Im Streit um die richtige politische Reaktion auf die Flüchtlingskrise wird wohl derzeit keine Sau so unbarmherzig durchs europäische Dorf getrieben wie der ‚Realismus‘. Jeder reklamiert das Prädikat für sich, und jeder ist ‚realistischer‘ als der andere. Und dies gilt anscheinend für das ganze politische Spektrum. ‚Realistisch‘ nennt sich die ‚politische Mitte‘, die das Recht aller Menschen, Asyl zu suchen, im Prinzip anerkennt, jedoch mit Blick auf die realen Gegebenheiten meint, dass bei der Implementierung dieses Rechts Kompromisse unausweichlich sind. ‚Realistisch‘ wähnt sich die politische Rechte in ihrer Kennzeichnung der Gefahr, die von den Migranten ausgehe. So hält sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán für den einzig ‚realistischen‘ Beschützer des europäischen Abendlandes, weil er die Flüchtlinge – als potenzielle Terroristen von morgen – an der ungarischen Grenze abgeschmettert hat. Und auch in der bayerischen CSU finden sich Stimmen, die sein Zaunbauprojekt als ‚einzig realistischen Weg‘ aus der Flüchtlingskrise bezeichnen. Aus linker Perspektive wiederum erscheint es klar, dass die ‚Festung Europa‘ in der Flüchtlingskrise lediglich von der Realität eingeholt werde, weil es ihr unmöglich weiterhin gelingen könne, sich vom Elend der globalisierten Welt abzuschotten. Selbst die radikale Linke, die stets ‚no borders‘ propagierte, gibt sich auf diese Weise selbst das Prädikat ‚realistisch‘.

Furcht ums Abendland von seinem rechten Rande her – Karl Brjullov: „Geiserich fällt in Rom ein“ (1835), Quelle: wikiart.org
Realismus und „humanitärer Imperativ“
In diesem Kampf, in dem das Prädikat ‚realistisch‘ die höchste Beute darstellt, ließ vor allem Angela Merkels Fernsehgespräch mit Anne Will (am 28. Februar) aufhorchen. Merkel sprach darin vom „humanitären Imperativ“ – im Hinblick auf ihre Entscheidung im September 2015, die in Ungarn aufgelaufenen Flüchtlinge aufzunehmen. Offensichtlich sind in dieser Formulierung zwei Ausdrücke verdichtet: Zum einen das ‚Humanitäre‘ als ein Prinzip des Handelns, das menschliche Not lindern will. Zum anderen aber klingt Kants ‚kategorischer Imperativ‘ an, also das Reflexionsprinzip, gemäß dem der Mensch seinem Handeln eine Maxime zugrunde legen soll, die verallgemeinerbar ist und Gesetz werden kann. Diese Fähigkeit ist für Kant etwas Transzendentales, das den Menschen als Vernunftwesen ausmacht.
Merkels Rede vom „Imperativ“ war bestimmt kein Zufall. Die deutsche Kanzlerin demonstriert derzeit einen hohen Reflexionsgrad hinsichtlich der Voraussetzungen und Aufgaben politischen Sprechens. Viele, die sich normalerweise politisch nicht gerade dem konservativen Spektrum zurechnen, sind beeindruckt, wie Merkel sich den Verführungen des politischen Populismus widersetzt. Bestes Beispiel hierfür ist ihre Weigerung, eine numerische „Obergrenze“ für die Aufnahme von Flüchtlingen einzuführen. Eine „Obergrenze“ widerspricht, so Merkel, der Realität der Flüchtlingsströme: Weil Deutschland nicht die Zahl derer begrenzen kann, die sich im Nahen Osten und anderswo aufmachen, um von ihrem Recht Gebrauch zu machen, Asyl zu suchen, verträgt sich eine solche Obergrenze eben nicht mit dem Menschenrecht; sie ist nicht mit seiner Logik vereinbar.
Zudem: Wenn jedes europäische Land nach Gutdünken Obergrenzen festlegt, die Zahl der Flüchtlinge die so festgelegte Kapazität jedoch übersteigt, werden die Flüchtlinge in Griechenland stranden und eines der ärmsten Länder der Europäischen Union weiter in die Krise stürzen (was derzeit geschieht, weil alle Länder auf der Balkanroute ihre Grenzen schließen). Die (Un)Logik der Obergrenze, die als Sprechakt eine neue Realität setzt, aber nicht auf Realität reagiert, taugt nicht als Maxime für die Europäische Gemeinschaft.
Politischer Realismus?
Was aber ist mit der ‚Realität‘ der Länder, die Flüchtlinge aufnehmen: den überquellenden Flüchtlingsunterkünften, den leeren Kassen der Kommunen und dem explosionsartigen Stimmenzuwachs der rechtspopulistischen Parteien in Europa? Hat der Begründer des politischen Realismus, Niccolo Machiavelli, darauf vielleicht eine Antwort? „Jemand, der es darauf anlegt, in allen Dingen moralisch gut zu handeln, muß unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zu Grunde gehen“, heißt es in Machiavellis Der Fürst (1513). Diese Sentenz lässt sich allerdings auf zwei Weisen lesen. Einerseits desavouiert Machiavelli hier die Moral als alleinige Richtschnur politischen Handelns. Andererseits ist damit aber auch klar impliziert, dass die unerbittliche Wirklichkeit, an der die Tugend – die Orientierung am Wohl der Vielen – zu zerschellen droht, eine sozial konstituierte ist, und die Menschen mehr oder weniger moralisch handeln können.
So ergibt sich das Paradox, dass diejenigen, die sagen, man könne sich nicht um die Moral scheren, selbst Teil des amoralischen „Haufens“ sind, auf den sie warnend zeigen. Merkel wird die ‚Realisten‘, die politischen Gegner ihres Kurses (Viktor Orbán, Horst Seehofer) auf sanfte Weise niederringen müssen. Sie bezichtigt sie daher, taktisch klug, eher der Mutlosigkeit als der Demagogie. Tatsächlich aber sind ‚Realisten‘, die konstatieren, dass die ‚Realität‘ es gar nicht zulasse, gemäß einer moralischen Maxime zu handeln, oft Zyniker, und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie die performative, also wirklichkeitserzeugende Kraft ihrer eigenen Worte leugnen. Gemäß dem Soziologen Pierre Bourdieu ist das Politische zwar grundsätzlich die „Repräsentation“ der Gesellschaft – eine interessierte Repräsentation indes, hinter der Menschen geschart werden sollen, um ein Handeln zu unterstützen, das (vermeintlich) aus dieser Repräsentation folgt. Dabei gibt es eine grundsätzliche Kluft zwischen Analyse der Wirklichkeit und politischer Entscheidung. Wo es sie nicht gibt, liegt keine politische Frage vor. Denn die Wirklichkeit bringt selbst kein politisches Programm hervor – das Programm aber schafft ‚Wirklichkeit‘ als sozial konstruierte: als in Worte gefasste, an Maßstäben gemessene, aus bestimmten Perspektiven analysierte.
Politisches Sprechen schafft Realität
Hannah Arendt hat in ihrer Analyse des Totalitarismus den Fluchtpunkt politischen Sprechens benannt, das seine eigene Performativität leugnet: die Berufung auf einen natürlichen oder geschichtlichen Determinismus, ein unentrinnbares Selbsterhaltungsprinzip, das anscheinend in der Wirklichkeit vorherrsche. Dieses angebliche, sprachlich beschworene Prinzip suggeriert, aus ihm sei kein Entkommen – wodurch sich, so scheint es, noch die unmenschlichsten Taten rechtfertigen lassen. Genau darin liegt nun allerdings das Problem. Es zeigt sich überall dort, wo politische Forderungen als notwendige Konsequenz eines angeblich festgelegten sozialen Mechanismus dargestellt werden. Die ‚Realisten‘ verweisen zudem oft nicht einfach auf ein Sachproblem (etwa auf die leeren Gemeindekassen), sondern auf die wachsende Legitimität ‚radikaler Ansichten‘ in der Gesellschaft. Das ähnelt dann der verqueren Logik, wonach man den Juden Einhalt gebieten soll, damit die Antisemiten nicht die Oberhand gewinnen.

400 Jahre vor dem Siegeszug des Stacheldrahts, 500 Jahre vor Orban – Hans Baldung: „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ (um 1515), Quelle: wikiart.org
Was lässt sich aus diesen Überlegungen folgern? Erstens wäre es wichtig, auf diejenigen Realisten zu hören, die sich mit konkreten Herausforderungen, Risiken und Gefahren beschäftigen. Die übrigen ‚Realisten‘, die immer nur voraussagen, dass der weniger moralische Weg (den sie selbst vertreten) sich ohnehin durchsetzen wird, sollte man schlicht weniger wichtig nehmen, als sie selbst sich fühlen. Zweitens sollte jeder, der an einer Versachlichung der Diskussion interessiert ist, dem Eindruck entgegenwirken, als wäre dieser oder jener Weg der einzig ‚gangbare‘, diese oder jene Entscheidung die einzig ‚realistische‘.
Nicht jede Entscheidung im Sinne der Selbsterhaltung wird zwangsläufig in eine neue Form des Faschismus führen, umgekehrt wird nicht jedes Risiko, das man um moralischer Prinzipientreue willen eingeht, unausweichlich von einem unerbittlich in der Natur waltenden Selbsterhaltungsprinzip mit dem Untergang der Nation bestraft werden. Doch warum werden in der derzeitigen Diskussion nie weitere, alternative Szenarien auf den Tisch gebracht? Warum nie Vergleichsgrößen für die Kosten? Warum werden die Menschen nie konkret gefragt, wie viel Wohlstand sie für ihre Moral zu riskieren bereit sind, und wie viel moralische Schuld für ihr Wohlergehen?
Nun werden Freunde einer eher materialistischen Gesellschaftsanalyse diese Kontemplation vielleicht als Merkel-Eloge und fade Verteidigung des Ideals gegenüber der Realität abtun. Was ist Merkels ‚humanitärer Imperativ‘, was ist ihr Programm schon wert angesichts der unfassbaren Not? Natürlich strotzt die Flüchtlingspolitik von Merkel von Absurditäten und heuchlerischen Kompromissen. Warum genau und wie muss „Schleusern das Handwerk gelegt werden“? Und was genau heißt „Sicherung der Außengrenzen“?
Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps?
Wenn man davon ausgeht, dass Menschen mit legitimen Gründen aus ihrer Heimat fliehen und man Schleusern wirklich das Geschäft abgraben möchte, warum führt man dann nicht beispielsweise – wie es die radikale Linke fordert – die Möglichkeit eines Online-Asylantrags aus dem Heimatland ein? – Ein weiteres Beispiel für Scheinheiligkeit: Will sich Deutschland mit der exklusiven Aufnahme syrischer Flüchtlinge nicht das größte Humankapital unter den Flüchtlingsgruppen sichern? Ist es nicht allzu durchsichtig, dass Deutschland zugleich alle möglichen anderen Länder zu ‚sicheren‘ Herkunftsländern erklärt, um die Zahl der Aufzunehmenden zu verringern? Und kann, ja darf man angesichts allerorts sich auflösender Staatlichkeit wirklich zwischen politischem Flüchtling und Wirtschaftsflüchtling unterscheiden?

Man hofft inständig, Dronen werden den Impressionismus ersetzen – Joaquín Sorolla: „Araber, der eine Pistole überprüft“ (1881), Quelle: wikiart.org
Wer allerdings nicht die radikale Lösung vertritt (und wem kann man das eigentlich verübeln?), dass alle Grenzen sofort fallen sollten, wer anerkennt, dass rechtliche und soziale Standard geschichtlich mit den Institutionen des Nationalstaats und transnationalen Institutionen verbunden sind, die Rechte gewähren und schützen, der wird auch anerkennen, dass eigentlich ‚universelle Rechte‘ historisch ‚ihre Grenzen kennen‘. Wer allerdings – wie Rüdiger Safranski in seiner Kant-Exegese für die Weltwoche – die universalistische Moral als Leitfaden für die Politik gänzlich desavouiert, weil diese sich ja in einem undenkbaren und nicht wünschenswerten Weltstaat verkörpern müsste, während Politik zwischen souveränen Staaten immer vom anderen, dem Prinzip der Klugheit, geleitet sein müsste, verkürzt das Problem der Verschlungenheit von Moral und Politik entscheidend.
Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps? Kaum, denn aus guten Gründen wird man wohl auch die ‚kluge Politik‘ auf die zunehmende Ausweitung von universellen Rechten verpflichten wollen. Alles andere wäre ein Schritt hinter die Aufklärung zurück – und hin zur grundsätzlichen Ungleichheit zwischen Menschen, wie sie im vormodernen Absolutismus Gesetz war und wovon alle Reaktionäre bis heute träumen. Und schließlich steht die nun überall grassierende Sehnsucht nach souveräner Kleinstaaterei der Lösung der Probleme unserer globalisierten Welt entgegen.
Bei Machiavelli findet sich auch die Lehre, der gemäß der Fürst nicht an moralische Vorsätze gebunden bleibt, wenn sie seinen objektiven Interessen widersprechen, er indes seinem Handeln den Anschein des Moralischen geben soll. Man mag vielleicht argwöhnen, dass Angela Merkel diese Maxime nun mit ihrem Rückrudern in der Flüchtlingspolitik beherzigt. Man kann Machiavelli allerdings auch so interpretieren, dass ein gelegentliches Handeln im Interesse der Herrschaftssicherung, das sich dabei noch ‚den Anschein des Moralischen‘ gibt, auch eine Art Kompromiss darstellen kann. Wenigstens setzt sich Merkels Schlingerkurs vom blanken Zynismus positiv ab. Sie versucht die politische Bühne Europas für den Auftritt der Tugend offen zu halten.
Dem Wortlaut der politischen Aussage muss in einer – gelinde gesagt – unvollkommenen Welt größte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn auch wenn sich Moral im Handeln zu bewähren hat, ist sie doch der – immer performativen, wirklichkeitschaffenden – politischen Aussage nicht äußerlich, sondern ihr notwendig inhärent. Allein, welche Moral, wäre dann noch die Frage. War etwa die aufsehenerregende Nachricht, 81 Prozent der Deutschen glaubten, die Kanzlerin habe die Krise nicht mehr im Griff, wirklich ‚Demoskopie‘, d.h. eine ‚realistische‘ Darstellung der Meinungslage, oder nicht vielmehr unverantwortliche Meinungssteuerung? Man kann auch mit scheinbar ‚realistischen‘ Fragen manipulativ sein. Denn wäre eine Situation, die jemand, zumal ein einziger Akteur, im Griff hat, tatsächlich eine Krise…? Zweifellos nicht. Europa aber steckt in einer tiefen, tiefen Krise! In ihr gilt: Realisten bitte beiseitetreten! Man sieht ja gar nichts!