Der Brexit wurde von zwei verschiedenen Kampagnen herbeigeführt: „Vote Leave“ der Konservativen und „Leave EU“ der Rechtsaussen-Partei UKIP. Doch egal, ob es sich um die Forderung nach nationaler Abschottung oder um die Phantasien eines „Empire 2.0“ handelte – in beiden Fällen spielte Rassismus eine entscheidende Rolle.

  • Satnam Virdee

    Satnam Virdee ist Professor für Soziologie an der Universität Glasgow. Er ist Autor von „Racism, Class and the Racialized Outsider“ (2014) und forscht zu Rassismus, Klassentheorie und Geschichte des Kapitalismus.
  • Brendan McGeever

    Brendan McGeever ist Lecturer für Sociology of Racialization and Antisemitism am Birkbeck College, University of London, und stellvertretender Geschäftsführer des Pears Institute for the Study of Antisemitism. Er forscht zu Antisemitismus im revolutionären Russland und in der heutigen Gesellschaft.

Von Schweden bis zur Schweiz, von Belgien bis Bulga­rien wird Europa von einer Welle des reak­tio­nären Popu­lismus über­rollt, der nicht weniger als die Restau­ra­tion eines mythi­schen Goldenen Zeit­al­ters souve­räner Natio­nal­staaten fordert, die sich durch eine kultu­relle und ethni­sche Homo­ge­nität auszeichnen. Auch Gross­bri­tan­nien war nicht gegen die Turbu­lenzen gefeit, die durch die jahr­zehn­te­lange, immer noch anhal­tende Krise des Spät­ka­pi­ta­lismus hervor­ge­rufen worden sind. Deren pronon­cier­teste Erschei­nungs­form war der Brexit. Für die Sache des Brexit standen zwei Orga­ni­sa­tionen ein. Einmal Vote Leave, die offi­zi­elle Pro-Brexit Kampagne des rechten Flügels der Konser­va­tiven Partei, mit Boris Johnson als promi­nen­testen Vertreter. Zum anderen die inof­fi­zi­elle Kampagne Leave EU, ange­führt von Nigel Farage, damals Partei­chef der rechts­außen ange­sie­delten UKIP.

Brexit und der kolo­niale Phantomschmerz

Lord Mount­batten, der letzte Vize­könig, entlässt Indien in die Unab­hän­gig­keit, 15.8.1947; Quelle: quora.com

Der entschei­dende Slogan der Vote Leave-Kampagne – „Let’s take back control“ – war in unter­schwel­liger Weise eng mit einer Politik von Empire und „Rasse“ verschränkt. Vertreter der Kampagne wie Boris Johnson verbanden das Brexit-Projekt mit der Wieder­her­stel­lung lang­jäh­riger Verbin­dungen mit den Mitglie­dern des alten Common­wealth wie etwa Kanada, Austra­lien und Neusee­land (sowie den USA). Was viele konser­va­tive Poli­tiker am Brexit anzie­hend fanden, war die Idee einer so wieder­be­lebten „Anglos­phere“. Befreit von der EU würde sich Gross­bri­tan­nien erneut auf der Bühne der Welt­po­litik behaupten können. Man muss sich nur die diskur­siven Stra­te­gien von Theresa May anschauen, die in ihrer ersten Rede nach dem Brexit nicht weniger als 19 Mal von einem „wahr­haft globalen Gross­bri­tan­nien“ sprach. In einem Land mit einer Geschichte wie der briti­schen ist es unmög­lich, ein solches „wahr­haft globales Gross­bri­tan­nien“ zu entwerfen, ohne dabei die fest veran­kerten impe­rialen Nach­wehen, die nost­al­gi­sche Suche nach einem verlo­renen Welt­reich zu evozieren, die immer noch das kollek­tive Bewusst­sein signi­fi­kanter Teile der Bevöl­ke­rung bestimmen. Um ein Beispiel dafür zu nennen: Hinter verschlos­senen Türen wurde der Brexit von Regie­rungs­of­fi­zi­ellen als „EMPIRE 2.0“ bezeichnet, und ein konser­va­tiver Minister sprach sogar vom Brexit als „Wieder­erstarken des weissen Commonwealth“.

Ange­sichts dieser Ambi­tionen auf ein neues globales Aben­teuer mit Groß­bri­tan­nien als primus inter pares hätte man erwarten dürfen, dass die Vote Leave-Unter­stützer zumin­dest einige der düsteren Seiten des histo­ri­schen impe­rialen Projektes nicht unter den Tisch kehren – etwa die kolo­niale Unter­drü­ckung und die mate­ri­ellen und psychi­schen Narben, die während der letzten vier Jahr­hun­derte bei betrof­fenen Bevöl­ke­rungen hinter­lassen wurden. Kein einziges Wort wurde jedoch darüber verloren. Es ist viel­mehr das Verschweigen des rassis­ti­schen Erbes der Vergan­gen­heit, welches das neue Empire-Projekt Gross­bri­tan­niens so anzie­hend und verfüh­re­risch macht.

Die Brexit-Kampagne resul­tierte folg­lich in einem künst­li­chen Bruch zwischen Gross­bri­tan­niens histo­ri­scher Vergan­gen­heit und seiner mögli­chen Zukunft. Die Vote Leave-Kampagne war in mehr­fa­cher Hinsicht ein Beispiel für das, was der briti­sche Kultur­wis­sen­schaftler Paul Gilroy „post­ko­lo­niale Melan­cholie“ genannt hat – eine kunst­voll fabri­zierte Erzäh­lung von denje­nigen und für dieje­nigen, die bis heute den Verlust des Empire und die daran anschlies­sende Vermin­de­rung des globalen Pres­tiges nicht verkraftet haben, die der briti­sche Staat seit der Deko­lo­ni­sie­rung erfahren hat. Der Kultur­theo­re­tiker Stuart Hall brachte dies einst tref­fend auf den Punkt: „Die Flagge des Kolo­nia­lismus mag in jeder Ecke der Welt einge­holt worden sein, aber sie weht immer noch im [briti­schen] kollek­tiven Unbewussten“.

Brexit als Stra­tegie des insu­laren Nationalismus

Parallel zu diesen Phan­ta­sien einer Wieder­her­stel­lung Gross­bri­tan­niens als globalem Hegemon entwi­ckelte sich jedoch auch ein anderes Bündel von Narra­tiven, wie sie vor allem die Schlüs­sel­fi­guren der zweiten, der inof­fi­zi­elle Brexit-Kampagne (Leave EU) arti­ku­liert hatten. Deren Vision war die von einem insu­laren briti­schen Natio­na­lismus – „Britain for the British“. Ihr Kern­thema war die Migra­tion. Laut Nigel Farage hatte die EU Gross­bri­tan­nien grossen Schaden zuge­fügt, indem sie eine unkon­trol­lierte Einwan­de­rung geför­dert habe, mit der Konse­quenz der Herab­drü­ckung des Lohn­ni­veaus. Die Brexit-Forderungen, „unsere Grenzen“, „unsere Demo­kratie“ und „unser „Land“ zurück­zu­be­kommen, waren unter­legt mit der „rassi­fi­zierten“ Vorstel­lung, der Zugang „Uner­wünschter“ sei zu verhin­dern, um Gross­bri­tan­nien wieder „sicher“ zu machen.

Nigel Farage im Abstim­mungs­kampf; Quelle: irishtimes.com

Ihren Höhe­punkt erreichte die Kampagne in den letzten Tagen vor dem Refe­rendum, als Farage vor dem inzwi­schen berüch­tigten „Belastungsgrenzen“-Plakat posierte, das Flücht­linge aus dem Mitt­leren Osten zeigte, die an den Grenzen Europas „Schlange stehen“. Das Bild wirkte, so wie viele der dama­ligen Kommen­tare, wie aus dem Archiv des Natio­nal­so­zia­lismus entnommen. Die Über­schrift dazu lautete: „Wir müssen uns von der EU befreien und die Kontrolle zurück­holen.“ Anders als bei den ausgrei­fenden impe­rialen Phan­ta­sien der offi­zi­ellen Vote Leave-Kampagne handelte es sich hier um eine Rück­zugs­vi­sion – eine Insel, die die Zugbrücke hochzieht.

Xeno­phober Slogan während des Abstim­mungs­kampfes; Quelle: namibiasun.com

Das „Belastungsgrenzen“-Plakat kann in einem weiteren Sinne nur vor dem Hinter­grund einer länger­fris­tigen Entwick­lung verstanden werden, in der Einwan­de­rung während des letzten Jahr­hun­derts poli­ti­siert und mit Vorstel­lungen von „Rasse“ unter­legt worden ist. Das gesamte 20. Jahr­hun­dert hindurch, von der Ankunft jüdi­scher Einwan­derer aus dem zaris­ti­schen Russ­land bis hin zur Einwan­de­rung kari­bi­scher und asia­ti­scher Migranten, gab es stets eine klas­sen­über­grei­fende Koali­tion sozialer Kräfte, die sich gegen migran­ti­sche Präsenz in Gross­bri­tan­nien rich­tete. Egal, ob sie als Nicht-Christen galten (etwa im Fall der Juden) oder als nicht-weiss (im Fall der asia­ti­schen kari­bi­schen Einwan­derer), die briti­sche Nation ist lange derart konstru­iert worden, dass ihre Grenzen in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung auch als „Rasse“-Grenzen erschienen sind.

Schlag­zeilen des Daily Mail; Quelle: twitter.com

Und das war es auch, was die Leave-Unter­stützer im Unter­schied zur Mehr­heit der libe­ralen Medien verstanden hatten: Eben weil die Geschichte der Einwan­de­rung im Laufe der Zeit so durch und durch von Rassismen durch­setzt war, konnte ein Vorrat von unbe­wusstem Rassismus mit Hilfe einer entspre­chend kodierten Sprache leicht akti­viert werden. Auf diese Weise waren Poli­tiker wie Farage in der Lage, sich auf einer formalen Ebene den Gesetzen des Post-Rassismus zu beugen, während sie gleich­zeitig ihrer Zuhö­rer­schaft signa­li­sierten, dass mit ihnen die Chancen am besten stünden, das alte Projekt einer weissen und christ­li­chen Nation zu verfolgen.

Was daher das Brexit-Wahlergebnis verdeut­licht, sind zwei mitein­ander verfloch­tene, jeweils „rassi­fi­zierte“, dabei jedoch wider­sprüch­liche Visionen: Einer­seits eine impe­riale, expan­sio­nis­ti­sche Phan­tasie, ande­rer­seits der Rückzug auf die Insel. Und falls es noch einer Bestä­ti­gung bedarf, dass der Brexit tatsäch­lich innig mit Fragen von „Rasse“ verbunden ist, dann wird diese von jener Welle von rassis­ti­schem Hass gelie­fert, der in den Tagen und Wochen nach der Abstim­mung entfes­selt wurde. Eine Unter­su­chung, die im Juli letzten Jahres publi­ziert wurde, spricht von 6’000 rassis­ti­schen Über­griffen, die dem National Police Chiefs Council in den vier Wochen nach dem Refe­rendum ange­zeigt worden sind. In den vier Tagen nach Bekannt­gabe der Brexit-Ergebnisse stieg die Rate von rassis­ti­schen Verbre­chen um 57%.

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Wider­stands­stra­te­gien und multi­eth­ni­scher Alltag

Der Rassismus im Post-Brexit-Grossbritannien ist nicht nur fest veran­kert im Phan­tom­schmerz des Empire, sondern auch im struk­tu­rellen Nieder­gang, den Gross­bri­tan­nien seit Beginn des Neoli­be­ra­lismus in den späten 1970er Jahren durch­lebt. Dieser Nieder­gang war begleitet von einer Nieder­lage: und zwar der Nieder­lage der Arbei­ter­be­we­gung und der sozialen Bewe­gungen in den 1980er Jahren, welche eine entlang ethni­scher und regio­naler Linien aufge­split­terte Arbei­ter­schaft hinter­liess. Und schliess­lich war die Nieder­lage unter That­cher noch von einem weiteren Verlust gekenn­zeichnet: nämlich dem Verlust alter­na­tiver Rahmungen von Wider­stand, einschliess­lich solcher, durch die sich die Arbei­ter­klasse wieder als multi­eth­nisch verfasst hätte denken lassen.

Heute haben die Aussicht (und die Realität) der Abstiegs­mo­bi­lität bereits zu kollek­tiven Ängsten und Verlust­er­fah­rungen geführt, die mit einer Politik des Ressen­ti­ments bewirt­schaftet werden. Obwohl der Abstieg alle Gruppen der Lohn­ab­hän­gigen trifft und inso­fern gewis­ser­massen ein „multi­eth­ni­sches“ Phänomen ist, wird er immer wieder durch einen von Rassismen geprägten Rahmen inter­pre­tiert und daher von Teilen der Lohn­ab­hän­gigen auch zuneh­mend mit einem hitzigen engli­schen Natio­na­lismus beantwortet.

In diesem Kontext ist jenes wirk­mäch­tige Deutungs­muster entstanden, das die weisse Arbei­ter­schaft als die eigent­liche Verlie­rerin, ja das eigent­liche „Opfer“ der Globa­li­sie­rung ansieht. Diese Erzäh­lung über­sieht dabei noto­risch die Tatsache, dass die Arbei­ter­schaft in Gross­bri­tan­nien seit langem multi­eth­nisch ist und dass gerade ihre „auslän­di­schen“ und „migran­ti­schen“ Teile beson­ders hart von Spar­po­litik und wirt­schaft­li­chem Nieder­gang betroffen sind.

Wider­stand gegen Hate Crimes; Quelle: aljazzera.com

Der briti­sche Kultur­theo­re­tiker Raymond Williams hat einmal bemerkt: „Wirk­liche Radi­ka­lität besteht eher darin, Hoff­nung als möglich erscheinen zu lassen, und nicht darin, die Verzweif­lung als über­zeu­gend hinzu­nehmen.“ Wo also liessen sich die Quellen der Hoff­nung verorten? Wir möchten an dieser Stelle zwei Elemente einer mögli­chen Wider­stands­kultur skiz­zieren. Erstens: Bei vielen Mino­ri­täten in England finden sich immer noch Erin­ne­rungen an Formen des bis in die 1980er Jahre hinein prak­ti­zierten kollek­tiven Wider­stands. Jeder Kampf gegen eine alles Fremde ausschlies­sende Veren­gung von English­ness kommt nicht umhin, all dieje­nigen einzu­schliessen, die unmit­telbar von Rassismus betroffen sind.

Und zwei­tens gibt vor allem die unab­weis­bare Tatsache des heutigen multi­eth­ni­schen Zusam­men­le­bens in einem ganz alltäg­li­chen Sinne Anlass zur Hoff­nung. Unsere unter­schied­li­chen Reali­täten sind heut­zu­tage, um es einfach zu sagen, stärker denn je mitein­ander verflochten. Laut den Daten des Office for National Statis­tics von 2011 lebt nahezu jede zehnte Person in England und Wales in einer soge­nannten „gemischten Bezie­hung“, und annä­hernd die Hälfte von ihnen stammt aus der weissen Mehr­heits­be­völ­ke­rung. Der Nieder­gang einer kollek­ti­vis­ti­schen Kultur, der die neoli­be­rale Ära bestimmt hat, war zugleich von der Entste­hung eines multi­kul­tu­rellen Alltags­le­bens begleitet, insbe­son­dere unter der jüngeren Generation.

Dieje­nigen, die heute unter 35 Jahre alt sind, sind zudem im Wind­schatten der anti­ras­sis­ti­schen Kämpfe der 1970er und 1980er Jahre aufge­wachsen. Sie erlebten ein Gross­bri­tan­nien, das von ganz realen Errun­gen­schaften der anti­ras­sis­ti­schen Bewe­gung geprägt wurde (man denke etwa an gleiche Arbeits­be­din­gungen für alle, die multi­kul­tu­relle Erzie­hung in den Schulen, eine etablierte anti­ras­sis­ti­sche Öffent­lich­keit usw.). Obwohl viele diese Errun­gen­schaften im Zuge der Spar­pro­gramme der gegen­wär­tigen Regie­rung zurück­ge­fahren werden, sind ihre Auswir­kungen gerade in der Leich­tig­keit spürbar, mit der viele junge Menschen in ihrem Alltag mit dem multi­eth­ni­schen Zusam­men­leben umgehen, so insbe­son­dere im urbanen England, wo die grosse Mehr­heit der briti­schen Mino­ri­täten lebt. In dieser Hinsicht wirken die anti­ras­sis­ti­schen Siege der Vergan­gen­heit in der Gegen­wart fort, wenn auch unter völlig verän­derten poli­ti­schen Bedingungen.

Diese multi­kul­tu­relle Sensi­bi­lität des Alltags­le­bens stand – im poli­ti­schen Sinne – bisher noch nicht auf dem Prüf­stand. Es ist daher noch über­haupt nicht klar, wie dauer­haft dieser in den anti­ras­sis­ti­schen Kämpfen vergan­gener Jahr­zehnte entstan­dene, gelebte Multi­kul­tu­ra­lismus sein wird, vor allem ange­sichts des Aufstiegs der rassis­ti­schen Rechten und dem lang­fris­tigen Rückzug anti­ras­sis­ti­scher Infra­struk­turen.  Es ist fünf Minuten vor Zwölf.

 

Aus dem Engli­schen von Gesine Krüger und Gleb Albert. Der Beitrag basiert auf einem Aufsatz, den die Autoren im August 2017 in der Fach­zeit­schrift „Ethnic and Racial Studies“ publi­ziert haben.