Ist das Leben mit den ganz wenigen edlen Dingen wirklich die Erlösung aus dem Konsum? Von Apple bis Marie Kondo gibt es die konzentrierte Klarheit und die schöne Leere nicht umsonst: Reduktion muss man sich leisten können.

  • Valentin Groebner

    Valentin Groebner lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Im März 2023 erscheint sein neues Buch zum Thema: "Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen" bei Wallstein / konstanz university press.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Reine Leere als Ware: der schöne Schein des Minimalismus
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„Goodbye, Things: On Mini­ma­list Living“ – Das Cover hatte mir gleich gefallen, als ich es in der Buch­hand­lung sah – ein leeres Zimmer, ganz in Weiss. Ein Bett, eine Brille, ein Laptop, sonst nichts. Fumio Sasaki heisst der Autor, das Buch ist 2017 in engli­scher Über­set­zung erschienen. Der Autor, erklärte der Klap­pen­text, besitze nur einige wenige Klei­dungs­stücke und Haus­halts­ge­gen­stände, „and not much else“.

Frei­heit durch Weglassen

Ich kaufte mir das Buch und fand eine ganze Reihe von Einsichten, die mir sofort einleuch­teten. Man besitze zu viel Zeug. All die vielen Bücher, die man nicht mehr lese, die Kleider, die man nicht mehr trage, die nie benutzten Gegen­stände in Regalen und Schub­laden: Die eigenen Dinge seien nicht nur einfach da, sondern komman­dierten und regierten einen. Sie seien Mitbe­wohner, denen man die Miete bezahle; sie setzten einen unter Druck. Jeder der eigenen erfüllten Wünsche von früher sei zu einem alten Ding geworden, das einen jetzt lang­weile. Was brauche man wirk­lich? Nur das Schönste. Der Rest sei Ballast. Also weg damit.

Noch berühmter als Sasaki ist die Japa­nerin Marie Kondo, die 2011 ihr erstes Buch über das Glück des Wegwer­fens heraus­brachte. Ihre „Konmari“-Methode verspricht Erlö­sung aus dem Kommerz; das Buch verkaufte sich in Japan mehr als 1,3 Millionen Mal. Auch die deut­sche Über­set­zung von 2013 – Magic Clea­ning, mit mitt­ler­weile drei Fort­set­zungs­bänden, – war ausser­or­dent­lich erfolg­reich und der Beginn ihrer inter­na­tio­nalen Karriere, mitt­ler­weile mit eigener Serie auf Netflix.

Mini­ma­lismus ist schon vor Sasaki und Kondo am Beginn des 21. Jahr­hun­derts zum neuen Mega­trend ausge­rufen worden, etwa in einem Spiegel-Artikel vom Juli 2011: „Haste nix, dann biste was“. Leere Räume und radi­kale Reduk­tion auf das eigent­lich Notwen­dige seien das neue Stil­ideal in Kali­for­nien, und die über­mäs­sige Produk­tion und Konsump­tion über­flüs­siger Waren ohnehin mutwil­lige Zerstö­rung knapper Ressourcen, vom Segen fürs Welt­klima ganz zu schweigen. Entschie­denes Wegwerfen sei radical chic und werde mit Zufrie­den­heit und höherem Status belohnt.

Aber wie neu war das? Die Über­schrift in Der Spiegel von 2011 war eine Anspie­lung auf Erich Fromms berühmtes Buch von 1976, Haben oder Sein. Die vielen Dinge machen arm von Peter Mosler hiess ein anderer deut­scher Best­seller von 1981. Noch einmal zwei Gene­ra­tionen früher hatte der Archi­tekt Bruno Taut in seinem Buch Die neue Wohnung von 1924 den „über­flüs­sigen Kissen, Decken, Nippes, Vasen, Bild­chen“ den Kampf ange­sagt. Ähnlich klang das in dem Ratgeber Der neue Haus­halt von 1926. Neun Zehntel all dessen, was an den eigenen Wänden hänge, wusste die Autorin Erna Meyer, „können wir getrost entfernen“. Der am Bauhaus tätige Archi­tekt Hannes Meyer empfahl 1926 in der eleganten Illus­trierten Uhu „nur ein Minimum an Hausrat“, um jene „Räume von beson­derer Ruhe und Klar­heit“ zu erzeugen, die der moderne über­ner­vöse Groß­stadt­mensch brauche. „Viel­leicht braucht man wirk­lich nicht mehr als ein Bett, einen Tisch und ein Gram­mo­phon, um glück­lich zu sein.“ Persön­liche Frei­heit durch Weglassen lautete diese Verheis­sung, vorge­tragen in der ersten Person Plural.

Bett, Tisch, Stuhl, Schrank – neue Sachlichkeit

Diese Visionen von Klar­heit durch Leere waren aber nicht nur sehr kompa­tibel mit dem Selbst­bild der ästhe­ti­schen Moderne; eine nüch­terne ökono­mi­sche Kompo­nente hatten sie auch. In der Wirt­schafts­krise nach Kriegs­ende und der Hyper­in­fla­tion des Jahres 1923 hatte der grösste Teil der wohl­ha­benden Mittel­schichten in Deutsch­land und Öster­reich ihr gesamtes Vermögen verloren. Eine zuvor gutsi­tu­ierte Hamburger Tage­buch­schrei­berin notierte im Spät­sommer 1923 akri­bisch, wie sie ihr Silber­be­steck und ein paar goldene Manschet­ten­knöpfe verkaufte, um an Kohle zum Kochen und Heizen zu kommen. Erst 1928 hatten die Löhne das Niveau des Jahres 1913 wieder erreicht; im Jahr darauf führte die Welt­wirt­schafts­krise erneut zu dras­ti­schen Einkom­mens­ver­lusten. „Die ehema­lige Reprä­sen­ta­tion und Behag­lich­keit“, schrieb Gabriele Tergit 1931 im Berliner Tage­blatt, „ist öder Ballast. Der Mensch braucht Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, die Sach­lich­keit ergibt sich ohne weiteres aus der Armut.“

Von der Armut war aller­dings in der weiteren Geschichte der ästhe­ti­schen Reduk­tion im Namen einer heroi­schen Moderne nirgendwo mehr die Rede. Mini­ma­lismus war viel­mehr die Verheis­sung auf das Wesent­liche, Eigent­liche und unüber­bietbar Schöne. Der Slogan „Less is more“ wird der gewöhn­lich einem der Schöpfer der klas­si­schen Moderne zuge­schrieben, Ludwig Mies van der Rohe – ein Oxymoron als Selbst­dar­stel­lung. Als Marke­ting für seine eigene unver­wech­sel­bare ästhe­ti­sche Exper­tise baute der ameri­ka­ni­sche Archi­tekt 1949 Philip Johnson sein berühmtes Glass House. Es war voll­kommen leer, hatte nur einen einzigen Raum und durch­sich­tige Wände. Auf einer Wald­wiese in Connec­ticut lag es weit genug entfernt von den Metro­polen, um als Refu­gium bezeichnet zu werden, aber nah genug, um als Treff­punkt mit mögli­chen Auftrag­ge­bern und beau­tiful people zu taugen.

John­sons reine Leere verknüpfte die demons­tra­tive Bedürf­nis­lo­sig­keit des älteren Mini­ma­lismus deut­scher Prägung mit demons­tra­tivem Konsum US-amerikanischen Stils und entspre­chenden Partys. 1967 gaben Velvet Under­ground auf der Wiese vor dem Glass House ein Konzert. 1979 bekam es den damals zum ersten Mal verge­benen Pritzker-Preis für Archi­tektur; 1997 wurde es zum ameri­ka­ni­schen Natio­nal­denkmal erklärt. Sein Inneres ist aller­dings bis heute feucht, weil sich Kondens­wasser an den Wänden sammelt. Das Dach war von Beginn an undicht und musste mehr­fach saniert werden, ebenso die Instal­la­tionen, die aufwendig von unten einge­baut werden mussten. Das durch­sich­tige Haus verbarg ebenso viel wie es zeigte.

Die Beru­fung auf die vermeint­lich schlichte strenge Einfach­heit von früher ist dabei unver­zicht­barer Teil ihrer Erfolgs­ge­schichte. Die alte japa­ni­sche Kunst der eleganten Konzen­tra­tion aufs Wesent­liche, schrieb Donald Ritchie 1985, sei bedroht von der uner­sätt­li­chen Konsum­ge­sell­schaft des ausge­henden 20. Jahr­hun­derts. Schon Bruno Taut hatte die strengen redu­zierten Formen der japa­ni­schen Archi­tektur als Vorbild gepriesen und – wie zahl­reiche andere Väter der Moderne wie Walter Gropius, Frank Lloyd Wright und Richard Neutra – seiner Sorge Ausdruck verliehen, dass die japa­ni­sche Schlicht­heit und elegante Armut zerstört werden könnte: „Japan muss – für uns – das alte edle Japan bleiben.“

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Immer wieder neu

Mini­ma­lismus muss sich selbst immer wieder neu zum Original erklären: Er kommt in Wellen, die seine Verkünder igno­rieren oder zum Verschwinden bringen müssen, um als radikal neu zu erscheinen. Johan Huizinga beklagte in den 1930er Jahren die Infan­ti­li­sie­rung des sozialen Lebens durch allge­gen­wär­tige Werbe­slo­gans und hemmungs­losen Konsum; dasselbe tat John Kenneth Galbraith 1958 in seinem Best­seller von der Über­fluss­ge­sell­schaft. Der Werbe­slogan von IKEA 1976 lautete „Simpli­city is beau­tiful“. Im Jahr darauf wurde Duane Elgins Volun­tary Simpli­city in den USA zum Best­seller. Noch einmal zehn Jahre später warb Apple mit einem Foto des Firmen­grün­ders Steve Jobs für ihre Computer im schlichten Design. Es präsen­tierte ihn als aske­ti­schen Kirchen­vater des ästhe­tisch über­le­genen Konsums. In einem völlig leeren Zimmer sitzt er mit gekreuzten Beinen auf einem Teppich, nur mit Kaffee­be­cher, Stereo­an­lage und einer einzigen (aber sehr teuren) Lampe. Da ist es wieder, das Bild vom glück­li­chen Leben mit Mini­mal­ein­rich­tung und Gram­mo­phon von 1926.

An Mini­ma­lismus muss man deswegen glauben, und Sasakis Buch Good Bye, Things liest sich über ganze Kapitel wie ein Bericht einer reli­giösen Offen­ba­rung. Durch radi­kale Reduk­tion der eigenen Besitz­tümer, versi­chert er seinen Leser:innen, werde man freier und erfolg­rei­cher im Job. Wer nur das Aller­not­wen­digste besitze, könne sich besser konzen­trieren, verbringe weniger Zeit mit Einkaufen, lebe deshalb billiger und werde schlank und gutaus­se­hend. Alle Mini­ma­listen, die er bisher persön­lich getroffen habe, seien „uniquely indi­vi­dual and pretty cool“.

Sehen ihre Wohnungen deswegen einander so ähnlich? Weisse leere Wände, skan­di­na­vi­sche Desi­gner­möbel aus den 1950ern und 60ern und graue T-Shirts aus Biobaum­wolle: Mini­ma­lismus demons­triert ehrgei­zige Bedürf­nis­lo­sig­keit. Die Anzie­hungs­kraft dieser Reduk­tion aufs schönste Wesent­liche beruht darauf, dass man die damit verbun­dene, vermeint­lich unbe­grenzte Auto­nomie ebenso vorzeigt wie die ökono­mi­schen Möglich­keiten, die mit der eleganten Leere asso­zi­iert werden. Wie bei Hannes Meyers’ Formu­lie­rung von der selbst­ge­wählten Konzen­tra­tion als dem Stil der „Halb­no­maden des heutigen Wirt­schafts­le­bens“ von 1926 passen aufs Notwen­digste redu­zierte Acces­soires ausge­zeichnet zu den Co-Working-Spaces und AirBnB-Apartments des begin­nenden 21. Jahrhunderts.

Mini­ma­lis­ti­sche Reduk­tion ist wohl auch deshalb so verlo­ckend, weil sie wie eine Fastenkur oder Verzicht aufs Internet nie endgültig ist: Man kann von dort jeder­zeit zurück in die Welt der über­flüs­sigen Dinge, aber gerei­nigt und geschmückt mit dem Glamour der eigenen Askese. Mini­ma­lismus verspricht, die Konsu­men­ten­bio­grafie ihrer Besitzer:innen zu deren Vorteil für immer zu beenden und heizt sie gleich­zeitig weiter an.

Strah­lend schöne Schlichtheit

Denn eines wissen wir als Shopper des 21. Jahr­hun­derts. Je leerer ein Laden in einer belebten Einkaufs­strasse aussieht und je geringer die Zahl von Klei­dern, Schuhen oder Elek­tro­ge­räten, die darin vor mini­ma­lis­ti­schem makel­losem sauberem Weiss oder Hell­grau ausge­stellt werden, desto teurer sind diese Waren. Marie Kondo ist mitt­ler­weile selbst zur Luxus­marke geworden: So bietet sie teure Schach­teln an, um den eigenen Besitz optimal zu orga­ni­sieren – aber nur das Beste und Schönste davon.

Deswegen kennt Sasakis Wille zur Reduk­tion auch eine Ausnahme: Produkte der Firma Apple. Good bye, Things feiert iphone und iBook als heil­same und allmäch­tige Appa­rate des Ausgleichs, der Trös­tung und der Tran­szen­denz. Das Buch könnte genauso gut „good buy things“ heissen. Auf seinem Cover ist ausser dem leeren weissen Zimmer, dem Laptop und der Brille noch ein dritter Gegen­stand. Der war mir zuerst gar nicht aufge­fallen, aber ohne den geht kein Mini­ma­lismus: die Geldbörse.

Der Lock- und Kleb­stoff des Mini­ma­lismus sind ästhe­ti­sche opti­mierte Bilder der schönen Leere: Je strah­lender, gewichts- und körper­loser, desto besser. Auch dieses Prinzip kommt aus der Vergan­gen­heit und ist nur wenig jünger als die Firma Apple selbst. Der kana­di­sche Science-Fiction-Autor William Gibson hat es in den 1990ern in einer Trilogie von Science-Fiction-Romanen beschrieben: Idoru – die weib­liche Figu­ra­tion, die im Betrachter reines Begehren und Glück auslöst. Eine elek­tro­nisch erzeugte drei­di­men­sio­nale Erschei­nung im Dienst einer sehr mäch­tigen multi­na­tio­nalen Firma, makellos schön, weib­lich und – das wird bei Gibson beson­ders hervor­ge­hoben – asia­ti­scher Herkunft. Sie ist dafür program­miert, dass alle, die sie sehen, sich sofort in sie verlieben: körperlos, aber physisch anzie­hend. „She had simply continued to emerge, to be more. More present. Some actual and initi­ally painful opening of one’s heart.“ Gibson Wort­schöp­fung – eigent­lich: aidoru – stammt zwar aus dem Japa­ni­schen, ist aber die nur leicht verän­derte Über­nahme eines ehrwürdig alten Begriffs. Er kommt aus der christ­li­chen Theo­logie und bezeichnet jenes menschen­ge­machte Objekt, das seine Betrachter zu täuschen und zu verhexen vermag: das Idol. Strah­lende schöne Schlicht­heit ist die Wunder­waffe der Werbung.