
Soziale Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen bedienen sich seit den Zeiten der US-Bürger:innenrechtsbewegung des Mittels der kollektiven Rechtsmobilisierung oder strategischen Prozessführung. Ihr Ziel: Urteile von grundsätzlicher Bedeutung zu erringen, über Prozesse Themen in die breite Öffentlichkeit zu tragen und durch diese Doppelstrategie einen gesellschaftlichen Wandel einzuleiten. Erfolgreiche Klimaklagen haben in den vergangenen zwei Jahren die Bedeutung dieses Instruments unterstrichen.
Katharina von Elten hat jedoch jüngst in „Geschichte der Gegenwart“ am Beispiel der Kämpfe um das Recht auf Abtreibung in den USA – und des dort stattfindenden Backlashs – darauf hingewiesen, dass die „Justizialisierung von Interessenspolitik“ erhebliche Risiken berge. Sie laufe auf eine Entpolitisierung politischer Sachverhalte hinaus und es werde mittlerweile deutlich, „dass auf dem Rechtsweg anachronistische Minderheiteninteressen durchgesetzt werden, die sogar in konservativen Staaten nicht mehr mehrheitsfähig sind und der zeitgeschichtlichen Entwicklung völlig zuwiderlaufen.“ Van Elten macht darauf aufmerksam, dass das einst progressive Mittel der Rechtsmobilisierung immer stärker von autoritären, extrem rechten und sonstigen reaktionären Akteur:innen für die Durchsetzung ihrer Interessen genutzt wird.
In der Forschung über Rechtsmobilisierung fristete die Rechtsmobilisierung von rechts lange Zeit ein Nischendasein, weil sie im strategischen Repertoire eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte. Das Recht ist aber in den Fokus aktueller autoritärer Strategien gerückt. Dabei kopieren sie nicht nur die Strategie der Rechtsmobilisierung durch die US-Bürger:innenrechtsbewegung und andere Menschenrechtsakteure, denn die Rechten gehen einen Schritt weiter: Sie versuchen das Rechtssystem insgesamt zu kapern und als Handlungsfeld emanzipatorischer Strategien zu verschließen.
Die relationale Autonomie des modernen Rechts
Warum lässt es sich im Recht eigentlich anders kämpfen als mit politischen Mitteln? Was ist das Besondere des juridischen Feldes, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu nannte? Das Recht ist in modernen Gesellschaften ein eigenes Feld, oder, materialistisch gewendet, eine soziale Form, in welcher eigensinnige Logiken, Zugangsvoraussetzungen und Verfahrensweisen walten. Nach Bourdieu erhalten zu diesem Feld nur diejenigen einen Zugang, die die Codes des Feldes erlernt haben. die in der Lage sind, mit diesen Codes Recht auszulegen und von anderen Feldteilnehmer:innen als Mitglieder anerkannt werden. Das sind überwiegend Rechtsanwält:innen, Richter:innen und juristische Intellektuelle, während juristische Laien von diesem Feld ausgeschlossen werden. Das juridische Feld ist also ein Raum des Herrschaftswissens und des Ausschlusses.
Zugleich weist das juridische Feld die Möglichkeit auf, inkludierend zu wirken, wenn Menschen, vertreten durch ihre Anwält:innen, ihre Interessen und Kämpfe in das Feld hineintragen können. Im Zuge dieses Übersetzungsprozesses ins Recht gehen Aspekte des politischen Kampfes verloren oder können in den Codes nicht thematisiert werden, der Kampf erfährt aber gleichsam eine neue juridische Dynamik, indem er bspw. durch den Menschenrechtsdiskurs eine neue Rahmung erhält und andere Logiken als die politischen Gewicht gewinnen.
Das juridische Feld bzw. die Rechtsform weist eine relationale Autonomie von den politischen Kräfteverhältnissen auf. Das Recht ist nicht neutral gegenüber den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Im Recht verdichten sich auf spezifische Weise neokoloniale, rassistische, sexistische, ableistische und kapitalistische Strukturen und Praktiken. Das gilt gerade für das moderne Recht in liberalen Demokratien. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass der Rechtsdiskurs und Rechtsprechungslinien offen sind für autoritäre und extrem rechte Strategien.
Das moderne Recht ist geprägt von Widersprüchen, von zeitgleichen Inklusions- und Exklusionsprozessen. So enthält das Recht gerade aufgrund seiner Abstraktheit und Formalität, durch die es sich als eigenes Feld konstituiert, einen universalistischen Charakter und, in den Worten des Politologen Franz Neumann, eine „ethische Funktion“, die es den Betroffenen von Herrschaftsverhältnissen ermöglicht, das Recht als Schutzinstrument zu nutzen – entweder gegenüber gesellschaftlich mächtigen Akteur:innen (z.B. Unternehmen) oder dem verselbstständigten Exekutivapparat (Polizei, Grenzbehörden etc.). Im Recht wird beständig über seinen Anwendungsbereich, seine Auslegung und seine Durchsetzungskraft gekämpft. „Dabei erfasst […] das Recht“, so Bourdieu, „stets das momentane Kräfteverhältnis, indem es auch den Kampferfolgen der Beherrschten rechtlich Geltung verschafft und diesen Errungenschaften dadurch Anerkennung verleiht.“ Diese Eigenlogik des juridischen Feldes, seine teilweise Unabhängigkeit von politischen Prozessen, seine Widersprüchlichkeit sind die Bedingungen dafür, dass im Recht gekämpft werden kann.
Kaperung der Justiz
Auch in Deutschland kämpfen Rechte mit dem Recht dafür, ihre Interessen durchzusetzen, nicht zuletzt die Alternative für Deutschland (AfD) mit ihrer Strategie, Klagen gegen die Bundesregierung und Minister:innen vor dem Bundesverfassungsgericht (oft erfolgreich) zu führen. Die entsprechenden Geländegewinne der Rechten im Recht werden im Report Recht gegen Rechts dokumentiert. Mittels solcher Klagen kopieren die Rechten und Autoritären die durchaus erfolgreiche Strategie progressiver Bewegungen, mit Rechtsmobilisierung und strategischer Prozessführung politische und rechtliche Kräfteverhältnisse zu verändern. Durch solche Kämpfe nutzen die rechten Akteur:innen die relationale Form des Rechts. Aber im Umgang mit dem Recht gehen Autoritäre noch einen Schritt weiter: Sie wollen das bestehende Rechtssystem nicht nur für ihre Interessen benutzen, es geht ihnen darum, das Recht entweder zu kapern oder seine relationale Autonomie zu untergraben.
Das moderne Recht stellt für autoritäre Akteur:innen ein Risiko dar. Die relationale Autonomie der Rechtsform schützt das Rechtssystem davor, dass sich politische Kräfteverhältnisse unmittelbar im Recht niederschlagen können. Das heißt: Selbst wenn Autoritäre fulminante Wahlsiege erringen, die Bürokratie auf parteipolitische Linie bringen oder gar massiven Einfluss auf die Medien erhalten, kann es Bewegungsspielräume im Recht geben, die sich dem autoritären coup d’état entgegenstellen. Das mussten auch autoritäre Agitatoren wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro erleben, die ihre rigorose Politik nicht ungebrochen durchsetzen konnten. „Die Unabhängigkeit, mit der die Justiz ihre Kontrollfunktion ausübt, ist von zentraler Bedeutung für die Demokratie. Für die Akteur:innen des radikalisierten Konservativismus wird sie daher zur Gegnerin“, schreibt die österreichische Publizistin Natascha Strobl am Beispiel der österreichischen ÖVP unter dem ehemaligen Kanzler Sebastian Kurz und deren Umgang mit der Justiz.
Autoritäre Bewegungen und Agitator:innen auf der ganzen Welt haben daher Strategien und Instrumente entwickelt, um in der Regel schrittweise, manchmal aber auch abrupt, die relationale Autonomie des Rechts auszuhöhlen. Der Rechtswissenschaftler Günter Frankenberg zählt zum autoritären Repertoire Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Ausweitung exekutiver Machtbefugnisse, normalisierte Ausnahmezustände und informalisierte Machttechniken. Öffentlichkeitswirksam wird über die Kaperung der Justiz am Beispiel der USA diskutiert, wo die Abkehr von der progressiven Roe v. Wade-Rechtsprechung u.a. auf die Neuzusammensetzung des US-Supreme Court durch Donald Trump zurückgeht. Die Kaperung der Justiz ist eine Strategie autoritärer Akteur:innen, die nicht auf die USA beschränkt ist, sondern auch in Europa bisweilen weit fortgeschritten oder in Entstehung begriffen ist.
Die rechten Regierungen in Ungarn und Polen haben in den letzten Jahren daran gearbeitet, vor allem auf Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Umbesetzung von Richter:innen einen unmittelbaren Einfluss auf die Rechtsprechung zu gewinnen. Dies gelang durch die politisch verordnete Frühverrentung von Richter:innen, die zum Beispiel der Europäische Gerichtshof in der Form als europarechtswidrig beurteilte – oft werden solche Urteile transnationaler Gerichte jedoch ignoriert. Ersetzt werden die Richter:innen immer wieder durch Jurist:innen, die zuvor im Ministerialapparat gearbeitet haben und dort eine politische Sozialisation erfahren haben, die der Unabhängigkeit und der Macht von Gerichten argwöhnisch bis ablehnend gegenüber steht. Das Interesse daran, die Eigenständigkeit der Rechtsform zu verteidigen, ist bei solchem Personal gering ausgeprägt.
Aushöhlung der relationalen Autonomie des Rechts
Neben personalen Neu- und Umbesetzungen zielen autoritäre Rechtsstrategien auch auf die Umwandlung der Rechtsinstitutionen ab. In Ungarn hat die Regierung unter Viktor Orbán mittels einer Doppelstrategie einerseits Gerichten Kompetenzen entzogen (zum Beispiel dem Verfassungsgericht die Möglichkeit, über steuerrechtliche Sachverhalte zu entscheiden), und andererseits war geplant, von Anfang an durch Regierungslogiken geprägte Gerichtsinstanzen zu schaffen, die sich mit heiklen Rechtsbereichen wie dem Versammlungsrecht beschäftigen sollen. Zwar wurde die ungarische Justizreform erst einmal auf Eis gelegt, aber Orbán hat in den vergangenen Jahren immer wieder demonstriert, dass seine Regierung beim Abbau der Rechtsstaatlichkeit oft zunächst einen Schritt zurück macht, um dann zwei Schritte nach vorne zu gehen. Solche reaktionären „Reformen“, wie sie auch in Polen vonstatten gehen, höhlen die relationale Autonomie des Rechts aus – die prozedurale Vermittlung politischer Kräfteverhältnisse ins Recht bricht weg und politische Logiken gewinnen unmittelbare Geltung.
Angriffe dieser Art erfolgen auch gegenüber transnationalen Gerichten und Rechtssystemen. So ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aus der Sicht vieler nationaler Regierungen schon länger ein Hindernis, um Abschiebungen und Pushbacks gegenüber Geflüchteten ungehindert durchzuführen. Zuletzt drohte die ehemalige britische Innenministerin Priti Patel mit einem „Exit“ aus der EMRK, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Abschiebungen im Rahmen des umstrittenen Ruanda-Deals im Eilrechtsschutzverfahren verhinderte. Die dänische Regierung versuchte vor vier Jahren im Europarat im Rahmen des sog. „Kopenhagener Prozess“ die Kompetenzen des EGMR zu beschneiden. Geplant war, dem EGMR die Kompetenz zu entziehen, in migrationsrechtlichen Sachverhalten Urteile zu fällen, solange der nationale Rechtsweg nicht endgültig erschöpft ist. Damit reagierte die dänische Regierung auf eine bis dato menschenrechtsbasierte Rechtsprechungslinie des EGMR, die Geflüchteten den Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren garantierte und eine rigorose Zurückschiebungspraxis erschwerte.
Dass transnationale Gerichte wie der EGMR nur subsidiär gegenüber nationalen Gerichten zuständig sein sollen, ist eine Forderung, die keine genuin autoritäre Position darstellt. Aber in der europäischen Migrationskontrollpolitik sind Geflüchtete mit einem System der Entrechtung konfrontiert, durch das ihnen gerade der Zugang zum Rechtsstaat in den Nationalstaaten versperrt wird. Der Gang zum EGMR erfolgt gerade, um dieser Rechtlosigkeit zu begegnen. Der Vorschlag der dänischen Regierung, den EGMR zu entmachten, hätte diese Entrechtungspolitik daher legitimiert und perpetuiert. Der weitreichende Vorschlag fand am Ende zwar keine Zustimmung unter der Mehrheit der Konventionsstaaten, aber er verdeutlicht, dass europäische Regierungen bereit dazu sind, Hand an die Garantien des Menschenrechtssystems zu legen.
Die „Waffenstillstandsbedingungen“ in Bezug auf die formale Unabhängigkeit des Rechts wurden von rechten Akteur:innen aufgekündigt. Der globale Autoritarismus arbeitet daran, das Recht als Feld von Kämpfen für emanzipatorische Akteur:innen dauerhaft zu verschließen. Das ist eine Gefahr für die Demokratie und die politische Handlungsfähigkeit: Denn bei aller angebrachten Skepsis gegenüber dem Recht lernt man, so der Staatstheoretiker Nicos Poulantzas, die „sogenannten ‚formalen‘ Freiheiten (…) erst wirklich schätzen, wenn sie einem genommen werden.“
Aus meiner Sicht nutzen derzeit Gruppen ALLER Coleur zunehmend das Recht für ihre je gruppen-bezogen einsichtigen politischen Ziele: Das verschiebt die Balance der Gewaltenteilung zu Lasten der Legislative. Zunehmend gelten politische Wert-Entscheidungen der Judikative, für die es keine per Wahlentscheidung legitimierte Grundlage gibt. Das entwertet fundamental das Vertrauen der WählerInnen in ihre legislative Gestaltungs-Macht. Im schlimmsten Fall leitet es sie zu politischen Kräften, die ihnen versprechen, ihre Interessen unter Negierung jeglicher Gewaltenteilung durchzusetzen.