
„Goodbye, Things: On Minimalist Living“ – Das Cover hatte mir gleich gefallen, als ich es in der Buchhandlung sah – ein leeres Zimmer, ganz in Weiss. Ein Bett, eine Brille, ein Laptop, sonst nichts. Fumio Sasaki heisst der Autor, das Buch ist 2017 in englischer Übersetzung erschienen. Der Autor, erklärte der Klappentext, besitze nur einige wenige Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände, „and not much else“.
Freiheit durch Weglassen
Ich kaufte mir das Buch und fand eine ganze Reihe von Einsichten, die mir sofort einleuchteten. Man besitze zu viel Zeug. All die vielen Bücher, die man nicht mehr lese, die Kleider, die man nicht mehr trage, die nie benutzten Gegenstände in Regalen und Schubladen: Die eigenen Dinge seien nicht nur einfach da, sondern kommandierten und regierten einen. Sie seien Mitbewohner, denen man die Miete bezahle; sie setzten einen unter Druck. Jeder der eigenen erfüllten Wünsche von früher sei zu einem alten Ding geworden, das einen jetzt langweile. Was brauche man wirklich? Nur das Schönste. Der Rest sei Ballast. Also weg damit.
Noch berühmter als Sasaki ist die Japanerin Marie Kondo, die 2011 ihr erstes Buch über das Glück des Wegwerfens herausbrachte. Ihre „Konmari“-Methode verspricht Erlösung aus dem Kommerz; das Buch verkaufte sich in Japan mehr als 1,3 Millionen Mal. Auch die deutsche Übersetzung von 2013 – Magic Cleaning, mit mittlerweile drei Fortsetzungsbänden, – war ausserordentlich erfolgreich und der Beginn ihrer internationalen Karriere, mittlerweile mit eigener Serie auf Netflix.
Minimalismus ist schon vor Sasaki und Kondo am Beginn des 21. Jahrhunderts zum neuen Megatrend ausgerufen worden, etwa in einem Spiegel-Artikel vom Juli 2011: „Haste nix, dann biste was“. Leere Räume und radikale Reduktion auf das eigentlich Notwendige seien das neue Stilideal in Kalifornien, und die übermässige Produktion und Konsumption überflüssiger Waren ohnehin mutwillige Zerstörung knapper Ressourcen, vom Segen fürs Weltklima ganz zu schweigen. Entschiedenes Wegwerfen sei radical chic und werde mit Zufriedenheit und höherem Status belohnt.
Aber wie neu war das? Die Überschrift in Der Spiegel von 2011 war eine Anspielung auf Erich Fromms berühmtes Buch von 1976, Haben oder Sein. Die vielen Dinge machen arm von Peter Mosler hiess ein anderer deutscher Bestseller von 1981. Noch einmal zwei Generationen früher hatte der Architekt Bruno Taut in seinem Buch Die neue Wohnung von 1924 den „überflüssigen Kissen, Decken, Nippes, Vasen, Bildchen“ den Kampf angesagt. Ähnlich klang das in dem Ratgeber Der neue Haushalt von 1926. Neun Zehntel all dessen, was an den eigenen Wänden hänge, wusste die Autorin Erna Meyer, „können wir getrost entfernen“. Der am Bauhaus tätige Architekt Hannes Meyer empfahl 1926 in der eleganten Illustrierten Uhu „nur ein Minimum an Hausrat“, um jene „Räume von besonderer Ruhe und Klarheit“ zu erzeugen, die der moderne übernervöse Großstadtmensch brauche. „Vielleicht braucht man wirklich nicht mehr als ein Bett, einen Tisch und ein Grammophon, um glücklich zu sein.“ Persönliche Freiheit durch Weglassen lautete diese Verheissung, vorgetragen in der ersten Person Plural.
Bett, Tisch, Stuhl, Schrank – neue Sachlichkeit
Diese Visionen von Klarheit durch Leere waren aber nicht nur sehr kompatibel mit dem Selbstbild der ästhetischen Moderne; eine nüchterne ökonomische Komponente hatten sie auch. In der Wirtschaftskrise nach Kriegsende und der Hyperinflation des Jahres 1923 hatte der grösste Teil der wohlhabenden Mittelschichten in Deutschland und Österreich ihr gesamtes Vermögen verloren. Eine zuvor gutsituierte Hamburger Tagebuchschreiberin notierte im Spätsommer 1923 akribisch, wie sie ihr Silberbesteck und ein paar goldene Manschettenknöpfe verkaufte, um an Kohle zum Kochen und Heizen zu kommen. Erst 1928 hatten die Löhne das Niveau des Jahres 1913 wieder erreicht; im Jahr darauf führte die Weltwirtschaftskrise erneut zu drastischen Einkommensverlusten. „Die ehemalige Repräsentation und Behaglichkeit“, schrieb Gabriele Tergit 1931 im Berliner Tageblatt, „ist öder Ballast. Der Mensch braucht Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, die Sachlichkeit ergibt sich ohne weiteres aus der Armut.“
Von der Armut war allerdings in der weiteren Geschichte der ästhetischen Reduktion im Namen einer heroischen Moderne nirgendwo mehr die Rede. Minimalismus war vielmehr die Verheissung auf das Wesentliche, Eigentliche und unüberbietbar Schöne. Der Slogan „Less is more“ wird der gewöhnlich einem der Schöpfer der klassischen Moderne zugeschrieben, Ludwig Mies van der Rohe – ein Oxymoron als Selbstdarstellung. Als Marketing für seine eigene unverwechselbare ästhetische Expertise baute der amerikanische Architekt 1949 Philip Johnson sein berühmtes Glass House. Es war vollkommen leer, hatte nur einen einzigen Raum und durchsichtige Wände. Auf einer Waldwiese in Connecticut lag es weit genug entfernt von den Metropolen, um als Refugium bezeichnet zu werden, aber nah genug, um als Treffpunkt mit möglichen Auftraggebern und beautiful people zu taugen.
Johnsons reine Leere verknüpfte die demonstrative Bedürfnislosigkeit des älteren Minimalismus deutscher Prägung mit demonstrativem Konsum US-amerikanischen Stils und entsprechenden Partys. 1967 gaben Velvet Underground auf der Wiese vor dem Glass House ein Konzert. 1979 bekam es den damals zum ersten Mal vergebenen Pritzker-Preis für Architektur; 1997 wurde es zum amerikanischen Nationaldenkmal erklärt. Sein Inneres ist allerdings bis heute feucht, weil sich Kondenswasser an den Wänden sammelt. Das Dach war von Beginn an undicht und musste mehrfach saniert werden, ebenso die Installationen, die aufwendig von unten eingebaut werden mussten. Das durchsichtige Haus verbarg ebenso viel wie es zeigte.
Die Berufung auf die vermeintlich schlichte strenge Einfachheit von früher ist dabei unverzichtbarer Teil ihrer Erfolgsgeschichte. Die alte japanische Kunst der eleganten Konzentration aufs Wesentliche, schrieb Donald Ritchie 1985, sei bedroht von der unersättlichen Konsumgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Schon Bruno Taut hatte die strengen reduzierten Formen der japanischen Architektur als Vorbild gepriesen und – wie zahlreiche andere Väter der Moderne wie Walter Gropius, Frank Lloyd Wright und Richard Neutra – seiner Sorge Ausdruck verliehen, dass die japanische Schlichtheit und elegante Armut zerstört werden könnte: „Japan muss – für uns – das alte edle Japan bleiben.“
Immer wieder neu
Minimalismus muss sich selbst immer wieder neu zum Original erklären: Er kommt in Wellen, die seine Verkünder ignorieren oder zum Verschwinden bringen müssen, um als radikal neu zu erscheinen. Johan Huizinga beklagte in den 1930er Jahren die Infantilisierung des sozialen Lebens durch allgegenwärtige Werbeslogans und hemmungslosen Konsum; dasselbe tat John Kenneth Galbraith 1958 in seinem Bestseller von der Überflussgesellschaft. Der Werbeslogan von IKEA 1976 lautete „Simplicity is beautiful“. Im Jahr darauf wurde Duane Elgins Voluntary Simplicity in den USA zum Bestseller. Noch einmal zehn Jahre später warb Apple mit einem Foto des Firmengründers Steve Jobs für ihre Computer im schlichten Design. Es präsentierte ihn als asketischen Kirchenvater des ästhetisch überlegenen Konsums. In einem völlig leeren Zimmer sitzt er mit gekreuzten Beinen auf einem Teppich, nur mit Kaffeebecher, Stereoanlage und einer einzigen (aber sehr teuren) Lampe. Da ist es wieder, das Bild vom glücklichen Leben mit Minimaleinrichtung und Grammophon von 1926.
An Minimalismus muss man deswegen glauben, und Sasakis Buch Good Bye, Things liest sich über ganze Kapitel wie ein Bericht einer religiösen Offenbarung. Durch radikale Reduktion der eigenen Besitztümer, versichert er seinen Leser:innen, werde man freier und erfolgreicher im Job. Wer nur das Allernotwendigste besitze, könne sich besser konzentrieren, verbringe weniger Zeit mit Einkaufen, lebe deshalb billiger und werde schlank und gutaussehend. Alle Minimalisten, die er bisher persönlich getroffen habe, seien „uniquely individual and pretty cool“.
Sehen ihre Wohnungen deswegen einander so ähnlich? Weisse leere Wände, skandinavische Designermöbel aus den 1950ern und 60ern und graue T-Shirts aus Biobaumwolle: Minimalismus demonstriert ehrgeizige Bedürfnislosigkeit. Die Anziehungskraft dieser Reduktion aufs schönste Wesentliche beruht darauf, dass man die damit verbundene, vermeintlich unbegrenzte Autonomie ebenso vorzeigt wie die ökonomischen Möglichkeiten, die mit der eleganten Leere assoziiert werden. Wie bei Hannes Meyers’ Formulierung von der selbstgewählten Konzentration als dem Stil der „Halbnomaden des heutigen Wirtschaftslebens“ von 1926 passen aufs Notwendigste reduzierte Accessoires ausgezeichnet zu den Co-Working-Spaces und AirBnB-Apartments des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Minimalistische Reduktion ist wohl auch deshalb so verlockend, weil sie wie eine Fastenkur oder Verzicht aufs Internet nie endgültig ist: Man kann von dort jederzeit zurück in die Welt der überflüssigen Dinge, aber gereinigt und geschmückt mit dem Glamour der eigenen Askese. Minimalismus verspricht, die Konsumentenbiografie ihrer Besitzer:innen zu deren Vorteil für immer zu beenden und heizt sie gleichzeitig weiter an.
Strahlend schöne Schlichtheit
Denn eines wissen wir als Shopper des 21. Jahrhunderts. Je leerer ein Laden in einer belebten Einkaufsstrasse aussieht und je geringer die Zahl von Kleidern, Schuhen oder Elektrogeräten, die darin vor minimalistischem makellosem sauberem Weiss oder Hellgrau ausgestellt werden, desto teurer sind diese Waren. Marie Kondo ist mittlerweile selbst zur Luxusmarke geworden: So bietet sie teure Schachteln an, um den eigenen Besitz optimal zu organisieren – aber nur das Beste und Schönste davon.
Deswegen kennt Sasakis Wille zur Reduktion auch eine Ausnahme: Produkte der Firma Apple. Good bye, Things feiert iphone und iBook als heilsame und allmächtige Apparate des Ausgleichs, der Tröstung und der Transzendenz. Das Buch könnte genauso gut „good buy things“ heissen. Auf seinem Cover ist ausser dem leeren weissen Zimmer, dem Laptop und der Brille noch ein dritter Gegenstand. Der war mir zuerst gar nicht aufgefallen, aber ohne den geht kein Minimalismus: die Geldbörse.
Der Lock- und Klebstoff des Minimalismus sind ästhetische optimierte Bilder der schönen Leere: Je strahlender, gewichts- und körperloser, desto besser. Auch dieses Prinzip kommt aus der Vergangenheit und ist nur wenig jünger als die Firma Apple selbst. Der kanadische Science-Fiction-Autor William Gibson hat es in den 1990ern in einer Trilogie von Science-Fiction-Romanen beschrieben: Idoru – die weibliche Figuration, die im Betrachter reines Begehren und Glück auslöst. Eine elektronisch erzeugte dreidimensionale Erscheinung im Dienst einer sehr mächtigen multinationalen Firma, makellos schön, weiblich und – das wird bei Gibson besonders hervorgehoben – asiatischer Herkunft. Sie ist dafür programmiert, dass alle, die sie sehen, sich sofort in sie verlieben: körperlos, aber physisch anziehend. „She had simply continued to emerge, to be more. More present. Some actual and initially painful opening of one’s heart.“ Gibson Wortschöpfung – eigentlich: aidoru – stammt zwar aus dem Japanischen, ist aber die nur leicht veränderte Übernahme eines ehrwürdig alten Begriffs. Er kommt aus der christlichen Theologie und bezeichnet jenes menschengemachte Objekt, das seine Betrachter zu täuschen und zu verhexen vermag: das Idol. Strahlende schöne Schlichtheit ist die Wunderwaffe der Werbung.
Was ist ein „leerer“ Raum, wenn man fiskalisch die Sicherheit hat, ihn je nach Bedarf anderwärts zu kompensieren? Was ist ein „leerer“ Raum, wenn man fiskalisch zu dieser Leere verurteilt ist? In weniger betuchten Schichten sammeln sich materielle Anerkennungen eigener Lebensleistung, sächliche Symbole bleibender Zugehörigkeit, und Erinnerungsgegenstände eigenen geleisteten Lebens. Wer bleibt gerne in letzter Konsequenz „ärmlich, spurenlos, einfach, befreit“?