Mit eingebildeten Gefahren können sie gut umgehen, doch angesichts der Corona-Krise erwiesen sich viele Rechtspopulisten als hilflos. Das Virus, die Krankheit und die vielen Toten ließen sich nicht einfach ignorieren, auch wenn Autokraten wie Bolsonaro und Trump das zunächst durchaus versuchten, während die Infektionszahlen in ihren Ländern in die Höhe kletterten. Und dem unvorhersehbaren Pandemie-Geschehen ließ sich mit den üblichen Instrumenten einer tribalistischen oder populistischen Rhetorik auch nur schwer beikommen. Auch hierzulande schienen rechtspopulistische Parteien und Bewegungen wie die AfD und Pegida zunächst in eine Art Schockstarre zu verfallen; jedenfalls hörte man in dieser Zeit nicht viel von ihnen.
Realitätsschock – und dann?
Vielleicht bot COVID 19 also die Möglichkeit zu einem reality check. Es bot die Möglichkeit, für ‚wahr‘ nicht mehr nur zu halten, was mit den eigenen Grundüberzeugungen oder den im eigenen ‚Stamm‘ dominanten Welterklärungsmodellen kohärent geht (z.B. ‚die democrats sind an allem Schuld‘), sondern im Zweifel vielmehr das, was mit den möglicherweise sehr viel beunruhigenderen Erfahrungen der Wirklichkeit korrespondiert, d.h. in diesem Fall der Realität der Krankheit und der Notwendigkeit, konzertierte Anstrengungen dagegen zu unternehmen. Für eine kurze Zeit schien sich diese Möglichkeit an manchen Orten tatsächlich zu realisieren. So beispielsweise, als selbst die AfD, die doch sonst keine Gelegenheit zur Spaltung auslässt, aus schierer Ratlosigkeit für die von der Regierungskoalition beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Krise stimmte.

Aluhutserie (1), Foto: SZ
Doch war dieser Realitätsschock nicht von langer Dauer, und dies schon gar nicht bei denjenigen politischen Akteuren, deren Markenkern allein die ebenso populistisch (gegen die ‚Eliten‘) wie tribalistisch (gegen die Demokraten, gegen die ‚Merkel-CDU‘, gegen die ‚Gutbürger‘) oder nationalistisch (gegen China, gegen die USA, gegen die EU) eingefärbte Frontstellung gegen imaginäre oder reale Feinde ist. Statt zu einem nachhaltigen reality check kam es zu einer reality negation – einer Ablehnung der Realität des Virus, seiner Herkunft oder seiner Gefährlichkeit, die die Beibehaltung der alten Grundüberzeugungen und Welterklärungsmodelle erlaubte.
Sozialkritik und Paranoia
Besonders gut lässt sich das an den unter den Lockdown-Gegner*innen wuchernden Verschwörungstheorien ablesen, deren Demonstrationen die AfD schon bald zu ihrer Bühne zu machen versuchte. Die Corona-Verschwörungstheorien sind keineswegs von Grund auf neu, sondern passen vielmehr die Corona-Krise in bereits existierende Verschwörungstheorien ein, wie z.B. die der ‚Impflüge‘, der ‚New World Order‘, ‚QAnon‘ usw. Deren Anhänger*innen inszenieren sich zwar als Dissidenten, kehren aber tatsächlich nur aus einer beunruhigenden Realität zurück in das noch warme Bett einer vertrauten Weltanschauung oder zumindest in eine Welt, in der Kontingenz durch Kausalität, Ohnmacht durch Agency und Komplexität durch Einfachheit ersetzt wird.
Mit faszinierter Irritation haben Soziologen wie Bruno Latour und Luc Boltanski vor geraumer Zeit eine Affinität zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Verschwörungstheorie, Sozialkritik und Paranoia beobachtet. Ihr Verdacht: Sind Verschwörungstheoretiker*innen, die die Wirklichkeit als bloßen Schein – man könnte auch sagen: als Ideologie oder Verblendungszusammenhang – hinterfragen und hinter dieser Oberfläche nach verborgenen Mächten und geheimen Netzwerken suchen, die dunkle Kehrseite eines kritisch-analytischen Blicks auf den modernen Staat und seine Institutionen? Oder anders gefragt: Wann kippt die berechtige Sozialkritik in die paranoide Verschwörungstheorie, wie es sich im Kontext der Corona-Krise zuletzt bei dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben beobachten ließ?
Doch stellt sich vor dem Hintergrund des oben Gesagten die Frage, ob Latours und Boltanskis These nicht auf den falschen Prämissen beruht. Gehen sie mit ihr nicht der Selbstinszenierung von Verschwörungstheoretikern als Skeptiker auf den Leim? Denn Sozialkritiker*innen untersuchen die soziale Realität idealerweise ergebnisoffen, indem sie erst aus dem Material, das sie vorfinden, ihre Theorien über die Gesellschaft deduzieren, während Verschwörungstheoretiker*innen genau umgekehrt vorgehen. Wie sich an den Corona-Verschwörungstheorien gut beobachten lässt, gehen sie mit vorgefertigten Theorien an die soziale Realität heran, um sich dort nur diejenigen Elemente herauszupicken, die zu ihrer Theorie passen. Alles andere wird ignoriert oder als ein falscher Schein negiert, der die (von ihnen konstruierte) Realität der Verschwörung verdecke.
Allerdings wäre es naiv anzunehmen, dass es eine gänzlich unvoreingenommene Analyse der sozialen Realität überhaupt geben kann; überdies enthalten auch die sozialkritischen Gesellschaftstheorien notgedrungen, wie Boltanski betont, ein konstruktivistisches Moment, insofern Herrschaft „nicht von sich selbst [spricht]“. Gleichwohl scheiden sich die Geister von Sozialwissenschaft und Verschwörungstheorie möglicherweise an ihrer Bereitschaft zur Falsifizierung. Während diese Bereitschaft zu den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens gehört, sind Verschwörungstheoretiker*innen an der Falsifikation nicht interessiert. Bei ihrem vermeintlichen Skeptizismus handelt es sich eher um den Unwillen, den (fraglichen) theoretischen Grund, auf dem sie stehen, ins Wanken geraten zu lassen.
Theorietest
Agamben stellt den kritischen Gehalt sozialphilosophischer Theoriemodelle mit seinen Einwürfen zur Corona-Pandemie jedoch auf die Probe. Sein am 26. Februar auf Italienisch und am 23. März im verschwörungstheoretischen Magazin Rubikon auf Deutsch erschienener Artikel, der am 17. April auch Eingang in die von „Corona-Skeptikern“ herausgegebene Wochenzeitung Demokratischer Widerstand fand, folgt der Logik einer reality negation.
Zwar greift Agamben einerseits die Lockdown-Maßnahmen auf, um seine bereits etablierte Theorie vom Ausnahmezustand zu verifizieren: „warum arbeiten […] die Medien und Behörden daran, ein Klima der Panik zu verbreiten, das einen seltsamen Ausnahmezustand herbeiführt?“ Weil es „wieder einmal eine wachsende Tendenz, den Ausnahmezustand als normales Regierungsparadigma zu verwenden“, gebe.
Ähnliche Formulierungen finden sich bereits in seinem im Jahr 2003 bzw. 2004 auf Deutsch erschienenen Buch Ausnahmezustand, in dem Agamben die These formuliert, dass der Ausnahmezustand im 20. Jahrhundert zu einem neuen „Paradigma des Regierens“ avanciert sei, und zwar als ein entscheidender Modus der Vergesellschaftung, der die Gesellschaftsmitglieder über ihren Ausschluss integriere. Die staatliche Exklusion kündige eine Beziehung nicht auf, sondern sie stelle vielmehr eine besondere, wenn auch negative Beziehungsform dar.
Vor diesem Hintergrund lag es für Agamben durchaus nahe, in den während der Corona-Pandemie in ihren Wohnungen eingeschlossenen Bürger*innen ein Sinnbild der Souveränitätslogik des Ausschlusses zu erkennen. Andererseits negiert Agamben in seinem Rubikon-Artikel jedoch zugleich die Existenz oder zumindest die Gefährlichkeit des Virus, wenn er die Pandemie – trotz der vielen Kranken und Toten, die es zu diesem Zeitpunkt in anderen Ländern bereits gab – eine „Erfindung“ nennt, mit der sich die Regierungen „den Traum aller Tyrannen“ erfüllen wollten, nämlich „ein verängstigtes, gefügiges und komplett manipuliertes Volk“.
Der chiliastische Unterton, der seine Überlegungen zur Corona-Krise auch in anderen Artikeln begleitet, bezieht sich also nicht auf die Pandemie, sondern auf die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, die diese tyrannische ‚Intention‘ erfüllten: Die „Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt“, sei überschritten; die „Welt der bürgerlichen Demokratie“ komme an ihr Ende.
Der ‚intentionale‘ Angriff
Damit ist ein weiteres wichtiges Stichwort aufgerufen: Intentionalität. Folgt man dem Amerikanisten und Verschwörungstheorie-Forscher Timothy Melley, spielt der Einsatz von Intentionalität nämlich eine zentrale Rolle für das Kippen einer kritischer Gesellschafts- in eine Verschwörungstheorie. Das Problem besteht demnach nicht in dem tatsächlich der Soziologie ähnlichen Bemühen von Verschwörungstheorien, die „unmögliche Totalität des gegenwärtigen Welt Systems“ und „riesige Netzwerke der Macht“ in den Blick zu nehmen, sondern in der Frage: „why represent a massive economic system as a conspiracy? Why conserve a sense of intentionality?”

Aluhutserie (2), Foto: SZ
Treibstoff moderner Verschwörungstheorien ist nach Melley eine paradoxe agency panic: Diese Panik sieht – durchaus korrekt – das Selbstbild vom autonomen Individuum (das seine Intentionen kennt, sie umsetzen und auf diese Weise auch sein Leben und seine Geschichte selbstbestimmt gestalten kann) in Gefahr und glaubt paradoxerweise gerade deswegen an eine Verschwörung, die in ihrem ‚intentionalen‘ Angriff gegen dieses Individuum genau jenes überkommene Menschen-, Gesellschafts- und Geschichtsbild aufrechterhält: Eine Gruppe von Verschwörer*innen oder ein monolithisches ,System‘ steuere intentional das Weltgeschehen nach einem geheimen Plan; und ebenso gezielt könnten nun diejenigen Individuen, die hinter die Fassade zu blicken vermögen, dagegen halten:
Agency panic thus reveals the way social communications affect individual identity and agency, but it also disavows this revelation. It begins with radical insight, yet it is a fundamentally conservative response – „conservative“ in the sense that it conserves a traditional model of the self in spite of the obvious challenges that postwar technologies of communication and social organization pose to that model.
Hierin besteht also zugleich eine Nähe und eine Ferne zur Soziologie: Wenn die Verschwörungstheorie „obskure Quellen sozialer Kontrolle“ offenlegt, reetabliert sie Formen menschlicher Intentionalität, wohingegen „eine streng soziologische Analyse“ an dieser Stelle „nur Institutionen, Sitten, wirtschaftliche Strukturen und Diskurse findet“.
Erschütterungsbereitschaft
Mit dem Verschwörungstheorie-Forscher Michael Butter lässt sich ergänzen, dass die Soziologie dabei, anders als Verschwörungstheorien, von einem Menschenbild ausgeht, das Menschen als „Subjekte im Sinne der modernen Sozial- und Kulturwissenschaften [begreift], welche die materiellen und ideologischen Zwänge betonen, denen Menschen ‚unterworfen‘ sind und die ihre Subjektivität erst produzieren“.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich alles andere als ein Bild des Skeptikers: Verschwörungstheorien erwachsen vielmehr aus der mangelnden Bereitschaft, an einem Selbstbild zu rütteln, das – und sei es mithilfe eines imaginären Feindes – die Handlungsmacht des Einzelnen imaginär aufrechterhält. Gerade deshalb können Verschwörungstheorien nie zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft werden. Sie verweigern sich einem reality check, der die Voraussetzung dafür wäre, Subjektivität und Gesellschaft heute adäquat zu denken und erst anschließend zu ihrer Kritik ansetzen zu können.

Aluhutserie (3), Foto: SZ
Diesen reality check erzwingt die Corona-Krise. Wenn die Corona-Krise also tatsächlich auch mit einer „Krise der Meinungsmacher“ einherging, dann vielleicht vor allem deswegen, weil die Corona-Pandemie die Instabilität des Theoriemodells bzw. die Notwendigkeit seiner Falsifizierung vor Augen führt, die theoretischen Erklärungsmodellen inhärent ist. Wird man sich beispielsweise nochmals der Ungewissheit der Ereignisabfolge gewahr, die für die längste Zeit weder eine solide Einschätzung der Gegenwart noch eine sichere Prognose in die Zukunft erlaubte, so bleiben einem letztlich nur zwei Wege, mit diesem Zustand des Mangels an gesichertem Wissen umzugehen:
Entweder man hält – wie Agamben – an der kohärenzstiftenden Funktion des eigenen Theoriemodells fest und bietet vertraute Erklärungen für unruhige Zeiten – oder aber, und dies ist die Herausforderung, vor der kritische Theorien derzeit (wie eigentlich schon immer) stehen, man lässt Kontingenz zu und erkennt das potentiell defizitäre Moment des eigenen Realitätsbezugs an. Theoretische Erklärungsmodelle sollten, wenn sie ihren kritischen Gehalt nicht aufkündigen wollen, den Erschütterungen in der sozialen Welt mit einer Erschütterung der Theorie (oder zumindest der Bereitschaft dazu) begegnen, nicht mit den gewohnten und darum beruhigenden Antworten.