Das Reizwort „klimaneutral“ ist auf dem besten Weg, nach ‚Green Economy‘, ‚nachhaltigem Wachstum‘ oder ‚Resilienz‘ zum nächsten überstrapazierten Modebegriff zu werden. Zumindest muss sich das Konzept den Vorwurf des ‚Climatewashing‘ gefallen lassen.

  • Christian Schulz

    Christian Schulz ist Wirtschaftsgeograph. Seit 2006 lehrt und forscht an der Universität Luxemburg vor allem zu Fragen der nachhaltigen Regionalentwicklung und zu postwachstumsorientierten Wirtschaftspraktiken. Er ist Mitglied der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) und leitet derzeit deren Arbeitskreis „Wohlstandsalternativen und Regionalentwicklung“.

Die welt­weit über vier­hun­dert Stand­orte der Bosch AG gelten seit 2020 als ‚klima­neu­tral‘, DPD liefert Pakete ‚klima­neu­tral‘ und Stahl von Thyssen soll bis 2030 ‚klima­neu­tral‘ werden. Diese zufäl­lige Auswahl an Fund­stü­cken der letzten Wochen lässt die Vermu­tung aufkommen, dass das Marke­ting­po­ten­tial des schil­lernden Begriffs längst erkannt ist und intensiv genutzt wird. Und der Verdacht liegt nahe, dass es hier meist nur um eine rech­ne­ri­sche Neutra­lität gehen kann, wird doch der Nach­weis der Klima­neu­tra­lität von vielen Unter­nehmen über den Erwerb von soge­nannten Minde­rungs­zer­ti­fi­katen erlangt.

Dahinter verbirgt sich ein florie­render Markt von Dienst­leis­tern, die Anteile z.B. an Auffors­tungs­maß­nahmen oder Solar­parks vornehm­lich im ‚Globalen Süden‘ anbieten, deren zerti­fi­zierte CO2-Ersparnis bzw. -Spei­che­rung mit den aktu­ellen Emis­sionen des jewei­ligen Unter­neh­mens verrechnet werden (auch als „Carbon Offset­ting“ bezeichnet). So erklärt SennAir, ein öster­rei­chi­scher Anbieter von Heli­ko­pter­flügen – darunter Heli-Skiing, Hoch­zeits­flüge und ‚Pick­nick­flüge‘ in den Alpen – seine Klima­neu­tra­lität ganz selbst­be­wusst mit dem Slogan: „Wenn wir also einen wich­tigen Helikopter-Flug machen, wird in Brasi­lien ein Baum gepflanzt und der Regen­wald gepflegt“.

Moderner Ablass­handel?

Was rech­ne­risch logisch und global gesehen sinn­voll erscheinen mag, bedarf drin­gend eines zweiten Blicks, der bald frag­wür­dige, wenn nicht sogar kontra­pro­duk­tive Aspekte sichtbar macht. Da ist zunächst die Frage der verrech­neten Einspar­maß­nahmen. Nicht zuletzt die jüngeren Enthül­lungen um das Unter­nehmen VERRA, einen der welt­weit führenden Anbieter von Klima­zer­ti­fi­katen, haben gezeigt, dass die tatsäch­liche Wirk­sam­keit der Klima­schutz­maß­nahmen bezwei­felt werden muss. So konnte die inves­ti­ga­tive Zusam­men­ar­beit von Journalist:innen des Guar­dian, der ZEIT und der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion Souce­Ma­te­rial durch aufwän­dige Recher­chen zeigen, dass 94 % der ange­rech­neten Maßnahmen im tropi­schen Regen­wald als nichtig erklärt werden müssten, da ange­nom­mene Minde­rungs­ef­fekte falsch einge­schätzt wurden. Schlimmer noch, die Berech­nungen bezogen sich nicht etwa auf Auffors­tungs­pro­jekte und ihr Poten­tial zur CO2-Spei­che­rung, sondern auf die angeb­liche Verhin­de­rung von Abhol­zungs­maß­nahmen. Es wurde ange­nommen, dass mit Zahlungen aus dem Zerti­fi­ka­te­handel Wälder erhalten werden konnten, die sonst gerodet worden wären.

Abge­sehen davon, dass sich die Bedro­hung in vielen Fällen als über­be­wertet erwies, und ‚Verhin­de­rungs­maß­nahmen‘ zum Teil mit huma­ni­tären Straf­taten einher­gingen (z.B. Vertrei­bung von Kleinbäuer:innen durch Abriss ihrer Häuser), hat dieser Ansatz einen wesent­li­chen logi­schen Haken: So wünschens­wert der Erhalt von Regen­wald­be­ständen ist, so kann er doch kaum als Kompen­sa­ti­ons­maß­nahme herhalten. Abge­sehen von klei­neren zykli­schen Zuwächsen entstehen durch den Erhalt von ausge­wach­senen Wald­be­ständen keine neuen CO2-Senken. CO2-Emis­sionen wurden also nicht mit Maßnahmen zur CO2-Spei­che­rung verrechnet, sondern mit bereits im Wald gebun­denem CO2. Das ist etwa so absurd, als würde man versu­chen, einen Bank­kredit mit Geld zu tilgen, über das man gar nicht verfügt, sondern mit Vermögen, das bereits im Besitz der kredit­ge­benden Bank ist.

Ließe sich das Problem der unrecht­mä­ßigen Zerti­fi­zie­rung viel­leicht noch durch eine unab­hän­gige Kontroll­in­stanz und verbind­liche Quali­täts­kri­te­rien lösen, so bleibt ein zentrales Problem bestehen. Die Möglich­keit des Erwerbs von „Klima­zer­ti­fi­katen“ kann den Unter­nehmen den Druck nehmen, sich um die klima­freund­li­chere Gestal­tung der eigent­li­chen Produk­ti­ons­weisen zu kümmern. Damit ist die Aussicht verbunden, durch Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen ein ‚Weiter-so‘ zu ermög­li­chen, ohne Produkte, Produk­ti­ons­ver­fahren oder Konsum­muster hinter­fragen zu müssen.

Zwar mögen verpflich­tende Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen, wie sie etwa der EU-Emissionshandel für zahl­reiche Bran­chen vorschreibt, durchaus eine Lenkungs­wir­kung entfalten und den Anpas­sungs­druck erhöhen. Die Praxis zeigt aber auch, dass dieser moderne Ablass­handel zwei­fel­hafte Auswir­kungen haben kann. Ähnlich den Gläu­bigen, die im Mittel­alter nach Zahlung für Ablass­briefe der katho­li­schen Kirche fortan ‚sünden­be­freit‘ mit einem besseren Gewissen leben konnten, so beru­higen ‚klima­neu­trale‘ Unter­nehmen ihr Gewissen durch Kompen­sa­tion – und das ihrer Kund:innen gleich mit.

Paral­lelen zur psycho­lo­gi­schen Wirkung anderer teils unge­schützter Labels wie ‚bio‘ oder ‚natür­lich‘ sind augen­fällig. Laut einer Umfrage der Verbrau­cher­zen­trale Nordrhein-Westfalen vom Sommer 2022 erwarten Verbraucher:innen beim Erwerb von als ‚klima-‚ bzw. ‚CO2-neutral‘ bezeich­neten Produkten, dass diese einem klima­freund­li­chen Produk­ti­ons­pro­zess entstammen. Der allen­falls im Klein­ge­druckten der Verpa­ckung zu findende Hinweis auf die Kompen­sa­ti­ons­praktik erfüllt diese Erwar­tungen nicht, das Label wurde daher von der Verbrau­cher­zen­trale als irre­füh­rend eingestuft.

Clima­te­washing für ein ‚Weiter-so‘

Wir haben es also nach­weis­lich mit einer neuen Form des Green­wa­shing zu tun, oder besser gesagt des Clima­te­washing. Und dieses reiht sich ein in ähnliche Stra­te­gien (etwa der ‚grünen‘ Finanz­wirt­schaft), die mit frag­wür­digen Nach­hal­tig­keits­la­bels und Kompen­sa­ti­ons­ver­fahren vor allem ein Ziel verfolgen: sich vorder­gründig dem ökolo­gi­schen Anpas­sungs­druck zu fügen – ohne zugrun­de­lie­gende Geschäfts­mo­delle zu verän­dern. Man muss nicht einmal das viel­leicht extreme Beispiel der „wich­tigen“ Pick­nick­flüge des oben genannten Helikopter-Dienstes bemühen, um dieses Ansinnen anzu­zwei­feln. Wir sind in unserem Alltag umgeben von einer Kulisse immer nach­hal­tiger bzw. klima­freund­li­cher werdender Konsum­güter, Haus­halts­ge­räte, Fahr­zeuge, Geld­an­lagen, Wohn­ge­bäude, Reise­an­ge­bote oder Unter­hal­tungs­dienste – streamt doch auch Zattoo längst ‚klima­neu­tral‘. Es gibt große Groß­un­ter­nehmen, die sich ihren Kund:innen und ihrem Personal gegen­über als zerti­fi­ziert ‚klima­neu­tral‘ preisen, aber zugleich groß­mo­to­rige Firmen­wagen finan­zieren sowie Dienst­reisen per Auto oder Flug­zeug favorisieren.

Und auch die Elek­tro­mo­bi­lität wird niemals völlig klima­neu­tral werden können, selbst wenn der Antriebs­strom einmal voll­ständig aus erneu­er­baren Ener­gie­quellen stammt. Verwen­dete Mate­ria­lien, Trans­port­wege im Produk­ti­ons­pro­zess, die nötige Verkehrs­in­fra­struktur, und nicht zuletzt das Recy­cling der Fahr­zeug­kom­po­nenten werden noch auf sehr lange Sicht mit Mehr­ver­brauch von Ressourcen und Eingriffen in den Natur­haus­halt einher­gehen. Die ökolo­gi­schen und sozialen Auswir­kungen der Lithium- und Kobalt-Gewinnung zur Batte­rie­her­stel­lung illus­trieren dies bereits beim heutigen Elektrisierungsgrad.

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Selbst jene sich klima­neu­tral nennenden Akti­vi­täten, die ganz ohne Anrech­nung von Minde­rungs­zer­ti­fi­katen auskommen, betrachten meist nicht den ganzen Produkt­le­bens­zy­klus ihrer Produkte (Liefer­ketten, Entsor­gung) oder andere vor- und nach­ge­la­gerte Auswir­kungen ihrer Akti­vi­täten. Zuge­geben, einzelne Unter­nehmen – auch die oben erwähnte Bosch AG – weisen trans­pa­rent darauf hin, dass sich ihr Klimalabel zurzeit nur auf eigene Stand­orte bezieht, nicht aber auf das gesamte zugrun­de­lie­gende Produktions- und Vertriebssystem.

Kompen­sa­tion oder Reduktion?

Und dennoch, die sugge­rierte Illu­sion der tech­ni­schen (oder rech­ne­ri­schen) Mach­bar­keit kurz­fris­tiger Klima­neu­tra­lität verstellt den Blick auf die Notwen­dig­keit grund­le­gen­derer Verän­de­rungs­pro­zesse. Der Reiz des Weiter-so lassen wenig Spiel­raum für Über­le­gungen, auf welchem Weg klima­schäd­liche Emis­sionen tatsäch­lich redu­ziert werden können. Aspekte der Suffi­zienz, also die Frage, welche Akti­vi­täten zurück­ge­fahren werden müssten, um klima­po­li­ti­sche Ziele errei­chen zu können, rücken in den Hinter­grund ange­sichts des Fokus auf Kompen­sa­tion. Mit Suffi­zienz ist hier mehr als nur indi­vi­du­eller Verzicht gemeint. Es geht viel­mehr um die in der Post­wachs­tums­de­batte gestellte Frage, in welchen Berei­chen Wachstum und damit einher­ge­hende Beein­flus­sungen des Klimas über­haupt noch möglich sein sollten, und wie demo­kra­tisch Konsens darüber erzielt werden sollte, welche Produkte, Verfahren oder Konsum­muster regu­la­to­risch einge­schränkt werden müssten und wie Fehl­an­reize durch Steu­er­nach­lässe und Subven­tionen für klima­schäd­liche Prak­tiken abge­stellt werden können. Clima­te­washing und busi­ness as usual sind hier nicht ziel­füh­rend und lenken von der Dring­lich­keit des Handelns ab. Leider kursiert aber bereits eine Stei­ge­rung des Reiz­worts klima­neu­tral: ‚klima­po­sitiv‘.