Im klassischen Nature Writing zogen männliche Abenteurer in die Wildnis; heute erzählen Frauen, wie Angriffe wilder Tiere sie verwandelt haben. Stellen sie die anthropozentrische Ordnung damit in Frage – oder schreiben sie sie mit anderen Mitteln fort?

  • Hannah von Sass

    Hannah von Sass (geb. Fissenebert) hat an der Universität Hildesheim und der Université de Provence Aix-Marseille Szenische Künste studiert. 2018 promovierte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin in Deutscher Literatur; seit 2021 hat sie eine DFG Eigene Stelle am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin inne. Ab 2022 leitet sie das dort situierte DFG-Netzwerk „Gegenwartsdramatik“. Sie arbeitet zudem als freie Autorin für Theater, Oper und Film.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Raub­tier werden. Öko-feministische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
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In der Lite­ra­tur­szene findet sich aktuell eine verstärkte Ausein­an­der­set­zung mit der frag-würdig gewor­denen Bezie­hung von Mensch und ‚Natur‘: Der Berliner Verlag Matthes & Seitz gibt inhalt­lich wie visuell reiz­volle natur­kund­liche Einblicke mit seiner seit 2013 erschei­nenden Reihe Natur­kunden; die mitt­ler­weile verfilmten Best­sel­ler­bü­cher des Förs­ters Peter Wohl­leben über Bäume sorgen dafür, dass deren Eigen­leben nicht mehr ganz so geheim sind, wie die aura­ti­schen Titel sugge­rieren; und ein Roman wie Laline Paulls The Bees (2014), der komplett aus der Sicht eines Insekts geschrieben wurde, erhält welt­weit posi­tive Reso­nanz. Selbst von anthro­po­lo­gi­scher Seite finden sich lite­r­a­ri­sierte Beiträge, die große Aufmerk­sam­keit erhalten – so zuletzt Nastassja Martins viel­fach rezi­piertes Buch Croire aux fauves (dt. An das Wilde glauben, 2021) über ihre beinahe tödliche Begeg­nung mit einem Bären, die sie in einer autoethnografisch-poetisierten Such­be­we­gung reflektiert. 

Inwie­fern wird jedoch in aktu­ellen Veröf­fent­li­chungen das Verhältnis von Mensch und Umwelt erzäh­le­risch verar­beitet oder gar neu justiert? Gerade im Kontext lite­ra­ri­scher Verfahren, die das Augen­merk auf natur­kul­tu­relle Verflech­tungen richten, wie etwa im erneut an Aufschwung gewinnenden

Faszi­na­tion für das Wilde: Cover der deut­schen Ausgabe von Nastassja Martins „An das Wilde glauben“.

‚Nature Writing‘, lässt sich nach den anthro­po­zen­tri­schen Fort­schrei­bungen fragen – insbe­son­dere in einer konti­nu­ier­li­chen Konfron­ta­tion von Frau und Wildnis, wie sie sich in Martins Buch wieder­findet. Betrachtet man die bis dato gleichsam ‚kano­ni­schen‘ Geschichten von Begeg­nungen zwischen Menschen und Tieren, fällt in beson­derer Weise auf, dass sich in jüngster Zeit das prot­ago­nis­tisch auftre­tende Geschlecht wandelt oder zumin­dest entschieden diverser gestaltet. So waren es bisher zumeist Männer, oft Aben­teurer im weitesten Sinne, die in Konfron­ta­tion mit einem wilden Tier gingen. Aufschluss­reich ist nun, dass in gegen­wär­tigen Erzäh­lungen vermehrt Frauen auftreten. In diesen feminin geprägten Bezie­hungen steht nicht primär die gewalt­volle Begeg­nung von Tier und Frau im Vorder­grund, sondern die Faszi­na­tion für das Wilde, Unkon­trol­lierte, Unge­zähmte – um nur ein paar Asso­zia­tionen zu umreißen.

Die Deutung der Beute

Für diese Tendenz lässt sich exem­pla­risch der bereits erwähnte Essay von Nastassja Martin, die während einer Forschungs­reise auf Kamt­schatka fast von einem Bären zu Tode gebissen wurde, heran­ziehen. Die Autorin beschreibt, wie die Konse­quenzen dieser fatalen Nähe zum Prädator ihr weiteres Leben als Über­le­bende prägen. Martin umkreist mit verschie­denen Deutungs­ver­su­chen ihre Erleb­nisse in der Wildnis, wobei Deutung und Erzäh­lung derart inein­an­der­greifen, dass sich deren Diffe­renz fast verliert. Ihre Schil­de­rungen erin­nern wiederum an die Geschichte der austra­li­schen Philo­so­phin Val Plum­wood, die bei einem Angriff durch ein Krokodil stark verletzt wurde. Ebenso wie Martin reflek­tiert Plum­wood dieses Erlebnis und beschreibt vor allem die trans­for­ma­tive Kraft des Beinahe-Todes als Beute eines stär­keren Tieres.

In dem Aufsatz Human vulnerabi­lity and the expe­ri­ence of being prey (1995) sowie in der posthum erschie­nenen Studie  The Eye of the Croco­dile (2012) findet Plum­wood zu (selbst-)kritischen Erkennt­nissen über den west­li­chen Anthro­po­zen­trismus. Die Begeg­nung mit dem Raub­tier führt in beiden Fällen zu einer umfas­senden Refle­xion der eigenen Exis­tenz. Die zwei Autorinnen verstehen Menschen als Teil der Natur und nicht als eine über­le­gene Spezies in vermeint­li­cher „Distanz zur Natur“ (Hans Blumen­berg). Nachdem sie fast zur Beute von Wild­tieren wurden, unter­laufen sowohl Plum­wood als auch Martin das Narrativ, der Mensch sei stets das domi­nie­rende, aktive Subjekt. An die Stelle von gewollter oder fakti­scher Konfron­ta­tion treten Versuche, die eigene Invol­viert­heit in den „Lauf der natür­li­chen Dinge“ zu erwägen.

Dabei betont Plum­wood, dass weder eine roman­ti­sie­rende Darstel­lung der Natur als Idylle noch eine Ausblen­dung der ethi­schen Verant­wor­tung, die wir gegen­über anderen Lebe­wesen haben, ange­messen sei. Ebenso wie der Mensch, der mehr sei als essbares Fleisch, müssten auch die Rechte von Tieren und Pflanzen geachtet werden. Als poten­ti­elles Glied in einer Nahrungs­kette, die alles andere als gewalt­frei ist, proble­ma­ti­siert Plum­wood zugleich ihren eigenen Vege­ta­rismus; denn mit der Gleich­stel­lung von Mensch und Tier stellt sich auch die Frage, inwie­fern der Dualismus Mensch und Umwelt in Form des Vege­ta­rismus nicht etwa perp­etu­iert werde. Oder exem­pla­ri­scher formu­liert: Erlaubt es die Erfah­rung, von einem Krokodil als Stück Fleisch wahr­ge­nommen zu werden, nicht gerade einzelne Tiere ebenso als Nahrung zu behan­deln, auch wenn das ganz­heit­liche Wohl­ergehen aller Bedeu­tung hat?

Diese Frage findet sich bereits in Marlen Haus­ho­fers Roman Die Wand (1963):

Die letzte Frau: Film­still aus der Adap­tion von Marlen Haus­ho­fers „Die Wand“ (Regie: Julian Pölsler, 2012)

Die Prot­ago­nistin ernährt sich zwar von Tieren, hat zu ihren anima­li­schen Freund:innen zugleich aber ein so enges Verhältnis, das sie den einzigen Mann, den sie in den Jahren ohne Menschen­kon­takt trifft, ohne zu zögern tötet, als er einen Stier und den Hund umbringt. Obgleich Die Wand ein sehr frühes Roman­bei­spiel einer Tier-Frau-Beziehung ist, wurde das Buch erst jüngst in Frank­reich von einer Blog­gerin wieder­ent­deckt. Im Anschluss kam der fran­zö­si­sche Verlag Actes Sud mit dem Nach­dru­cken des Romans kaum hinterher. Dass das Buch seit 2019 erneut einen Nerv zu treffen scheint, kommt nicht von unge­fähr. Die Rezep­ti­ons­be­din­gungen haben sich nach­haltig verschoben, ohne dass sich das Rezi­pierte verän­dert hätte. Haus­ho­fers Roman kann somit der lebhaft geführten Diskus­sion von genuin weib­li­chen Perspek­tiven mit einem entspre­chenden Natur­ver­ständnis ebenso als lite­ra­ri­sches Beispiel dienen.

Vom Gegner zum Gegenüber

Bereits Plum­wood wird mit ihren Ansichten in der seit den 1970er Jahren geführten und lange Zeit als ‚ökofe­mi­nis­tisch‘ etiket­tierten Debatte verortet. Deren sehr unter­schied­liche Posi­tionen werden grund­le­gend geeint durch die Annahme, dass es eine struk­tu­relle Gemein­sam­keit zwischen der patri­ar­chalen Unter­drü­ckung von Frauen und jener der natür­li­chen Umwelt gebe. Hier verbinden sich zwei poli­tisch moti­vierte Forde­rungen – jene nach der Gleich­be­rech­ti­gung der Frauen und jene nach genuinen Tier­rechten – zu einem grund­le­genden Appell, die Perspek­tiven von als ‚schwä­cher‘ dekla­rierten Grup­pie­rungen zu stärken. Nach einer immer stär­keren Ausdif­fe­ren­zie­rung femi­nis­ti­scher Ansätze, auch und gerade im Rahmen der Transgender-Debatte, muss die unter­stellte Natur­nähe von Frauen allein durch ein biolo­gi­sches Geschlecht ihrer­seits kritisch beleuchtet werden. Denn der Versuch berech­tigter Kritik am bishe­rigen Diskurs steht in der Gefahr, diesen mit umge­kehrten Vorzei­chen einfach fortzuführen.

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Das wilde Tier als das Andere der Frau.

Unter diesem Gesichts­punkt stellt sich auch die Frage, welche Bezie­hung von Frau und Tier bei Martin in Croire aux fauves unter­stellt wird. Auffällig ist, dass die Autorin durchaus erotisch anmu­tende Beschrei­bungen des Bären liefert, etwa, wenn sein brutaler Biss als „Kuss“  beschrieben wird – inter­es­san­ter­weise ist die Schnauze des Bären auf dem Cover der deut­schen Ausgabe dann auch in Herz­form gemalt. Der Bär erkenne sich in der Frau und greife sie daher an, wie es in einer Passage geschil­dert ist. Der Bär sei das Andere der Frau, sodass ihr Zusam­men­treffen zu einer Art Verbin­dung stili­siert wird. Hier folgt Martin dem animis­ti­schen Glauben der Ewen:innen, einem von ihr als naturnah

beschrie­benen Volk, das in der russi­schen Hoch­ebene ansässig ist, und sie betont den Zustand der Alterität zwischen Wild­tier und Frau. An anderer Stelle schreibt Martin davon, wie sie von einem Mann gefragt wird, ob sie dem Bären „vergeben“ habe – sie bejaht, ohne sich dessen sicher zu sein. Hier zeigt sich eine durchaus frag­wür­dige Tendenz der Verge­bung gegen­über der Gewalt, die ihr begegnet ist.

Doch Martin bietet in Croire aux fauves für ihr brutales Aufein­an­der­treffen mit dem Bären nicht nur eine, sondern verschie­dene Lesarten an. Dies scheint ihrer­seits eine Kommen­tie­rung der Debatte zu sein, die lite­ra­risch verar­beitet wird und macht die Stärke des dadurch ambi­va­lent blei­benden, nicht fest­ge­legten Textes aus. Hier werden Deutungs­ver­suche ange­boten, die entstehen, wenn Gepflo­gen­heiten erodiert sind, aber noch dies­seits erneuter Vereindeu­ti­gung liegen. Was Martin und Plum­wood eint, ist, dass gerade nicht die nüch­ternen Fakten der eigent­li­chen Tier­at­tacke, sondern die inter­pre­ta­tiven Akte der Sinn­stif­tung im Mittel­punkt stehen. Beiden ist an dem Versuch gelegen, der gefähr­li­chen Begeg­nung eine konstruk­tive Deutung abzu­ringen, nicht ohne die Limi­tie­rungen dieser Anläufe mitzu­be­denken. Statt das Tier – nur – als Gegner zu verstehen, regt dessen Angriff eine exis­ten­ti­elle Selbst­be­fra­gung der eigenen Natur und der Veror­tung inner­halb der (Um-)Welt an. Nicht die Über­win­dung des Raub­tiers und seine Vernich­tung, sondern die Verbin­dung mit dem Anima­li­schen wird angestrebt.

Dass Narra­tive über Frauen, die körper­lich stär­keren Tieren gegen­über­stehen, derzeit beliebt sind, lässt sich sicher teil­weise durch ein eman­zi­pa­to­ri­sches Movens verständ­lich machen. Ihre offen­sicht­liche Verwund­bar­keit als Mensch und körper­lich unter­le­genes Indi­vi­duum führt zum einen zu einer exis­ten­ti­ellen Verun­si­che­rung, zum anderen gewinnen die Prot­ago­nis­tinnen gerade aus der fast tödli­chen Konfron­ta­tion neue Erkennt­nisse, die sie letzt­lich als Trans­for­ma­tion begreifen. Darüber hinaus drückt sich jedoch ein Wunsch nach einer Verbun­den­heit von Mensch und Tier über eine ‚Figur des Dritten‘ – die Natur, die beide umgreift – aus. Selbst oder viel­leicht auch gerade das Raub­tier wird zum Verbün­deten, es findet somit eine Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggressor statt. Neben diesem durchaus kritisch zu betrach­tenden, da ‚weib­lich‘ konno­tierten Gestus von Verzeihen und Ertragen, thema­ti­siert die beschrie­bene Begeg­nung von Frau und Bär einen von Martin als unan­ge­bracht empfun­denen Dualismus zwischen Mensch und Umwelt. Mit Croire aux fauves sucht Martin jenes Entfrem­dungs­ge­fühl zu über­winden, indem sie eine Verbin­dung über Arten­grenzen hinaus anstrebt.

Die ‚reine‘ Natur?

Zugleich fällt auf, dass sich jene Verbun­den­heit in beiden Fällen offen­sicht­lich nur in einer von Menschen noch nicht zur Gänze ‚verdor­benen‘ Land­schaft entde­cken lässt. Ihre Erkennt­nisse haben Martin und Plum­wood nicht einer Begeg­nung mit Groß­stadt­tauben oder in den Vorgärten einer Klein­stadt gewonnen, sondern in einer fernen, weiten Wildnis und ihrer möglichst unbe­rührten Natur. Hier verrät sich ein anti­ur­banes Moment, das der Philo­soph und Künstler Fahin Amir in seinem Buch Schwein und Zeit (2018) als durch und durch bour­geoise Idee jener beschreibt, die es sich leisten können, die Natur ansonsten nicht zu berühren. Oftmals werde infol­ge­dessen eine menschen­leere, reine und wilde Natur imagi­niert. Hierbei werden Natur und Mensch stetig gegen­ein­ander ausge­spielt. Ohne Martin oder Plum­wood unter­stellen zu wollen, eben jenen Dualismus von purer Natur und ‚unna­tür­li­cher‘ west­li­cher Zivi­li­sa­tion öffnen zu wollen, fällt doch auf, dass sich ihr initia­tiver Impuls eben den Fanta­sien von solchen Natur­räumen verdankt.

Je weniger wir in realen Bezie­hungen zu Tieren und zur Natur stehen, so scheint es, desto mehr imagi­nieren wir sie in Erzäh­lungen. Je abstrakter das Verhältnis zu anderen Lebe­wesen wird, desto mehr suchen wir nach neuen Zugängen, um eine Verbin­dung zu einer als ursprüng­lich dekla­rierten Natur wieder­her­zu­stellen. Dies dient nicht zuletzt der eigenen Veror­tung in einer sich dras­tisch trans­for­mie­renden Lebens­welt, in welcher die Rechte lange margi­na­li­sierter Lebens­weisen zuneh­mend geschützt werden sollen. Sinn­stif­tung wird geschaffen, indem wir uns selbst als ‚natür­liche‘ Lebe­wesen erfahren und inter­pre­tieren, uns also im Anderen der Natur wiederentdecken. 

In der Konse­quenz schützen wir somit nicht nur bedrohte Arten und Lebens­räume, sondern uns selbst. Narra­tive, die diese Rela­tion der Abhän­gig­keit unter­strei­chen, haben viel­leicht gerade daher Konjunktur in einer Zeit, in welcher die Klima­krise mehr und mehr zu einem gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Thema wird. Man kommt kaum umhin, in diesem empha­ti­schen Versuch auch eine gewisse Instru­men­ta­li­sie­rung zugunsten der (Selbst-)Erkenntnis zu sehen, die den eigent­lich kritisch adres­sierten Anthro­po­zen­trismus fort­zu­schreiben droht. Und nur zu vermuten ist, dass in dem Moment, wo die Menschen sich mit allen Daseins­formen verwandt fühlen, wieder ein Relativierungs- und erneuter Diffe­ren­zie­rungs­pro­zess einsetzen wird. Das ernste Spiel von empha­ti­scher Inklu­sion der (eigenen) Natur und enga­gierter Markie­rung von kleinen und großen Unter­schieden zwischen allen Lebe­wesen ginge dann in die nächste Runde.