Angesichts der Flüchtlingskrise sind alle ausser Merkel „Realisten“. Warum auch nicht? Die Politik hat die Wirklichkeit zu adressieren, will sie diese verändern. Trotzdem: Das Wort „realistisch“ wird derzeit schlimmer missbraucht als einst die schöne Europa vom geilen Göttervater Zeus.

  • Matthias Meindl

    Matthias Meindl ist Slavist und habilitiert sich an der Universität Zürich mit einer Arbeit zur sexuellen Revolution in Jugoslawien um 1968. Zuletzt hat er mit Georg Witte Kirill Medvedevs "Antifaschismus für alle" herausgegeben.

Im Streit um die rich­tige poli­ti­sche Reak­tion auf die Flücht­lings­krise wird wohl derzeit keine Sau so unbarm­herzig durchs euro­päi­sche Dorf getrieben wie der ‚Realismus‘. Jeder rekla­miert das Prädikat für sich, und jeder ist ‚realis­ti­scher‘ als der andere. Und dies gilt anschei­nend für das ganze poli­ti­sche Spek­trum. ‚Realis­tisch‘ nennt sich die ‚poli­ti­sche Mitte‘, die das Recht aller Menschen, Asyl zu suchen, im Prinzip aner­kennt, jedoch mit Blick auf die realen Gege­ben­heiten meint, dass bei der Imple­men­tie­rung dieses Rechts Kompro­misse unaus­weich­lich sind. ‚Realis­tisch‘ wähnt sich die poli­ti­sche Rechte in ihrer Kenn­zeich­nung der Gefahr, die von den Migranten ausgehe. So hält sich der unga­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Viktor Orbán für den einzig ‚realis­ti­schen‘ Beschützer des euro­päi­schen Abend­landes, weil er die Flücht­linge – als poten­zi­elle Terro­risten von morgen – an der unga­ri­schen Grenze abge­schmet­tert hat. Und auch in der baye­ri­schen CSU finden sich Stimmen, die sein Zaun­bau­pro­jekt als ‚einzig realis­ti­schen Weg‘ aus der Flücht­lings­krise bezeichnen. Aus linker Perspek­tive wiederum erscheint es klar, dass die ‚Festung Europa‘ in der Flücht­lings­krise ledig­lich von der Realität einge­holt werde, weil es ihr unmög­lich weiterhin gelingen könne, sich vom Elend der globa­li­sierten Welt abzu­schotten. Selbst die radi­kale Linke, die stets ‚no borders‘ propa­gierte, gibt sich auf diese Weise selbst das Prädikat ‚realis­tisch‘.

Furcht ums Abendland von seinem rechten Rande her – Karl Brjullov: Geiserich fällt in Rom ein (1835)" Quelle: http://www.wikiart.org

Furcht ums Abend­land von seinem rechten Rande her – Karl Brjullov: „Geiserich fällt in Rom ein“ (1835), Quelle: wikiart.org

Realismus und „huma­ni­tärer Imperativ“

In diesem Kampf, in dem das Prädikat ‚realis­tisch‘ die höchste Beute darstellt, ließ vor allem Angela Merkels Fern­seh­ge­spräch mit Anne Will (am 28. Februar) aufhor­chen. Merkel sprach darin vom „huma­ni­tären Impe­rativ“ – im Hinblick auf ihre Entschei­dung im September 2015, die in Ungarn aufge­lau­fenen Flücht­linge aufzu­nehmen. Offen­sicht­lich sind in dieser Formu­lie­rung zwei Ausdrücke verdichtet: Zum einen das ‚Huma­ni­täre‘ als ein Prinzip des Handelns, das mensch­liche Not lindern will. Zum anderen aber klingt Kants ‚kate­go­ri­scher Impe­rativ‘ an, also das Refle­xi­ons­prinzip, gemäß dem der Mensch seinem Handeln eine Maxime zugrunde legen soll, die verall­ge­mei­nerbar ist und Gesetz werden kann. Diese Fähig­keit ist für Kant etwas Tran­szen­den­tales, das den Menschen als Vernunft­wesen ausmacht.

Merkels Rede vom „Impe­rativ“ war bestimmt kein Zufall. Die deut­sche Kanz­lerin demons­triert derzeit einen hohen Refle­xi­ons­grad hinsicht­lich der Voraus­set­zungen und Aufgaben poli­ti­schen Spre­chens. Viele, die sich norma­ler­weise poli­tisch nicht gerade dem konser­va­tiven Spek­trum zurechnen, sind beein­druckt, wie Merkel sich den Verfüh­rungen des poli­ti­schen Popu­lismus wider­setzt. Bestes Beispiel hierfür ist ihre Weige­rung, eine nume­ri­sche „Ober­grenze“ für die Aufnahme von Flücht­lingen einzu­führen. Eine „Ober­grenze“ wider­spricht, so Merkel, der Realität der Flücht­lings­ströme: Weil Deutsch­land nicht die Zahl derer begrenzen kann, die sich im Nahen Osten und anderswo aufma­chen, um von ihrem Recht Gebrauch zu machen, Asyl zu suchen, verträgt sich eine solche Ober­grenze eben nicht mit dem Menschen­recht; sie ist nicht mit seiner Logik vereinbar.

Zudem: Wenn jedes euro­päi­sche Land nach Gutdünken Ober­grenzen fest­legt, die Zahl der Flücht­linge die so fest­ge­legte Kapa­zität jedoch über­steigt, werden die Flücht­linge in Grie­chen­land stranden und eines der ärmsten Länder der Euro­päi­schen Union weiter in die Krise stürzen (was derzeit geschieht, weil alle Länder auf der Balkan­route ihre Grenzen schließen). Die (Un)Logik der Ober­grenze, die als Sprechakt eine neue Realität setzt, aber nicht auf Realität reagiert, taugt nicht als Maxime für die Euro­päi­sche Gemeinschaft.

Poli­ti­scher Realismus?

Was aber ist mit der ‚Realität‘ der Länder, die Flücht­linge aufnehmen: den über­quel­lenden Flücht­lings­un­ter­künften, den leeren Kassen der Kommunen und dem explo­si­ons­ar­tigen Stim­men­zu­wachs der rechts­po­pu­lis­ti­schen Parteien in Europa? Hat der Begründer des poli­ti­schen Realismus, Niccolo Machia­velli, darauf viel­leicht eine Antwort? „Jemand, der es darauf anlegt, in allen Dingen mora­lisch gut zu handeln, muß unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zu Grunde gehen“, heißt es in Machia­vellis Der Fürst (1513). Diese Sentenz lässt sich aller­dings auf zwei Weisen lesen. Einer­seits desavou­iert Machia­velli hier die Moral als allei­nige Richt­schnur poli­ti­schen Handelns. Ande­rer­seits ist damit aber auch klar impli­ziert, dass die uner­bitt­liche Wirk­lich­keit, an der die Tugend – die Orien­tie­rung am Wohl der Vielen – zu zerschellen droht, eine sozial konsti­tu­ierte ist, und die Menschen mehr oder weniger mora­lisch handeln können.

So ergibt sich das Paradox, dass dieje­nigen, die sagen, man könne sich nicht um die Moral scheren, selbst Teil des amora­li­schen „Haufens“ sind, auf den sie warnend zeigen. Merkel wird die ‚Realisten‘, die poli­ti­schen Gegner ihres Kurses (Viktor Orbán, Horst Seehofer) auf sanfte Weise nieder­ringen müssen. Sie bezich­tigt sie daher, taktisch klug, eher der Mutlo­sig­keit als der Demagogie. Tatsäch­lich aber sind ‚Realisten‘, die konsta­tieren, dass die ‚Realität‘ es gar nicht zulasse, gemäß einer mora­li­schen Maxime zu handeln, oft Zyniker, und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie die perfor­ma­tive, also wirk­lich­keitserzeu­gende Kraft ihrer eigenen Worte leugnen. Gemäß dem Sozio­logen Pierre Bour­dieu ist das Poli­ti­sche zwar grund­sätz­lich die „Reprä­sen­ta­tion“ der Gesell­schaft – eine inter­es­sierte Reprä­sen­ta­tion indes, hinter der Menschen geschart werden sollen, um ein Handeln zu unter­stützen, das (vermeint­lich) aus dieser Reprä­sen­ta­tion folgt. Dabei gibt es eine grund­sätz­liche Kluft zwischen Analyse der Wirk­lich­keit und poli­ti­scher Entschei­dung. Wo es sie nicht gibt, liegt keine poli­ti­sche Frage vor. Denn die Wirk­lich­keit bringt selbst kein poli­ti­sches Programm hervor – das Programm aber schafft ‚Wirk­lich­keit‘ als sozial konstru­ierte: als in Worte gefasste, an Maßstäben gemes­sene, aus bestimmten Perspek­tiven analysierte.

Poli­ti­sches Spre­chen schafft Realität

Hannah Arendt hat in ihrer Analyse des Tota­li­ta­rismus den Flucht­punkt poli­ti­schen Spre­chens benannt, das seine eigene Perfor­ma­ti­vität leugnet: die Beru­fung auf einen natür­li­chen oder geschicht­li­chen Deter­mi­nismus, ein unent­rinn­bares Selbst­er­hal­tungs­prinzip, das anschei­nend in der Wirk­lich­keit vorherr­sche. Dieses angeb­liche, sprach­lich beschwo­rene Prinzip sugge­riert, aus ihm sei kein Entkommen – wodurch sich, so scheint es, noch die unmensch­lichsten Taten recht­fer­tigen lassen. Genau darin liegt nun aller­dings das Problem. Es zeigt sich überall dort, wo poli­ti­sche Forde­rungen als notwen­dige Konse­quenz eines angeb­lich fest­ge­legten sozialen Mecha­nismus darge­stellt werden. Die ‚Realisten‘ verweisen zudem oft nicht einfach auf ein Sach­pro­blem (etwa auf die leeren Gemein­de­kassen), sondern auf die wach­sende Legi­ti­mität ‚radi­kaler Ansichten‘ in der Gesell­schaft. Das ähnelt dann der verqueren Logik, wonach man den Juden Einhalt gebieten soll, damit die Anti­se­miten nicht die Ober­hand gewinnen.

400 Jahre vor dem Siegeszug des Stacheldrahts, 500 Jahre vor Orban – Hans Baldung: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (um 1515), Quelle: http://www.wikiart.org

400 Jahre vor dem Siegeszug des Stachel­drahts, 500 Jahre vor Orban – Hans Baldung: „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ (um 1515), Quelle: wikiart.org

Was lässt sich aus diesen Über­le­gungen folgern? Erstens wäre es wichtig, auf dieje­nigen Realisten zu hören, die sich mit konkreten Heraus­for­de­rungen, Risiken und Gefahren beschäf­tigen. Die übrigen ‚Realisten‘, die immer nur voraus­sagen, dass der weniger mora­li­sche Weg (den sie selbst vertreten) sich ohnehin durch­setzen wird, sollte man schlicht weniger wichtig nehmen, als sie selbst sich fühlen. Zwei­tens sollte jeder, der an einer Versach­li­chung der Diskus­sion inter­es­siert ist, dem Eindruck entge­gen­wirken, als wäre dieser oder jener Weg der einzig ‚gang­bare‘, diese oder jene Entschei­dung die einzig ‚realis­ti­sche‘.

Nicht jede Entschei­dung im Sinne der Selbst­er­hal­tung wird zwangs­läufig in eine neue Form des Faschismus führen, umge­kehrt wird nicht jedes Risiko, das man um mora­li­scher Prin­zi­pi­en­treue willen eingeht, unaus­weich­lich von einem uner­bitt­lich in der Natur waltenden Selbst­er­hal­tungs­prinzip mit dem Unter­gang der Nation bestraft werden. Doch warum werden in der derzei­tigen Diskus­sion nie weitere, alter­na­tive Szena­rien auf den Tisch gebracht? Warum nie Vergleichs­größen für die Kosten? Warum werden die Menschen nie konkret gefragt, wie viel Wohl­stand sie für ihre Moral zu riskieren bereit sind, und wie viel mora­li­sche Schuld für ihr Wohlergehen?

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Nun werden Freunde einer eher mate­ria­lis­ti­schen Gesell­schafts­ana­lyse diese Kontem­pla­tion viel­leicht als Merkel-Eloge und fade Vertei­di­gung des Ideals gegen­über der Realität abtun. Was ist Merkels ‚huma­ni­tärer Impe­rativ‘, was ist ihr Programm schon wert ange­sichts der unfass­baren Not? Natür­lich strotzt die Flücht­lings­po­litik von Merkel von Absur­di­täten und heuch­le­ri­schen Kompro­missen. Warum genau und wie muss „Schleu­sern das Hand­werk gelegt werden“? Und was genau heißt „Siche­rung der Außengrenzen“?

Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps?

Wenn man davon ausgeht, dass Menschen mit legi­timen Gründen aus ihrer Heimat fliehen und man Schleu­sern wirk­lich das Geschäft abgraben möchte, warum führt man dann nicht beispiels­weise – wie es die radi­kale Linke fordert – die Möglich­keit eines Online-Asylantrags aus dem Heimat­land ein? – Ein weiteres Beispiel für Schein­hei­lig­keit: Will sich Deutsch­land mit der exklu­siven Aufnahme syri­scher Flücht­linge nicht das größte Human­ka­pital unter den Flücht­lings­gruppen sichern? Ist es nicht allzu durch­sichtig, dass Deutsch­land zugleich alle mögli­chen anderen Länder zu ‚sicheren‘ Herkunfts­län­dern erklärt, um die Zahl der Aufzu­neh­menden zu verrin­gern? Und kann, ja darf man ange­sichts aller­orts sich auflö­sender Staat­lich­keit wirk­lich zwischen poli­ti­schem Flücht­ling und Wirt­schafts­flücht­ling unterscheiden?

Man hofft inständig, Dronen werden den Impressionismus ersetzen – Joaquín Sorolla: Araber, der eine Pistole überprüft (1881), Quelle: http://www.wikiart.org

Man hofft inständig, Dronen werden den Impres­sio­nismus ersetzen – Joaquín Sorolla: „Araber, der eine Pistole über­prüft“ (1881), Quelle: wikiart.org

Wer aller­dings nicht die radi­kale Lösung vertritt (und wem kann man das eigent­lich verübeln?), dass alle Grenzen sofort fallen sollten, wer aner­kennt, dass recht­liche und soziale Stan­dard geschicht­lich mit den Insti­tu­tionen des Natio­nal­staats und trans­na­tio­nalen Insti­tu­tionen verbunden sind, die Rechte gewähren und schützen, der wird auch aner­kennen, dass eigent­lich ‚univer­selle Rechte‘ histo­risch ‚ihre Grenzen kennen‘. Wer aller­dings – wie Rüdiger Safranski in seiner Kant-Exegese für die Welt­woche – die univer­sa­lis­ti­sche Moral als Leit­faden für die Politik gänz­lich desavou­iert, weil diese sich ja in einem undenk­baren und nicht wünschens­werten Welt­staat verkör­pern müsste, während Politik zwischen souve­ränen Staaten immer vom anderen, dem Prinzip der Klug­heit, geleitet sein müsste, verkürzt das Problem der Verschlun­gen­heit von Moral und Politik entscheidend.

Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps? Kaum, denn aus guten Gründen wird man wohl auch die ‚kluge Politik‘ auf die zuneh­mende Auswei­tung von univer­sellen Rechten verpflichten wollen. Alles andere wäre ein Schritt hinter die Aufklä­rung zurück – und hin zur grund­sätz­li­chen Ungleich­heit zwischen Menschen, wie sie im vormo­dernen Abso­lu­tismus Gesetz war und wovon alle Reak­tio­näre bis heute träumen. Und schließ­lich steht die nun überall gras­sie­rende Sehn­sucht nach souve­räner Klein­staa­terei der Lösung der Probleme unserer globa­li­sierten Welt entgegen.

Bei Machia­velli findet sich auch die Lehre, der gemäß der Fürst nicht an mora­li­sche Vorsätze gebunden bleibt, wenn sie seinen objek­tiven Inter­essen wider­spre­chen, er indes seinem Handeln den Anschein des Mora­li­schen geben soll. Man mag viel­leicht argwöhnen, dass Angela Merkel diese Maxime nun mit ihrem Rück­ru­dern in der Flücht­lings­po­litik beher­zigt. Man kann Machia­velli aller­dings auch so inter­pre­tieren, dass ein gele­gent­li­ches Handeln im Inter­esse der Herr­schafts­si­che­rung, das sich dabei noch ‚den Anschein des Mora­li­schen‘ gibt, auch eine Art Kompro­miss darstellen kann. Wenigs­tens setzt sich Merkels Schlin­ger­kurs vom blanken Zynismus positiv ab. Sie versucht die poli­ti­sche Bühne Europas für den Auftritt der Tugend offen zu halten.

Dem Wort­laut der poli­ti­schen Aussage muss in einer – gelinde gesagt – unvoll­kom­menen Welt größte Aufmerk­sam­keit geschenkt werden. Denn auch wenn sich Moral im Handeln zu bewähren hat, ist sie doch der – immer perfor­ma­tiven, wirk­lich­keitschaf­fenden – poli­ti­schen Aussage nicht äußer­lich, sondern ihr notwendig inhä­rent. Allein, welche Moral, wäre dann noch die Frage. War etwa die aufse­hen­er­re­gende Nach­richt, 81 Prozent der Deut­schen glaubten, die Kanz­lerin habe die Krise nicht mehr im Griff, wirk­lich ‚Demo­skopie‘, d.h. eine ‚realis­ti­sche‘ Darstel­lung der Meinungs­lage, oder nicht viel­mehr unver­ant­wort­liche Meinungs­steue­rung? Man kann auch mit scheinbar ‚realis­ti­schen‘ Fragen mani­pu­lativ sein. Denn wäre eine Situa­tion, die jemand, zumal ein einziger Akteur, im Griff hat, tatsäch­lich eine Krise…? Zwei­fellos nicht. Europa aber steckt in einer tiefen, tiefen Krise! In ihr gilt: Realisten bitte beisei­te­treten! Man sieht ja gar nichts!