Niemand will ein Rassist sein. Nicht mal Rassisten. Der Begriff taugt nicht zur Selbstbeschreibung. Dennoch ist der Rassismus die vielleicht am tiefsten im Denken, im Alltag und in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen unserer Moderne verankerte Ideologie. Die Ungleichheit, die er behauptet, und die Ausgrenzung, die er fordert, begleiten uns seit Jahrhunderten und haben sich auch in den vergangenen Jahrzehnten kaum abgebaut. Gegenwärtig rücken rassistische Weltbilder sogar wieder ins Zentrum neuer politischer Parteien und Bewegungen und manifestieren sich wieder offen in Sprache und Handeln.
Der offizielle Antirassismus, den sich die ‚Erste‘ und ‚Zweite‘ Welt nach 1945, nach Imperialismus, Faschismus und Nationalsozialismus verordnete, bestand darin, den Rassismus für überwunden zu erklären und seinen ‚Restbeständen‘ den Kampf anzusagen. In sehr heterogenen Gesellschaften wie den USA hatte das die dezidierte Sichtbarmachung von Ungleichbehandlung unter direktem Bezug auf ‚Racial Diversity‘ zur Folge. In scheinbar homogeneren Gesellschaften dagegen, wie in Deutschland, wurden eher Idee und Begriff der ‚Rasse‘ selber tabuisiert. Seit den 1970er Jahren und verstärkt seit der ‚Wende‘ ist aber auch Deutschland, wie jede andere moderne Gesellschaft, nicht mehr als ‚homogen‘ denkbar. Dagegen wehrt sich heute ein neuer Rassismus, der nicht mehr nur in alltäglichen Ausgrenzungen, sondern in politischen Programmen, hetzenden Publikationen und gewalttätigen Anschlägen sichtbar wird.
Es bedurfte aber der Bilder eines rassistischen Mordes in den USA, um auch in Europa und Deutschland erstmals seit langem antirassistische Proteste auszulösen. Gerade in Deutschland lässt sich dabei ein antrainierter bundesrepublikanischer Reflex beobachten. Denn was hier eigentlicher Gegenstand der Debatte wurde, war weniger der heutige Rassismus als vielmehr das, was ‚immer noch‘ vom Rassismus der Vergangenheit übrig zu sein scheint. So geht es medial vor allem um Aufrufe, in Anlehnung an die spontanen Denkmalstürze in den USA und England, auch hierzulande Denkmäler der Kolonialzeit endgültig zu ‚entfernen‘, oder Straßen, die nach Immanuel Kant benannt sind, umzubenennen, oder auch den Begriff ‚Rasse‘, wie er in Art. 3 des Grundgesetzes ‚immer noch‘ auftaucht, zu streichen. In Reaktion auf gegenwärtig manifeste Rassismen – in Reaktion auf Ferguson, Minneapolis, Halle, Hanau, NSU, Sarrazin, AfD, Pegida, und Identitäre Bewegung – wiederholt man das bundesrepublikanische Credo, erstmal die Vergangenheit zu bewältigen.
„Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben ‚noch‘ möglich sind“, so formulierte es Walter Benjamin 1940, „steht nicht am Anfang einer Erkenntnis. Es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ Den Rassismus fast ausschließlich im Modus seiner ‚immer noch nicht‘ vollzogenen Überwindung zu betrachten, könnte uns für die eigentlichen Gründe seiner Langlebigkeit und für seine gefährliche Anpassungsfähigkeit blind machen. Ein Beispiel, an dem sich dies verdeutlichen lässt, ist der Umstand, dass die gegenwärtige Forderung in Deutschland, den Begriff der ‚Rasse‘ aus dem Grundgesetz zu tilgen, in eine Zeit fällt, in welcher der Rassismus längst gelernt hat, auch ohne diesen Begriff auszukommen. Ein kurzer Rückblick auf die Bedeutungsgeschichte der Begriffe ‚Rasse‘ und ‚Rassismus‘ kann zur Aufklärung über ihr heutiges Verhältnis beitragen.
Die lange Geschichte des Begriffs ‚Rasse‘
Der Begriff ‚Rasse‘ entstand an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit als ein Terminus, der zum einen blutsmäßige Verwandtschaft identifizieren sollte, zum zweiten die im Blut liegende kollektive Größe (‚Noblesse‘) einer Dynastie markierte und zum dritten als Kategorie der hierarchischen Aufteilung der Menschheit diente. Besonders die Aufklärung griff dann auf die Rassenkategorie zurück, um sich, vor dem Hintergrund ihrer Annahme einer Vernunftfähigkeit aller Menschen, die kulturellen und zivilisatorischen Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen zu erklären. In ihrer Hierarchisierung der ‚Rassen‘ entlang verschiedener Entwicklungsstufen entstand der moderne Rassismus als Legitimationsideologie: Die ‚rassischen‘ Merkmale sollten die faktische Ungleichheit unter den prinzipiell gleichen Menschen erklären. Dieses Denkschema ‚natürlicher‘ Entwicklungshierarchien hat sich im westlich-europäischen Denken bis weit in die Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts hinein festgesetzt und ist noch heute weit verbreitet.
Zwischenzeitlich kam aber noch etwas Wichtiges hinzu. Denn bis ins späte 19. Jahrhundert galten die hierarchischen Rassenunterschiede als natürlich gegeben. Die ‚natürliche‘ Überlegenheit des weißen, christlichen Europas wurde kaum bezweifelt. Mit der Evolutionstheorie aber kam ein Naturverständnis auf, in dem sich erst im Fortgang der Entwicklung und erst im Kampf der ‚Rassen‘ ums Überleben herausstelle, wer ‚rassisch‘ zur Herrschaft und wer zur Knechtschaft verurteilt ist. Erst ‚Rassenmischung‘, ‚Rassenkampf‘ und ‚Rassenkrieg‘, so die neue Auffassung, würden darüber entscheiden, wer am Ende überleben und sich damit als überlegen erweisen würde. Das setzte die bis dahin geltende Sicherheit im Rassendenken der Europäer außer Kraft. Seitdem hat der moderne Rassismus eine paranoide Grundstruktur und legitimiert seinen Hass auf das Fremde nicht mehr nur durch die Behauptung ‚natürlicher‘ Überlegenheit, sondern vor allem durch die Imagination des Untergangs und der eigenen Abschaffung.
Auch der heutige Rassismus lebt im Wesentlichen von diesen Annahmen und Schlussfolgerungen. Nur eines findet sich in den heutigen Rassismen (zumal in Europa und Deutschland) kaum mehr: Der Begriff ‚Rasse‘ selbst. Denn dieser wurde seit dem Nationalsozialismus aufgrund seiner ‚historischen Belastung‘ und seiner wissenschaftlichen Unhaltbarkeit mit einem Tabu belegt, so dass er seit den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum kaum noch zum politischen Diskurs gehört. Und auch die meisten Formen des Rassismus vermeiden es seitdem, mit dem Rassenbegriff selbst zu operieren. An seine Stelle traten Formeln der ‚kulturellen Identität‘ und ‚kulturellen Überfremdung‘, des ‚Volks‘, der ‚Nation‘ oder auch des ‚Abendlandes‘, die es durch Bekämpfung des Fremden zu schützen gelte. Gerade in diesem Verzicht auf den Rassenbegriff aber verstärkte sich jene, schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zentrale rassistische Annahme, dass erst der Schutz des Eigenen im Kampf gegen das Fremde überhaupt wissen lasse, was der ‚natürliche‘ Wert des Eigenen ist.
Die kurze Geschichte des Begriffs ‚Rassismus‘
Verglichen mit dieser langen Geschichte des Rassenbegriffs, ist der Begriff ‚Rassismus‘ eine sehr junge Wortschöpfung. Er wurde frühestens um 1930 von einzelnen Wissenschaftlern gebraucht, um kritisch die Weltanschauung und Ideologie der faschistischen Regime Europas auf einen Begriff zu bringen. Nachdem das so bezeichnete Denken im Holocaust seine bislang singuläre Form der gewaltpolitischen Umsetzung erfahren hat, wurde der Begriff dann zur Sammelbezeichnung für diejenigen Ideologien und Praktiken, die man mit dem Sieg über Hitler-Deutschland aus der Welt geschafft zu haben glaubte. Bis man feststellte, dass sich diese Ideologien und Praktiken in den sich erst langsam auflösenden Kolonialreichen, in den aktuell oder ehemals ‚rassisch‘ segregierten Staaten (Südafrika, USA) sowie im Alltag der meisten modernen Gesellschaften ungebrochen fortsetzten. Entsprechend wurde der Begriff ‚Rassismus‘ in den 1960er Jahren zu einer kritischen Leitvokabel der antikolonialen Bewegungen, der Bürgerrechtsbewegung in den USA und auch der antiimperialistischen Agitation in den Revolten und Reformbewegungen dieser Zeit.
In Deutschland war dies aber nur eine kurze Phase, denn ab den 1970er Jahren wurde zwar über das Verhältnis zwischen Deutschen und ‚Ausländern‘ diskutiert, doch prinzipiell glaubte man mit dem NS die eigene Rassismus-Geschichte hinter sich zu haben, während man zugleich an der Vorstellung festhielt, dass der eigene Nationalstaat zwar politisch geteilt, ethnisch und kulturell aber homogen sei. Rassismus galt überwiegend als etwas, das es in anderen Ländern (USA, Südafrika) gab. Erst im Kontext der erschreckend gewalttätigen Angriffe gegen Asylsuchende in den 1990er Jahren fiel auch der Begriff ‚Rassismus‘ wieder häufiger. Doch mit der ernstgemeinten Diagnose eines Rassismus auch in der Bundesrepublik tat man sich nach wie vor schwer.
Das änderte sich erst, als die Mordserie des NSU bekannt wurde, Thilo Sarrazin seinen Bestseller ‚Deutschland schafft sich ab‘ veröffentlichte, die AfD ihre ersten Erfolge feierte, die Pegida-Proteste begannen und die „Flüchtlingswelle“ von 2015 schließlich das wirkliche Ausmaß der Ablehnung und Anfeindung ‚fremdländischer‘ Menschen auch hierzulande deutlich machte. Seitdem häufen sich die Nachrichten über rassistische Gewalt sowie die Berichte über einen zunehmenden Alltagsrassismus.
Die Debatte um den Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes
Vor diesem Hintergrund wurde jetzt auch die schon länger existierende Initiative wiederbelebt, den Begriff der ‚Rasse‘ aus dem Sprachgebrauch und vor allem aus dem Antidiskriminierungs-Artikel 3 des Grundgesetzes zu streichen; mit der Begründung, dass sich in dem dort ausgedrückten Glauben, es gäbe so etwas wie ‚Rassen‘, der Rassismus fortsetze. Statt ‚Rasse‘ solle es lieber ‚ethnische Herkunft‘ oder ‚rassistische Zuschreibung‘ oder ‚rassistische Ausgrenzung‘ heißen.

Artikel 3 des Grundgesetzes, Kunstwerk von Dani Karavan in Berlin, Quelle: welt.de
Als das Grundgesetz verfasst wurde, waren der Rassenbegriff selbst und die Annahme, es gäbe so etwas wie ‚Rassen‘, noch relativ unbestritten und der Begriff ‚Rassismus‘ war so gut wie unbekannt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die relativ unbefangene damalige Wortwahl. Heute ist die Lage genau umgekehrt: Dem Rassenbegriff wird kaum mehr eine Substanz zugesprochen und er ist politisch weitgehend tabuisiert, während der Begriff ‚Rassismus‘ ein schon immer existentes und heute endlich auch unter diesem Namen ansprechbares Grundproblem markiert. Daher scheint es vordergründig plausibel, den Art. 3 GG zu ändern, ihn dem gegenwärtigen Sprachgebrauch und den gegenwärtigen Verhältnissen anzupassen.
Dennoch lassen sich auch Einwände erheben. So stellt sich die Frage, ob das im GG formulierte Diskriminierungsverbot in seinem Sinn wirklich davon abhängig ist, ob die Kategorie, nach der diskriminiert wird, wissenschaftlich anerkannt ist und im allgemeinen Sprachgebrauch als substanziell angenommen wird oder nicht. Immerhin sind Bedeutung, Sinn und Substanzialität von Begriffen wie ‚Volk‘, ‚Nation‘ ‚Ethnie‘ oder auch ‚Gesellschaft‘, ‚Gemeinschaft‘ etc. ebenfalls höchst umstritten und ihre Semantik ist keineswegs festgelegt. Der Umstand, dass ‚Rasse‘ ein bloßes Gedankenkonstrukt ist, ändert zudem nichts daran, dass es immer schon dieser Gedanke war, der zu praktischer und oft gewalttätiger Anfeindung führte – und nicht die reale oder scheinbare Evidenz des Begriffs. Dem Rassismus ist es schon immer egal gewesen, ob Wissenschaft, Politik oder Gesellschaftsmehrheit die Existenz von ‚Rassen‘ bestreiten oder nicht.
Mit dem Plan einer Streichung des Begriffs geht aber meist die Annahme einher, dass es nur dort Rassismus gebe, wo es auch den Begriff der ‚Rasse‘ gibt. Dass diese Verknüpfung gefährliche Folgen haben kann, sieht man jetzt schon an den Reaktionen auf die Änderungspläne von rechtpopulistischer Seite. So hieß es in einer Pressemittteilung des AfD-Politikers Stephan Brandner: „Wenn es Rassen gibt, ist die aktuelle Fassung des Grundgesetzes nicht zu beanstanden, sondern geradezu zwingend, denn dann wurde die Formulierung zurecht gewählt. Wenn es hingegen keine Rassen geben sollte, gäbe es auch keinen ‚Rassismus‘.“ Das Argument hat die Struktur einer Erpressung: Entweder gibt es ‚Rassen‘ und dann ist unsere Politik legitim oder es gibt sie nicht und dann darf uns niemand mehr Rassismus vorwerfen. So durchschaubar dies als politische Strategie ist, so besteht bei einer Streichung des Rassenbegriffs aus Art. 3 GG die prinzipielle Gefahr, dass ausgrenzendes und anfeindendes Handeln sich gegen den Vorwurf des Rassismus erfolgreich mit dem Verweis darauf wehren könnte, dass es doch gar keine Rassen (und damit auch keinen Rassismus) gebe.
In jedem Fall sollte der Debatte über den Rassenbegriff im Grundgesetz eine Debatte über die tatsächlichen Formen und inneren Strukturen des heutigen Rassismus nachfolgen, gerade weil dieser schon länger und sehr bewusst auf die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ verzichtet. Dabei wäre auch zu berücksichtigen, dass der Rassismus keineswegs nur, wie heute vielfach angenommen, eine nach außen gerichtete Anfeindungsideologie ist, sondern – ob mit expliziten Gebrauch des Rassenbegriffs oder ohne – immer auch eine Form, das kollektiv Eigene als biologisch-kulturell Besonderes und Schützenswertes hinzustellen. Eben deshalb verbietet Art. 3 GG zu Recht „Benachteiligung“ und „Bevorzugung“. Er behauptet nicht, dass es ‚Rassen‘ gibt, sondern dass niemand aufgrund seiner ‚Rasse‘ benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Für diese Bevorzugung oder Benachteiligung sind Geltung und Substanz des Rassenbegriffs selbst letztlich unerheblich. Es geht um das Verbot einer bestimmten Begründung von Ungleichbehandlung, die in den Köpfen derjenigen, die diese Ungleichbehandlung praktizieren, existiert – ob sie nun von ‚Rasse‘, von ethnischer Herkunft, von Kultur, von Nation oder vom notwendigen Schutz der eigenen ‚Identität‘ reden.
An dem heute vielfach angenommenen Effekt, mit der Tilgung des Rassenbegriffs den Rassismus zu schwächen, kann also gezweifelt werden. Denn auch von Seiten der kultur-und sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Rassismus besteht die jüngste Erkenntnis ganz sicher nicht darin, dass es keine ‚Rassen‘ gibt (das ist eigentlich seit den 1960er Jahren Konsens), sondern darin, dass der Rassismus als Ideologie und Praxis auch ohne den Rassenbegriff existieren und funktionieren kann – wir das Problem mit der Tilgung des Begriffs ‚Rasse‘ also nicht los sein werden.