Die weltweit über vierhundert Standorte der Bosch AG gelten seit 2020 als ‚klimaneutral‘, DPD liefert Pakete ‚klimaneutral‘ und Stahl von Thyssen soll bis 2030 ‚klimaneutral‘ werden. Diese zufällige Auswahl an Fundstücken der letzten Wochen lässt die Vermutung aufkommen, dass das Marketingpotential des schillernden Begriffs längst erkannt ist und intensiv genutzt wird. Und der Verdacht liegt nahe, dass es hier meist nur um eine rechnerische Neutralität gehen kann, wird doch der Nachweis der Klimaneutralität von vielen Unternehmen über den Erwerb von sogenannten Minderungszertifikaten erlangt.
Dahinter verbirgt sich ein florierender Markt von Dienstleistern, die Anteile z.B. an Aufforstungsmaßnahmen oder Solarparks vornehmlich im ‚Globalen Süden‘ anbieten, deren zertifizierte CO2-Ersparnis bzw. -Speicherung mit den aktuellen Emissionen des jeweiligen Unternehmens verrechnet werden (auch als „Carbon Offsetting“ bezeichnet). So erklärt SennAir, ein österreichischer Anbieter von Helikopterflügen – darunter Heli-Skiing, Hochzeitsflüge und ‚Picknickflüge‘ in den Alpen – seine Klimaneutralität ganz selbstbewusst mit dem Slogan: „Wenn wir also einen wichtigen Helikopter-Flug machen, wird in Brasilien ein Baum gepflanzt und der Regenwald gepflegt“.
Moderner Ablasshandel?
Was rechnerisch logisch und global gesehen sinnvoll erscheinen mag, bedarf dringend eines zweiten Blicks, der bald fragwürdige, wenn nicht sogar kontraproduktive Aspekte sichtbar macht. Da ist zunächst die Frage der verrechneten Einsparmaßnahmen. Nicht zuletzt die jüngeren Enthüllungen um das Unternehmen VERRA, einen der weltweit führenden Anbieter von Klimazertifikaten, haben gezeigt, dass die tatsächliche Wirksamkeit der Klimaschutzmaßnahmen bezweifelt werden muss. So konnte die investigative Zusammenarbeit von Journalist:innen des Guardian, der ZEIT und der Nichtregierungsorganisation SouceMaterial durch aufwändige Recherchen zeigen, dass 94 % der angerechneten Maßnahmen im tropischen Regenwald als nichtig erklärt werden müssten, da angenommene Minderungseffekte falsch eingeschätzt wurden. Schlimmer noch, die Berechnungen bezogen sich nicht etwa auf Aufforstungsprojekte und ihr Potential zur CO2-Speicherung, sondern auf die angebliche Verhinderung von Abholzungsmaßnahmen. Es wurde angenommen, dass mit Zahlungen aus dem Zertifikatehandel Wälder erhalten werden konnten, die sonst gerodet worden wären.
Abgesehen davon, dass sich die Bedrohung in vielen Fällen als überbewertet erwies, und ‚Verhinderungsmaßnahmen‘ zum Teil mit humanitären Straftaten einhergingen (z.B. Vertreibung von Kleinbäuer:innen durch Abriss ihrer Häuser), hat dieser Ansatz einen wesentlichen logischen Haken: So wünschenswert der Erhalt von Regenwaldbeständen ist, so kann er doch kaum als Kompensationsmaßnahme herhalten. Abgesehen von kleineren zyklischen Zuwächsen entstehen durch den Erhalt von ausgewachsenen Waldbeständen keine neuen CO2-Senken. CO2-Emissionen wurden also nicht mit Maßnahmen zur CO2-Speicherung verrechnet, sondern mit bereits im Wald gebundenem CO2. Das ist etwa so absurd, als würde man versuchen, einen Bankkredit mit Geld zu tilgen, über das man gar nicht verfügt, sondern mit Vermögen, das bereits im Besitz der kreditgebenden Bank ist.
Ließe sich das Problem der unrechtmäßigen Zertifizierung vielleicht noch durch eine unabhängige Kontrollinstanz und verbindliche Qualitätskriterien lösen, so bleibt ein zentrales Problem bestehen. Die Möglichkeit des Erwerbs von „Klimazertifikaten“ kann den Unternehmen den Druck nehmen, sich um die klimafreundlichere Gestaltung der eigentlichen Produktionsweisen zu kümmern. Damit ist die Aussicht verbunden, durch Kompensationszahlungen ein ‚Weiter-so‘ zu ermöglichen, ohne Produkte, Produktionsverfahren oder Konsummuster hinterfragen zu müssen.
Zwar mögen verpflichtende Kompensationszahlungen, wie sie etwa der EU-Emissionshandel für zahlreiche Branchen vorschreibt, durchaus eine Lenkungswirkung entfalten und den Anpassungsdruck erhöhen. Die Praxis zeigt aber auch, dass dieser moderne Ablasshandel zweifelhafte Auswirkungen haben kann. Ähnlich den Gläubigen, die im Mittelalter nach Zahlung für Ablassbriefe der katholischen Kirche fortan ‚sündenbefreit‘ mit einem besseren Gewissen leben konnten, so beruhigen ‚klimaneutrale‘ Unternehmen ihr Gewissen durch Kompensation – und das ihrer Kund:innen gleich mit.
Parallelen zur psychologischen Wirkung anderer teils ungeschützter Labels wie ‚bio‘ oder ‚natürlich‘ sind augenfällig. Laut einer Umfrage der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen vom Sommer 2022 erwarten Verbraucher:innen beim Erwerb von als ‚klima-‚ bzw. ‚CO2-neutral‘ bezeichneten Produkten, dass diese einem klimafreundlichen Produktionsprozess entstammen. Der allenfalls im Kleingedruckten der Verpackung zu findende Hinweis auf die Kompensationspraktik erfüllt diese Erwartungen nicht, das Label wurde daher von der Verbraucherzentrale als irreführend eingestuft.
Climatewashing für ein ‚Weiter-so‘
Wir haben es also nachweislich mit einer neuen Form des Greenwashing zu tun, oder besser gesagt des Climatewashing. Und dieses reiht sich ein in ähnliche Strategien (etwa der ‚grünen‘ Finanzwirtschaft), die mit fragwürdigen Nachhaltigkeitslabels und Kompensationsverfahren vor allem ein Ziel verfolgen: sich vordergründig dem ökologischen Anpassungsdruck zu fügen – ohne zugrundeliegende Geschäftsmodelle zu verändern. Man muss nicht einmal das vielleicht extreme Beispiel der „wichtigen“ Picknickflüge des oben genannten Helikopter-Dienstes bemühen, um dieses Ansinnen anzuzweifeln. Wir sind in unserem Alltag umgeben von einer Kulisse immer nachhaltiger bzw. klimafreundlicher werdender Konsumgüter, Haushaltsgeräte, Fahrzeuge, Geldanlagen, Wohngebäude, Reiseangebote oder Unterhaltungsdienste – streamt doch auch Zattoo längst ‚klimaneutral‘. Es gibt große Großunternehmen, die sich ihren Kund:innen und ihrem Personal gegenüber als zertifiziert ‚klimaneutral‘ preisen, aber zugleich großmotorige Firmenwagen finanzieren sowie Dienstreisen per Auto oder Flugzeug favorisieren.
Und auch die Elektromobilität wird niemals völlig klimaneutral werden können, selbst wenn der Antriebsstrom einmal vollständig aus erneuerbaren Energiequellen stammt. Verwendete Materialien, Transportwege im Produktionsprozess, die nötige Verkehrsinfrastruktur, und nicht zuletzt das Recycling der Fahrzeugkomponenten werden noch auf sehr lange Sicht mit Mehrverbrauch von Ressourcen und Eingriffen in den Naturhaushalt einhergehen. Die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Lithium- und Kobalt-Gewinnung zur Batterieherstellung illustrieren dies bereits beim heutigen Elektrisierungsgrad.
Selbst jene sich klimaneutral nennenden Aktivitäten, die ganz ohne Anrechnung von Minderungszertifikaten auskommen, betrachten meist nicht den ganzen Produktlebenszyklus ihrer Produkte (Lieferketten, Entsorgung) oder andere vor- und nachgelagerte Auswirkungen ihrer Aktivitäten. Zugegeben, einzelne Unternehmen – auch die oben erwähnte Bosch AG – weisen transparent darauf hin, dass sich ihr Klimalabel zurzeit nur auf eigene Standorte bezieht, nicht aber auf das gesamte zugrundeliegende Produktions- und Vertriebssystem.
Kompensation oder Reduktion?
Und dennoch, die suggerierte Illusion der technischen (oder rechnerischen) Machbarkeit kurzfristiger Klimaneutralität verstellt den Blick auf die Notwendigkeit grundlegenderer Veränderungsprozesse. Der Reiz des Weiter-so lassen wenig Spielraum für Überlegungen, auf welchem Weg klimaschädliche Emissionen tatsächlich reduziert werden können. Aspekte der Suffizienz, also die Frage, welche Aktivitäten zurückgefahren werden müssten, um klimapolitische Ziele erreichen zu können, rücken in den Hintergrund angesichts des Fokus auf Kompensation. Mit Suffizienz ist hier mehr als nur individueller Verzicht gemeint. Es geht vielmehr um die in der Postwachstumsdebatte gestellte Frage, in welchen Bereichen Wachstum und damit einhergehende Beeinflussungen des Klimas überhaupt noch möglich sein sollten, und wie demokratisch Konsens darüber erzielt werden sollte, welche Produkte, Verfahren oder Konsummuster regulatorisch eingeschränkt werden müssten und wie Fehlanreize durch Steuernachlässe und Subventionen für klimaschädliche Praktiken abgestellt werden können. Climatewashing und business as usual sind hier nicht zielführend und lenken von der Dringlichkeit des Handelns ab. Leider kursiert aber bereits eine Steigerung des Reizworts klimaneutral: ‚klimapositiv‘.
Dieser Artikel müsste obligatorische Lektüre (und Diskussionsgrundlage) in den Oberstufen der Volksschule und den Gymnasien werden. Die Idee, die namentlich die deutsche FDP jetzt so vehement vertritt, dass die Wirtschaft wachsen kann und durch technische Massnahmen Klimaneutralität erreicht und dann erhalten werden kann, widerspricht jeder elementaren Logik. In einem System endlicher Ressourcen (Rohstoffe, Atmosphäre) ist ein exponentielles Wachstum nicht möglich. Und da auch Menschen im Süden ein einigermassen angenehmes Leben haben wollen und sich dabei am Norden orientieren, ist die einzige Lösung zur Erzielung eines Gleichgewichtes ein massives Zurückfahren im Norden der Produktion von Konsumgütern, die Ressourcen (Rohstoffe und Land)… Mehr anzeigen »