
In der Literaturszene findet sich aktuell eine verstärkte Auseinandersetzung mit der frag-würdig gewordenen Beziehung von Mensch und ‚Natur‘: Der Berliner Verlag Matthes & Seitz gibt inhaltlich wie visuell reizvolle naturkundliche Einblicke mit seiner seit 2013 erscheinenden Reihe Naturkunden; die mittlerweile verfilmten Bestsellerbücher des Försters Peter Wohlleben über Bäume sorgen dafür, dass deren Eigenleben nicht mehr ganz so geheim sind, wie die auratischen Titel suggerieren; und ein Roman wie Laline Paulls The Bees (2014), der komplett aus der Sicht eines Insekts geschrieben wurde, erhält weltweit positive Resonanz. Selbst von anthropologischer Seite finden sich literarisierte Beiträge, die große Aufmerksamkeit erhalten – so zuletzt Nastassja Martins vielfach rezipiertes Buch Croire aux fauves (dt. An das Wilde glauben, 2021) über ihre beinahe tödliche Begegnung mit einem Bären, die sie in einer autoethnografisch-poetisierten Suchbewegung reflektiert.
Inwiefern wird jedoch in aktuellen Veröffentlichungen das Verhältnis von Mensch und Umwelt erzählerisch verarbeitet oder gar neu justiert? Gerade im Kontext literarischer Verfahren, die das Augenmerk auf naturkulturelle Verflechtungen richten, wie etwa im erneut an Aufschwung gewinnenden

Faszination für das Wilde: Cover der deutschen Ausgabe von Nastassja Martins „An das Wilde glauben“.
‚Nature Writing‘, lässt sich nach den anthropozentrischen Fortschreibungen fragen – insbesondere in einer kontinuierlichen Konfrontation von Frau und Wildnis, wie sie sich in Martins Buch wiederfindet. Betrachtet man die bis dato gleichsam ‚kanonischen‘ Geschichten von Begegnungen zwischen Menschen und Tieren, fällt in besonderer Weise auf, dass sich in jüngster Zeit das protagonistisch auftretende Geschlecht wandelt oder zumindest entschieden diverser gestaltet. So waren es bisher zumeist Männer, oft Abenteurer im weitesten Sinne, die in Konfrontation mit einem wilden Tier gingen. Aufschlussreich ist nun, dass in gegenwärtigen Erzählungen vermehrt Frauen auftreten. In diesen feminin geprägten Beziehungen steht nicht primär die gewaltvolle Begegnung von Tier und Frau im Vordergrund, sondern die Faszination für das Wilde, Unkontrollierte, Ungezähmte – um nur ein paar Assoziationen zu umreißen.
Die Deutung der Beute
Für diese Tendenz lässt sich exemplarisch der bereits erwähnte Essay von Nastassja Martin, die während einer Forschungsreise auf Kamtschatka fast von einem Bären zu Tode gebissen wurde, heranziehen. Die Autorin beschreibt, wie die Konsequenzen dieser fatalen Nähe zum Prädator ihr weiteres Leben als Überlebende prägen. Martin umkreist mit verschiedenen Deutungsversuchen ihre Erlebnisse in der Wildnis, wobei Deutung und Erzählung derart ineinandergreifen, dass sich deren Differenz fast verliert. Ihre Schilderungen erinnern wiederum an die Geschichte der australischen Philosophin Val Plumwood, die bei einem Angriff durch ein Krokodil stark verletzt wurde. Ebenso wie Martin reflektiert Plumwood dieses Erlebnis und beschreibt vor allem die transformative Kraft des Beinahe-Todes als Beute eines stärkeren Tieres.
In dem Aufsatz Human vulnerability and the experience of being prey (1995) sowie in der posthum erschienenen Studie The Eye of the Crocodile (2012) findet Plumwood zu (selbst-)kritischen Erkenntnissen über den westlichen Anthropozentrismus. Die Begegnung mit dem Raubtier führt in beiden Fällen zu einer umfassenden Reflexion der eigenen Existenz. Die zwei Autorinnen verstehen Menschen als Teil der Natur und nicht als eine überlegene Spezies in vermeintlicher „Distanz zur Natur“ (Hans Blumenberg). Nachdem sie fast zur Beute von Wildtieren wurden, unterlaufen sowohl Plumwood als auch Martin das Narrativ, der Mensch sei stets das dominierende, aktive Subjekt. An die Stelle von gewollter oder faktischer Konfrontation treten Versuche, die eigene Involviertheit in den „Lauf der natürlichen Dinge“ zu erwägen.
Dabei betont Plumwood, dass weder eine romantisierende Darstellung der Natur als Idylle noch eine Ausblendung der ethischen Verantwortung, die wir gegenüber anderen Lebewesen haben, angemessen sei. Ebenso wie der Mensch, der mehr sei als essbares Fleisch, müssten auch die Rechte von Tieren und Pflanzen geachtet werden. Als potentielles Glied in einer Nahrungskette, die alles andere als gewaltfrei ist, problematisiert Plumwood zugleich ihren eigenen Vegetarismus; denn mit der Gleichstellung von Mensch und Tier stellt sich auch die Frage, inwiefern der Dualismus Mensch und Umwelt in Form des Vegetarismus nicht etwa perpetuiert werde. Oder exemplarischer formuliert: Erlaubt es die Erfahrung, von einem Krokodil als Stück Fleisch wahrgenommen zu werden, nicht gerade einzelne Tiere ebenso als Nahrung zu behandeln, auch wenn das ganzheitliche Wohlergehen aller Bedeutung hat?
Diese Frage findet sich bereits in Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963):

Die letzte Frau: Filmstill aus der Adaption von Marlen Haushofers „Die Wand“ (Regie: Julian Pölsler, 2012)
Die Protagonistin ernährt sich zwar von Tieren, hat zu ihren animalischen Freund:innen zugleich aber ein so enges Verhältnis, das sie den einzigen Mann, den sie in den Jahren ohne Menschenkontakt trifft, ohne zu zögern tötet, als er einen Stier und den Hund umbringt. Obgleich Die Wand ein sehr frühes Romanbeispiel einer Tier-Frau-Beziehung ist, wurde das Buch erst jüngst in Frankreich von einer Bloggerin wiederentdeckt. Im Anschluss kam der französische Verlag Actes Sud mit dem Nachdrucken des Romans kaum hinterher. Dass das Buch seit 2019 erneut einen Nerv zu treffen scheint, kommt nicht von ungefähr. Die Rezeptionsbedingungen haben sich nachhaltig verschoben, ohne dass sich das Rezipierte verändert hätte. Haushofers Roman kann somit der lebhaft geführten Diskussion von genuin weiblichen Perspektiven mit einem entsprechenden Naturverständnis ebenso als literarisches Beispiel dienen.
Vom Gegner zum Gegenüber
Bereits Plumwood wird mit ihren Ansichten in der seit den 1970er Jahren geführten und lange Zeit als ‚ökofeministisch‘ etikettierten Debatte verortet. Deren sehr unterschiedliche Positionen werden grundlegend geeint durch die Annahme, dass es eine strukturelle Gemeinsamkeit zwischen der patriarchalen Unterdrückung von Frauen und jener der natürlichen Umwelt gebe. Hier verbinden sich zwei politisch motivierte Forderungen – jene nach der Gleichberechtigung der Frauen und jene nach genuinen Tierrechten – zu einem grundlegenden Appell, die Perspektiven von als ‚schwächer‘ deklarierten Gruppierungen zu stärken. Nach einer immer stärkeren Ausdifferenzierung feministischer Ansätze, auch und gerade im Rahmen der Transgender-Debatte, muss die unterstellte Naturnähe von Frauen allein durch ein biologisches Geschlecht ihrerseits kritisch beleuchtet werden. Denn der Versuch berechtigter Kritik am bisherigen Diskurs steht in der Gefahr, diesen mit umgekehrten Vorzeichen einfach fortzuführen.

Das wilde Tier als das Andere der Frau.
Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich auch die Frage, welche Beziehung von Frau und Tier bei Martin in Croire aux fauves unterstellt wird. Auffällig ist, dass die Autorin durchaus erotisch anmutende Beschreibungen des Bären liefert, etwa, wenn sein brutaler Biss als „Kuss“ beschrieben wird – interessanterweise ist die Schnauze des Bären auf dem Cover der deutschen Ausgabe dann auch in Herzform gemalt. Der Bär erkenne sich in der Frau und greife sie daher an, wie es in einer Passage geschildert ist. Der Bär sei das Andere der Frau, sodass ihr Zusammentreffen zu einer Art Verbindung stilisiert wird. Hier folgt Martin dem animistischen Glauben der Ewen:innen, einem von ihr als naturnah
beschriebenen Volk, das in der russischen Hochebene ansässig ist, und sie betont den Zustand der Alterität zwischen Wildtier und Frau. An anderer Stelle schreibt Martin davon, wie sie von einem Mann gefragt wird, ob sie dem Bären „vergeben“ habe – sie bejaht, ohne sich dessen sicher zu sein. Hier zeigt sich eine durchaus fragwürdige Tendenz der Vergebung gegenüber der Gewalt, die ihr begegnet ist.
Doch Martin bietet in Croire aux fauves für ihr brutales Aufeinandertreffen mit dem Bären nicht nur eine, sondern verschiedene Lesarten an. Dies scheint ihrerseits eine Kommentierung der Debatte zu sein, die literarisch verarbeitet wird und macht die Stärke des dadurch ambivalent bleibenden, nicht festgelegten Textes aus. Hier werden Deutungsversuche angeboten, die entstehen, wenn Gepflogenheiten erodiert sind, aber noch diesseits erneuter Vereindeutigung liegen. Was Martin und Plumwood eint, ist, dass gerade nicht die nüchternen Fakten der eigentlichen Tierattacke, sondern die interpretativen Akte der Sinnstiftung im Mittelpunkt stehen. Beiden ist an dem Versuch gelegen, der gefährlichen Begegnung eine konstruktive Deutung abzuringen, nicht ohne die Limitierungen dieser Anläufe mitzubedenken. Statt das Tier – nur – als Gegner zu verstehen, regt dessen Angriff eine existentielle Selbstbefragung der eigenen Natur und der Verortung innerhalb der (Um-)Welt an. Nicht die Überwindung des Raubtiers und seine Vernichtung, sondern die Verbindung mit dem Animalischen wird angestrebt.
Dass Narrative über Frauen, die körperlich stärkeren Tieren gegenüberstehen, derzeit beliebt sind, lässt sich sicher teilweise durch ein emanzipatorisches Movens verständlich machen. Ihre offensichtliche Verwundbarkeit als Mensch und körperlich unterlegenes Individuum führt zum einen zu einer existentiellen Verunsicherung, zum anderen gewinnen die Protagonistinnen gerade aus der fast tödlichen Konfrontation neue Erkenntnisse, die sie letztlich als Transformation begreifen. Darüber hinaus drückt sich jedoch ein Wunsch nach einer Verbundenheit von Mensch und Tier über eine ‚Figur des Dritten‘ – die Natur, die beide umgreift – aus. Selbst oder vielleicht auch gerade das Raubtier wird zum Verbündeten, es findet somit eine Identifikation mit dem Aggressor statt. Neben diesem durchaus kritisch zu betrachtenden, da ‚weiblich‘ konnotierten Gestus von Verzeihen und Ertragen, thematisiert die beschriebene Begegnung von Frau und Bär einen von Martin als unangebracht empfundenen Dualismus zwischen Mensch und Umwelt. Mit Croire aux fauves sucht Martin jenes Entfremdungsgefühl zu überwinden, indem sie eine Verbindung über Artengrenzen hinaus anstrebt.
Die ‚reine‘ Natur?
Zugleich fällt auf, dass sich jene Verbundenheit in beiden Fällen offensichtlich nur in einer von Menschen noch nicht zur Gänze ‚verdorbenen‘ Landschaft entdecken lässt. Ihre Erkenntnisse haben Martin und Plumwood nicht einer Begegnung mit Großstadttauben oder in den Vorgärten einer Kleinstadt gewonnen, sondern in einer fernen, weiten Wildnis und ihrer möglichst unberührten Natur. Hier verrät sich ein antiurbanes Moment, das der Philosoph und Künstler Fahin Amir in seinem Buch Schwein und Zeit (2018) als durch und durch bourgeoise Idee jener beschreibt, die es sich leisten können, die Natur ansonsten nicht zu berühren. Oftmals werde infolgedessen eine menschenleere, reine und wilde Natur imaginiert. Hierbei werden Natur und Mensch stetig gegeneinander ausgespielt. Ohne Martin oder Plumwood unterstellen zu wollen, eben jenen Dualismus von purer Natur und ‚unnatürlicher‘ westlicher Zivilisation öffnen zu wollen, fällt doch auf, dass sich ihr initiativer Impuls eben den Fantasien von solchen Naturräumen verdankt.
Je weniger wir in realen Beziehungen zu Tieren und zur Natur stehen, so scheint es, desto mehr imaginieren wir sie in Erzählungen. Je abstrakter das Verhältnis zu anderen Lebewesen wird, desto mehr suchen wir nach neuen Zugängen, um eine Verbindung zu einer als ursprünglich deklarierten Natur wiederherzustellen. Dies dient nicht zuletzt der eigenen Verortung in einer sich drastisch transformierenden Lebenswelt, in welcher die Rechte lange marginalisierter Lebensweisen zunehmend geschützt werden sollen. Sinnstiftung wird geschaffen, indem wir uns selbst als ‚natürliche‘ Lebewesen erfahren und interpretieren, uns also im Anderen der Natur wiederentdecken.
In der Konsequenz schützen wir somit nicht nur bedrohte Arten und Lebensräume, sondern uns selbst. Narrative, die diese Relation der Abhängigkeit unterstreichen, haben vielleicht gerade daher Konjunktur in einer Zeit, in welcher die Klimakrise mehr und mehr zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema wird. Man kommt kaum umhin, in diesem emphatischen Versuch auch eine gewisse Instrumentalisierung zugunsten der (Selbst-)Erkenntnis zu sehen, die den eigentlich kritisch adressierten Anthropozentrismus fortzuschreiben droht. Und nur zu vermuten ist, dass in dem Moment, wo die Menschen sich mit allen Daseinsformen verwandt fühlen, wieder ein Relativierungs- und erneuter Differenzierungsprozess einsetzen wird. Das ernste Spiel von emphatischer Inklusion der (eigenen) Natur und engagierter Markierung von kleinen und großen Unterschieden zwischen allen Lebewesen ginge dann in die nächste Runde.