Ende Januar dieses Jahres sorgte die Schauspielerin und Entertainerin Whoopi Goldberg für Aufsehen. In der Sendung The View und später in der Late Show with Stephen Colbert behauptete sie, im Holocaust sei es nicht um „Rasse“ (race) gegangen. Als Begründung führte sie an, dass dort „two white groups of people“ aufeinandergetroffen seien: „They [the Nazis] had issues with ethnicity, not with race, because most of the Nazis were white people, and most of the people they were attacking were white people. So to me, I’m thinking, how can you say it’s about race if you’re fighting each other. … I said, this wasn’t racial. This was about white on white.“
Für Whoopi Goldberg scheint es offensichtlich, dass es bei „race“ unweigerlich um Hautfarbe geht. Der Holocaust sei daher „white on white“, oder, wie sie es ausdrückt, eine Frage von „ethnicity“ – der US-amerikanische Begriff zur Unterscheidung zwischen Gruppen gleicher Hautfarbe. Die Ermordung von Weißen durch Weiße könne nichts mit Rassismus zu tun haben.
Obwohl es nur in diesem Fall für einen Skandal sorgte, steht Whoopi Goldberg mit dieser Ansicht beileibe nicht allein. „Rassismus gegen Weiße“ gebe es nicht, so heißt es in aktuellen postkolonialen und antirassistischen Diskussionen apodiktisch immer wieder. Prominent vertrat das WDR-Wissenschaftsmagazin Quarks jüngst diese These. Rassismus, heißt es dort, sei mit extremer Gewalt verbunden, die sich in historischen Ereignissen wiederfinde: „Sklavenhandel, Kolonialisierung, Völkermord. In der Geschichte gab es jedoch keine vergleichbaren Prozesse, die sich in dieser Art auf Weiße ausgewirkt haben.“
„Whiteness“ als Zirkelschluss
Wenn es keinen Völkermord gegen Weiße gab, was aber war dann der Holocaust? Ein häufig angebrachtes Argument in diesem Zusammenhang lautet, dass die Opfer in den Augen ihrer Verfolger nicht „weiß“ gewesen seien. So argumentierte auch die Moderatorin Sara Haines in The View, als sie Goldberg entgegnete, dass die Nazis ihre Opfer „nicht als weiß angesehen“ hätten. Und auch die Kolumnistin Samira El-Ouassil schrieb im Spiegel als Entgegnung auf Goldbergs Einlassungen, dass ein Rassist einen Juden nicht als weiß akzeptieren würde. „Denn: Die Kategorie weiß hängt nicht von der Hautfarbe ab, sondern ist ein Konstrukt. […] Was Goldberg also ausblendet, ist, dass Juden von Rassisten willentlich nicht als weiß angesehen werden, sobald sie um die jüdische Identität einer Person wissen.“
Dieses konstruktivistische Verständnis von Hautfarbe mag auf den ersten Blick einleuchtend klingen, nicht zuletzt, da es aus der Erkenntnis hervorgeht, dass „Rassen“ eben nichts „Natürliches“ sind, sondern soziale Konstrukte. Wenn aber Opfer von Rassismus a priori als „nicht-weiß“ (unabhängig von ihrer phänotypischen Hautfarbe) definiert werden, dann führt dies unweigerlich in einen logischen Zirkelschluss und ist hinsichtlich der historischen wie heutigen Erscheinungsformen von Rassismus deutlich unterkomplex. Die Aussage „Es gibt keinen Rassismus (oder gar: keinen Genozid) gegen Weiße“ ist dann zwangsläufig immer korrekt. Einen Erkenntnisgewinn bringt das nicht.
Nun ist für die US-Debatte, aus der der Fokus auf die Kategorie „whiteness“ hervorgeht, das Erbe der „color line“ zweifellos konstitutiv. Für das Verständnis des deutschen Rassismus ist ein solches dichotomes Verständnis aber nicht ausreichend. Das bedeutet natürlich nicht, dass antischwarzer Rassismus in der deutschen Geschichte und Gegenwart nicht relevant wäre – dafür liefert z.B. Wulf D. Hund in seiner lesenswerten Studie Wie die Deutschen weiß wurden reichlich Anschauungsmaterial. Hund zeigt aber auch, dass sich die Konstruktion der Kategorie „Rasse“ im deutschen Kontext nicht in Dichotomien erschöpfte und nicht nur unter Bezug auf Hautfarbe erfolgte. Das gilt auch für den Holocaust, für den er prägnant konstatiert: „Für den nationalsozialistischen Antisemitismus war ‚weiß‘ kein Differenzbegriff.“ Ohne hier auf die verästelte Diskussion des Verhältnisses von Antisemitismus und Rassismus näher eingehen zu können, sollte an sich unstrittig sein, dass Antisemitismus den Kern des Holocaust darstellt und dass er sich nicht in Kategorien von „White“ vs. „Non-White“ erklären lässt.
Die Deutschen und der „Osten“
Neben den frappierenden Verkürzungen bei der Analyse des Genozids am europäischen Judentum führt die einfache transnationale Übertragung von Begriffen und Konzepten auf die jüngere deutsche Geschichte und Gegenwart auch zu einem massiven blinden Fleck in Bezug auf Osteuropa und osteuropäische Menschen. Durch das Ignorieren der deutschen Gewaltgeschichte im Osten des Kontinents und die Gleichsetzung von Deutschen und Osteuropäer:innen in der heutigen Täterkategorie „weiß“ wird ein zentrales Kapitel der Geschichte des deutschen Kolonialismus und Rassismus ausgeblendet und den betroffenen Menschen die Anerkennung ihrer Erfahrungen mit Rassismus versagt – in der postkolonialen Debatte ansonsten zurecht ein absolutes No-Go.
Das Othering Osteuropas begann schon mit der Aufklärung, die die Region überhaupt erst als solche erfand. „Osteuropa“ galt im westlichen Denken als „Europe but not Europe“, wie Larry Wolff es formuliert hat. Eine Art Zwischenwelt zwischen Okzident und Orient, vermeintlich gekennzeichnet durch Rückständigkeit und Barbarei. Ähnliche Befunde hat Maria Todorova zu Südosteuropa bzw. dem „Balkan“ vorgelegt.
Deutschland stellt hierbei aufgrund seiner langen Verflechtungs- und Expansionsgeschichte mit und im östlichen Europa einen besonders relevanten Fall dar. Ein hierarchisierender Blick und kulturalistisches Othering bildeten eine Konstante im deutschen Diskurs im ‚langen‘ 19. Jahrhundert. Prominentes Beispiel sind die Debatten in der Frankfurter Paulskirche 1848/49: In der Meistererzählung der deutschen Demokratie- und Nationalgeschichte ein fester Erinnerungsort, zeugen die Protokolle der Reden zugleich von einem zutiefst kolonialen Blick auf ‚den Osten‘. Nicht nur die Provinz Posen oder Böhmen, sondern ein sehr weit gefasster ‚Raum‘ bis ans Schwarze Meer wurden von einer großen, fraktionsübergreifenden Mehrheit als ‚deutscher Osten‘ vereinnahmt, den es in einer mission civilisatrice kulturell und tatsächlich zu erobern gelte. Ein anderes, breitenwirksames Beispiel ist Gustav Freytags Erfolgsroman Soll und Haben (1855), der stereotype Bilder unfähiger Pol:innen in der kollektiven Wahrnehmung verankerte.
Der deutsche Blick nach Osten radikalisierte und rassifizierte sich im Kaiserreich. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 kodifizierte diskriminierende Politiken in Bezug auf Aufenthaltsmöglichkeiten und Naturalisierungsoptionen von Zuwanderer:innen aus dem östlichen Europa. Seine restriktiven Regelungen verhinderten noch Jahrzehnte später die Einbürgerung der „Gastarbeiter:innen“ aus dem Mittelmeerraum. Die germanisierende Siedlungspolitik in den polnischen Teilungsgebieten Preußens („Ostmark“) ist ebenso ein Ausdruck des zunehmend kolonialen deutschen Verhältnisses zum „Osten“ wie das „Land Ober Ost“ des Ersten Weltkriegs und der in der Weimarer Zeit propagierte „Grenzkolonialismus“ sowie die „Grenzlandarbeit“. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zudem die Entstehung der sogenannten „Ostforschung“, die die wissenschaftliche Expertise für Kolonisationspläne lieferte. Die Radikalisierung des Antislawismus geschah hierbei im Zusammenspiel mit anderen Diskriminierungsformen gegenüber Bewohner:innen der Großregion, insbesondere mit dem Antisemitismus (Feindbilder der „Ostjuden“ und des „jüdischen Bolschewismus“) und dem Antiziganismus.
Der „Generalplan Ost“ des NS-Regimes und die Vernichtungsherrschaft in den besetzten Gebieten Osteuropas stellten die Kulmination solcher rassistischen Hierarchisierungen und Expansionsprojekte dar. Neben der jüdischen Bevölkerung, die in der Shoah ermordet wurde, war der slawischen Bevölkerung die Rolle von rassisch minderwertigen Sklaven zugewiesen („slawische Untermenschen“). Die enormen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung in der Sowjetunion, in Polen und in Südosteuropa sind nur vor diesem rassistischen Hintergrund zu verstehen, erinnert sei nur an die hierzulande nach wie vor wenig beachtete Blockade Leningrads: Über eine Million Menschen verhungerten und erfroren in der Stadt, weil sie aus Sicht der Deutschen „überflüssige Esser“ waren, die Platz machen sollten für die „Germanisierung‘“. Ein anderes Beispiel ist die Behandlung der Millionen sogenannten „Ostarbeiter“, die im Deutschen Reich unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichteten. Ihre gesonderte Kennzeichnung mit dem Aufnäher „Ost“ und das Verbot sexueller Beziehungen mit der „arischen“ Bevölkerung lassen sich angemessen nur als rassistisch beschreiben.
Keine „Stunde Null“
Diese Geschichte ist bekannt. Ihre Relevanz für die Zeit nach 1945 wird jedoch selten gesehen. Doch es gab keine ‚Stunde Null‘. Die gezielt gegen Osteuropa gerichtete Komponente des Antikommunismus in der Zeit des Kalten Krieges sowie Schimpfworte und Witze über osteuropäische Zuwanderer:innengruppen, die vor allem nach 1989 eine erneute Konjunktur erlebten („Polenwitze“), zeigen an, dass antislawischer und antiosteuropäischer Rassismus nicht mit dem Untergang des Nationalsozialismus endeten. Die immer noch häufig anzutreffende Täterbeschreibung „osteuropäisches Erscheinungsbild“ ist zudem ein deutliches Indiz dafür, dass dies auch mit äußerlichen Zuschreibungen einhergeht.
Vor dem antiöstlichen Ressentiment waren auch die vermeintlich privilegierten Migrationsgruppen der ethnisch deutschen Spätaussiedler:innen und jüdischen Kontingentflüchtlinge nicht gefeit. Sie erlebten, wie so viele als ‚östlich‘ gelesene Menschen, berufliche Dequalifizierung und fanden und finden sich in der deutschen Arbeitshierarchie weit unten in der Lagerlogistik oder als Reinigungskräfte wieder. Sie erfuhren Diskriminierung aufgrund ihres Akzents, ihrer Nachnamen oder weil zuhause anders gekocht wurde und bekamen im Zweifelsfall die Wohnung nicht, für die sie sich bewarben. Erfahrungen von Abwertung, die sie mit anderen migrantischen Gruppen und Menschen in der Bundesrepublik verbindet. Weshalb es nur folgerichtig und angemessen wäre, sie auch gemeinsam zu denken und anzuerkennen.
Der Blick auf die derzeitigen Debatten ergibt jedoch leider ein anderes Bild: Die Erfahrungen der Menschen aus dem östlichen Europa werden entweder gar nicht gesehen oder relativiert, indem sie als nicht-rassistisch motiviert einsortiert werden. Für die Problematik stereotyper Darstellungen von Osteuropäer:innen fehlt oft jede Sensibilität. Der historische Blick zeigt, in welcher Kontinuität eine solche Haltung steht: Über ‚den Osten‘ wissen wir entweder nichts, oder wenn doch, dann werden die mit ihm verbundenen Perspektiven nicht als gleichwertig anerkannt. Die Traditionslinien sind frappierend und werden auch nicht dadurch besser, dass sie jetzt in Gestalt eines sich kritisch begreifenden Diskurses daherkommen. Wer wissen möchte, wie die Nicht-Anerkennung der Erfahrungen rassistischer Diskriminierung von Betroffenen wahrgenommen wird, kann dies bei Twitter und Instagram nachlesen oder in einem der einschlägigen Podcastformate nachhören.
Bei den Diskussionen über antiosteuropäischen Rassismus werden auch schnell die Grenzen der Vermittelbarkeit des konstruktivistischen Verständnisses von „Whiteness“ deutlich. In den Debatten auf Social Media werden die Kategorien in aller Regel nach wenigen Posts mit äußerlichen Zuschreibungen gleichgesetzt. Whoopi Goldberg steht auch hier nicht alleine mit ihrer Annahme, dass es bei „Rasse“ um Hautfarbe ginge. Wenn wir auf eine Terminologie bestehen, die alles in Farbkategorien von „weiß“ und „nicht-weiß“/„of color“ fasst, dann tragen wir aktiv zu dieser Verwirrung bei.
Zudem gehen bei einer Reduzierung aller Rassismen auf ein Gegensatzpaar die Differenzierungen verloren: Hautfarbe stellt im Alltag den primären und offensichtlichen Marker für rassistische Diskriminierung dar, entsprechend erfahren Menschen, die schon rein äußerlich als ‚anders‘ wahrgenommen werden können, häufiger und direkter Rassismus als solche, für die das ‚auf den ersten Blick‘ nicht gilt. Diese Differenzierung tut not, analytisch wie aus Sicht der Betroffenen. Sie kann aber nur getroffen werden, wenn wir Rassismus nicht auf eine allumfassende Dichotomie verkürzen. Nicht alle gesellschaftlichen Hierarchien und Konflikte lassen sich in Farbkategorien beschreiben, und trotzdem können sie rassistisch sein. Samira El-Ouassil brachte das in ihrer schon erwähnten Spiegel-Kolumne gut auf den Punkt: „Wir begreifen alle, dass der sogenannte Polenwitz rassistisch ist, obwohl die meisten Polen erstmal als weiß gelesen werden könnten.“
Wie weiter?
Wie könnte ein anderer, historisch adäquater und nicht ausschließender Umgang mit dem Thema „Rassismus“ aussehen? Es wäre sicher schon viel gewonnen, wenn Essentialismen und Dichotomien überwunden würden und es Konsens darüber gäbe, dass es nicht um Erinnerungs- oder Opferkonkurrenz gehen darf. Wichtig ist zudem Ambiguitätstoleranz: Menschen in und aus Osteuropa können Rassist:innen sein und ihn trotzdem selbst erleiden. Gerade die Dynamik zwischen dem Erleiden und dem Ausüben von rassistischer Diskriminierung in hierarchisch organisierten, diversen Gesellschaften gilt es zu begreifen: der Weg zur Akzeptanz in der Dominanzgesellschaft führt unter Umständen über eine eigene rassistische Praxis.
Die Analyse rassistischer Kategorien und Praktiken bedarf der Kontextualisierung und Offenheit zur Wahrnehmung und Anerkennung ihrer jeweiligen Spezifika. Gerade in Bezug auf Menschen aus Osteuropa gibt es hierzu ein breites Repertoire, das in der Geschichte begründet liegt. Daher müssen wir zur Analyse des deutschen Rassismus diesen „Rassismus gegen Weiße“ sehr ernst nehmen – ein Rassismus, der die Menschen nicht trifft, weil sie ‚weiß‘ sind, sondern weil andere rassistische Hierarchisierungen äußerlich ‚weiße‘ Menschen treffen. Weshalb uns, entsprechend der in der gegenwärtigen Debatte oft und zurecht betonten Relevanz des „kolonialen Erbes“ Deutschlands für heutige rassistische Diskurse und Praktiken, der Blick auf das Nachwirken des entsprechenden kolonialen Erbes im östlichen Europa – eine „Osterweiterung der Erinnerung“ (Mark Terkessidis) und damit auch der Rassismusdebatte – als überfällig und besonders notwendig erscheint.