle, sondern um Tatsachen. Bärfuss wittert im Storytelling insgesamt ein Problem, weil er (etwas gar schnell) davon ausgeht, dass Geschichten grundsätzlich eine Macht ausüben, der man sich schwer entziehen könne.

Direkt ins Hirn! Im Marketing ist Storytelling besonders beliebt. Von den kruden Modellen sollte man sich hingegen nicht irreführen lassen. Quelle: blog.culturaldetective.com
Gleichzeitig geht Bärfuss aber von einem bestimmten Verständnis von Tatsachen aus: Tatsachen verbinden sich ihm zufolge nicht von sich aus mit anderen Tatsachen (oder Nicht-Tatsachen, wie man ergänzen müsste). Sondern es sind – unter anderem, aber für den Journalismus vital – Geschichten, die solche Verbindungen herstellen. Dabei stellen Geschichten solche Verbindungen auch dort her, wo es zwischen dem, was an Tatsachen vorliegt (oder nicht vorliegt), gar keine kausalen oder auch nur logischen Verbindungen gibt.
Am anderen Ende des Spektrums stehen Antworten und Stellungnahmen wie diejenigen von Andreas Wolfers, Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg, der in einem Artikel in der ZEIT auf den schlichten Umstand aufmerksam macht, dass es sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, mit Tatsachen umzugehen. Man kann sie miteinander verbinden, schildern, unerwähnt lassen – oder verfälschen. Nicht die Geschichten seien das Problem, sondern diejenigen Geschichten, die – es geht in dem Beitrag von Wolfers spezifisch um das Genre der Reportage – Erfindungen als Tatsachen ausgeben.
Zu Recht wiederum wies Kaspar Surber in der WOZ darauf hin, dass allerdings gerade das Storytelling, so wie es „an Journalismusschulen gelehrt und an Weiterbildungsanlässen diskutiert“ werde und „in den letzten Jahren einen eigentlichen Siegeszug erlebt“ habe, dazu verführt, im „Weltdurcheinander“ eine erzählerische Ordnung zu etablieren, die Orientierung verspricht.
Die Pointe bei der Etablierung solcher Ordnungen: Das gelingt auch dann ganz flott, wenn eine solche Orientierung nichts mehr mit Tatsachen zu tun hat, die sich überprüfen lassen. Es ist zudem ökonomisch günstiger, etwas zu erfinden als aufwendig zu recherchieren. Wird außerdem das Storytelling in der journalistischen Praxis dominant, geraten Formen der journalistischen Analyse aus dem Blick, die nicht persönliche Machenschaften oder Schicksale verfolgen, sondern auf überprüfbare und oft genug hinlänglich bekannte Tatsachen und Sachverhalte rekurrieren, diese auswerten und kommentieren.
Wohin denn nun mit dem Storytelling?
In der Forderung nach Offenlegung der eigenen Recherchearbeit – auch und gerade der Grenzen und Unsicherheiten, denen man in der journalistischen Arbeit begegnet – treffen sich wiederum viele der Stellungnahmen zum ‚Fall Relotius‘ (auch jene von Surber und Wolfers). Das ist gut so. Denn der ‚Fall‘ von Relotius, der auch als Absturz zu lesen ist, wird garantiert kein Einzelfall gewesen sein. Im SZ Magazin bahnte sich vor kurzem schon der nächste Skandal an.
Allmählich zeichnet sich hier allerdings ein Muster ab, von dem zu hoffen ist, dass es schnell Ermüdungserscheinungen zeitigen und nicht noch weitere Klickzahlen generieren wird: Es werden nämlich die Geschichten der eigenen redaktionellen Versäumnisse, der Hintergründe und Folgen, selbst zur interessanten Story aufbereitet. Sollte sich das alles nicht wie ein Kriminalroman lesen lassen? Leider steht zu befürchten, dass früher oder später auch die Akteure selbst noch ihre ‚Hintergrundgeschichte‘, ihre Geständnisse und Beichten an den Mann oder die Frau bringen werden: „Ich habe gelogen!“
Das Problem dieser Art von Storytelling, die in den Entdecker-, Bekenntnis- und Betroffenheitsgeschichten der Redaktionsstuben nun – aus zwar guten Gründen – gegen die eigenen Fehlleistungsträger im Storytelling-Gewerbe gerichtet wird, besteht darin, dass diese Geschichten tendenziell demselben Prinzip der Sensation folgen, gegen das sie sich scheinbar wenden: Hört zu – wir haben etwas ganz Unerhörtes entdeckt!
Denn es ist gerade das anscheinend ganz Unerhörte, mit dem man in sehr vielen der semi-fiktionalen Reportagen von Claas Relotius an der Nase herumgeführt wird. ›Unwahrscheinlich, aber wahr!‹ (ja?) Das ist das Motto, und darauf zielt das Begehren jener Art von Storytelling, die längst aus dem Bereich der Regenbogenpresse in jenen der seriöser anmutenden Reportage, vor allem aber, wie bei Relotius, in jenen der unfreiwilligen Reportage-Persiflage eingewandert ist.
Intermezzo mit Friedrich Dürrenmatt
1980 wurde der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt von dem Journalisten André Müller interviewt. Dieser gab aus, das Interview für DIE ZEIT zu führen. Im Nachhinein erschien zwar tatsächlich ein Dürrenmatt-Beitrag von Müller in der ZEIT (hier nachzulesen). Das eigentliche Interview – Dürrenmatt zufolge versetzt mit erheblichen polemischen Zuspitzungen durch Müller – erschien allerdings ohne das Wissen von Dürrenmatt im Playboy (hier nachzulesen): kurz vor dem 60. Geburtstag des Schriftstellers…

Friedrich Dürrenmatt, Quelle: exlibris.ch
Dürrenmatt störte sich daraufhin weniger an den undiplomatischen, indiskreten, ja auch beleidigenden Aussagen (vor allem gegenüber Schriftstellerkollegen), die er in dem gedruckten Interview als seine Aussagen vorfand, sondern vor allem am Etikettenschwindel, der dem ganzen Gespräch zu Grunde lag – und der weiteren Verarbeitung des Vorfalls in der Presse.
Es dauerte nicht lange, und der Spiegel witterte einen Skandal, den er selbst zum Ereignis deklarieren und verwerten konnte: In einem entsprechenden Artikel – hier im Online-Archiv nachzulesen – wurde nicht nur der „Trick“ des Journalisten ‚enthüllt‘, sondern auch vielfältigen Spekulationen über Dürrenmatts „Selbstdarstellung“ Tür und Tor geöffnet. Ein gefundenes Fressen. Auch Mutmaßungen darüber, dass der Fall noch „sorgsam untersucht“ werde, wurden in die Welt gesetzt.
In einem erst posthum veröffentlichten Interview mit Heinz Ludwig Arnold vom 7. Januar 1981 (abgedruckt im Band 3 der Gespräche) kann man nachlesen, wie Dürrenmatt, unmittelbar nach den entsprechenden Publikationen, zu der ganzen Angelegenheit Stellung nahm. Dabei richtete Dürrenmatt seine Aufmerksamkeit weniger auf Müller als vielmehr auf die Art und Weise, wie der Fall im Spiegel wiederum zum Thema und zum Skandal erklärt wurde. Dürrenmatts Hauptkritikpunkt: „Der ‚Spiegel‘ nimmt den Müller, von dem er schon weiß, wie er das fabriziert, als tolles Ereignis auf.“
Der weitere Dialog Dürrenmatts mit Arnold ist heute – mit Blick auf den ‚Fall‘ Relotius und die Frage, wie darauf zu reagieren ist – aufschlussreich. Denn am Ende stellt sich ja tatsächlich die Frage, was man in einer Zeitung, aber auch sonst, überhaupt lesen will?
Arnold: Das heißt, der ‚Spiegel‘ benutzt Situationen, die skandalträchtig sind, um den Superskandal zu machen?
Dürrenmatt: Selbstverständlich. […] Der ‚Spiegel‘ interessiert sich selbstverständlich nur für den Skandal, und den bläst er noch auf. […] Der ‚Spiegel‘ ist ein Phantom.
Arnold: Warum?
Dürrenmatt: Weil er die Zeit nicht wiedergibt.
Arnold: Weil er Fiktionen gebiert?
Dürrenmatt: Der ‚Spiegel‘ kann ja nur Fiktionen gebären.
Arnold: Dann wäre er aber ein großer Erzähler.
Dürrenmatt: Er ist ein großer Erzähler. Der ‚Spiegel‘ ist der Romancier der Deutschen. Wenn ich an die Geschichten denke, die der ‚Spiegel‘ so erfindet – vor Jahren hattest du nach der ‚Spiegel‘-Lektüre das Gefühl, in der nächsten Woche gibt es einen Krieg zwischen Rußland und China. Was hat der ‚Spiegel‘ nicht schon alles erzählt! Den ‚Spiegel‘ muß man wie einen Roman lesen […].
Arnold: Aber Romane sind doch eigentlich Geschichten, die die Wirklichkeit viel dichter, viel intensiver fassen als die Wirklichkeit ist. Ist der Begriff ‚Roman‘ für die Beschreibung dessen, was der ‚Spiegel‘ bietet, nicht viel zu hoch gegriffen?
Dürrenmatt: Schau jetzt wieder einmal mich an, ein wie höflicher Mensch ich bin. Also wenn ich ‚Roman‘ sage, meine ich Hintertreppenromane.
Der letzte Satz ist wichtig. Denn es liegt auch mit Blick auf heutige journalistische Entgleisungen nahe, Fiktion mit Literatur zu verwechseln: Kolportagen als Dichtung zu nobilitieren. Es ist offenbar attraktiv, das unlautere Vorgehen von Journalisten oder von Zeitungen, die lieber von ‚Autoren‘ sprechen und diesen dann auch bereitwillig – wie ehemals bei Tom Kummer – eine Bühne geben, als ‚literarische‘ Freiheit oder gar Qualität zu interpretieren. Mit Blick auf sich selber hat das tatsächlich bereits André Müller getan, als er 1997 im NZZ Folio auf die Frage „Sind Ihre Interviews eigentlich wörtliche Protokolle der Gespräche?“ ohne Schamempfinden wie folgt antwortete:
Aber nein. Ich mache ja Literatur. Ich stelle Zusammenhänge her, deren sich die Interviewpartner im Gespräch nicht bewusst sind, ich habe bestimmte rhythmische Vorstellungen, der Text muss eine Dramaturgie haben. Manche Aussagen muss ich heben. Und mein Part muss Spannung und Kontroverse einbringen. Der gedruckte Text ist ein Kunsttext.
Schreibratgeber und ihre Poetik
Verräterisch sind die Begriffe „Spannung“ und „Kontroverse“. Für das Storytelling sind diese Begriffe absolut zentral. Ihre Zentralstellung verdanken sie unter anderem einer Übertragungsgeschichte. Propagiert werden diese Begriffe und die entsprechenden Verfahren seit den 1940er-Jahren in Schreibratgebern US-amerikanischer Provenienz.
Das Grundprinzip dieser Schreibratgeber besteht darin, in einer Geschichte um jeden Preis Spannung zu erzeugen. Innerhalb dieser Schreibratgeberliteratur gilt das (auch von Bärfuss erwähnte) Buch The Art of Dramatic Writing (1946) von Lajos Egri als eine Art Bibel. Der vielsagende Untertitel des Buches lautet: Its Basis in the Creative Interpretation of Human Motives.

The three levels of conflict. Quelle: hwzdigital.ch
James N. Frey legte in seinem Buch How to Write a Damn Good Novel (1987) nach und hält als Grundorientierung fürs (Roman‑)Schreiben bündig fest: „Konflikt! Konflikt! Konflikt!“ Denn nur durch die Etablierung eines Konflikts könne Spannung erzeugt werden. In der Folge geht es dann darum, die Lösung des Konflikts sowohl anzustreben als auch möglichst bis ans Ende der Geschichte aufzuschieben, um so den Leser oder die Leserin bei der Stange zu halten.
Um das hinzukriegen, müssen wiederum drei weitere Prinzipien beachtet werden. Sie lassen sich alle gut in dem Buch On Writing (1995) von Sol Stein nachlesen, wobei diese Prinzipien allesamt nicht von ihm erfunden worden sind, sondern in der Ratgeberliteratur ubiquitär sind.
Das erste Prinzip: Show, don’t tell. Das heißt: Nicht auf abstrakte Weise Personen beschreiben oder den Ablauf eines Vorgangs schildern, sondern Situationen, Szenen schaffen, in denen gezeigt werden kann, was und wie etwas passiert. Das zweite Prinzip: Alles muss an einigen wenigen, möglichst ‚starken‘ oder wenigstens ‚faszinierenden‘ Charakteren gezeigt werden können. Diese dürfen gerne auch ein Geheimnis (Spannung!) in sich tragen. Das dritte Prinzip: Glaubwürdigkeit – je unwahrscheinlicher eine geschilderte Begebenheit ist, desto mehr muss dafür getan werden, dass sie im Binnenkontext einer Erzählung als wahr gelten kann.
Sol Stein hat in On Writing zwar explizit zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Schreiben unterschieden. Er sieht in letzterem aber gleichwohl dieselben Spannungsorientierungen am Werk. Implizit weist er somit darauf hin, dass die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion aus der Perspektive der leitenden Schreibprinzipien schnell einmal irrelevant werden können.
Hauptsache spannend?
Der Storytelling-Erfolg im Journalismus beruht maßgeblich darauf, dass Spannung sich in ihrer möglichen Wirkung vollkommen indifferent gegenüber der Frage verhält, ob das dabei Geschilderte auf überprüfbaren Tatsachen beruht oder nicht. Dabei kommt es offenbar leicht zu einer Umkehrreaktion: Wo die realen Vorkommnisse selbst nicht – oder nicht auf den ersten Blick – spannend sind, scheint erzählerisch nachgeholfen werden zu müssen.

Schreibratgeber, stapelweise. Quelle: swoonreads.com
Nach der Lektüre entsprechender Schreibratgeber weiß man: Spannung lässt sich über die Schilderung einer Situation, in der man in erkennbarer Weise noch nicht alles weiß, leicht erzeugen. Das gehört zum Handwerk des narrativen, also erzählenden Schreibens. An Entdeckergeschichten – wir schauen jetzt mal hinter die Kulissen! – lässt sich dieses Operieren mit Spannung besonders gut beobachten.
Ebenso groß scheint dabei aber auch die Verlockung zu sein, nicht die Realität der Suche in all ihren Unwägbarkeiten in den Fokus zu rücken, sondern projektiv-zielgerichtet dasjenige, was am Ende das erwünschte oder zumindest akzeptable Objekt oder Ergebnis diese Suche gewesen sein soll. Kasper Surber setzt bei seiner Kritik des Storytelling im Journalismus zu Recht an diesem Punkt an: Es ist nicht so, dass sich die Realität immer verbirgt und dass wir deshalb, wenn wir etwas über sie in Erfahrung bringen wollen, ›Da-Draußen‹ suchen müssen.
Schreiberinnern und Schreiber, die für Zeitungen oder Journale schreiben, müssten demnach zuerst einmal bei sich selbst anfangen: der – sehr realen – Frage, wie sie mit Dokumenten und Aussagen umgehen, wie sie den Umgang damit reflektieren und klären, die Nachprüfbarkeit ermöglichen und nicht verstellen, Leserinnen und Leser nicht für dumm verkaufen. Das lässt sich im Übrigen alles sehr gut erzählen. Und wie das möglich ist, lässt sich ausgerechnet von der Literatur lernen: von jener Literatur, die selbst nicht bloßes Storytelling betreibt, sondern das Problem der Geschichtengläubigkeit zum Thema macht. Fortsetzung folgt (hier).