Was steckt hinter der Konjunktur der Kategorie „race“ im Kino? Und wie kommt es, dass der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin derzeit so angesagt ist?

Ende April jährten sich die „Los Angeles Riots“ oder „Rodney King Riots“ von 1992 zum fünf­und­zwan­zigsten Mal. Im Fern­sehen und im Kino war eine Reihe von neuen Filmen zu sehen, welche eine Konjunktur der Ausein­an­der­set­zung mit Rassismus im ameri­ka­ni­schen Fern­sehen und Kino nahe­legt. Dazu gehören LA 92 von Dan Lindsay und T.J. Martin, O.J.: Made in America von Ezra Edelman und I Am Not Your Negro von Raoul Peck. Doch was steckt hinter dieser Konjunktur der Kate­gorie race im Filmschaffen?

Kein Einzel­er­eignis

Dass sich die Diskri­mi­nie­rung der Schwarzen in den ameri­ka­ni­schen Gross­städten in gewalt­samen Konflikten mani­fes­tierte, war kein Novum, sondern seit Mitte der 1960er Jahre eine beinahe pünkt­lich alle fünf­zehn Jahre beob­acht­bare soziale Tatsache. Neu war, dass das junge Massen­me­dium Video der schwarzen Commu­nity 1992 endlich eine visu­elle Evidenz der rassis­ti­schen Poli­zei­ge­walt und des Justiz­sys­tems lieferte.

Am Anfang der Riots in Los Angeles standen nämlich Video­auf­nahmen: Die publik gewor­denen Bilder einer Über­wa­chungs­ka­mera, welche die Erschies­sung der fünf­zehn­jäh­rigen schwarzen Schü­lerin Latasha Harlins durch eine korea­ni­sche Laden­be­sit­zerin doku­men­tierten. Dazu kamen die im Fern­sehen endlos zirku­lie­renden Aufnahmen einer Amateur­vi­deo­ka­mera, welche zeigten, wie drei weisse Poli­zisten zusammen mit einem Hispanic mit äusserster Bruta­lität auf den schwarzen Rodney King einschlugen.

Die Urteile der Rechts­fälle Latasha Harlins und Rodney King bildeten im April 1992 jenen Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte: Am 21. April bestä­tigt das kali­for­ni­sche Appel­la­ti­ons­ge­richt das Verdikt einer weissen Rich­terin, welches die korea­ni­sche Laden­be­sit­zerin von einer Gefäng­nis­strafe verschonte, und am 29. April wurden die vier Poli­zisten, welche King zusam­men­ge­schlagen hatten, durch ein mehr­heit­lich weisses Geschwo­re­nen­ge­richt frei­ge­spro­chen. An diesem Abend brannten in South LA bereits die ersten Autos und Läden. Als die Polizei am 4. Mai mit der Unter­stüt­zung von Natio­nal­garde, Marine und Navy die Lage wieder unter Kontrolle hatte, waren nach offi­zi­ellen Berichten 58 Menschen tot.

Footage-Exzesse

Film­still aus „LA 92“: Quelle: nytimes.com

LA 92 von Dan Lindsay und T.J. Martin feierte im April dieses Jahres am Tribeca Film Festival Premiere und wurde am Sonn­tag­abend des 30. Aprils zu bester Zeit vom Sender National Geogra­phic ausge­strahlt. Die beiden Regis­seure stellen die Riots im Format eines Footage-Exzesses dar und haben hierfür in den Archiven rund 1700 Stunden Bild­ma­te­rial und O-Töne ausge­graben und zu einem zwei­stün­digen Zeit­do­ku­ment zusam­men­ge­schnitten. Mit bombas­ti­scher klas­si­scher Orches­ter­musik unter­legt, evoziert der Film das Nach­er­leben eines Live­mo­ments der Geschichte im Modus einer zeit­lich gerafften Liveberichterstattung.

Dieser drama­tur­gi­sche Zugriff der unkom­men­tierten Montage ist inso­fern konsis­tent, als er damit auch die Medi­en­kon­stel­la­tion zu Beginn der 1990er Jahre zur Darstel­lung bringt: der zweite Golf­krieg, der 1991 vom CNN-Korrespondenten Peter Arnett auf dem Dach des Hotels Raschid in Bagdad medial eröffnet worden war, die Video­tech­no­logie in und vor den Gerichts­sälen, Video­jour­na­listen auf den Strassen, Kameras der privaten Fern­seh­sta­tionen in Kirchen und selbst in Heli­ko­ptern, die den Fern­seh­zu­schauern live jene pano­r­ami­sche Über­sicht der Riots demons­trieren, die der Polizei verlo­ren­ge­gangen war.

LA 92 ist ein auf zwei Stunden verdich­tetes Erin­ne­rungs­kino der fünf Tage dauernden Riots. Ständig die Perspek­tive wech­selnd und somit rein kame­ra­tech­nisch stand­punktlos, ist der Film zwar eine Ereig­nis­ge­schichte, doch komplett frei von histo­ri­scher Einord­nung und Deutung oder gesell­schaft­li­cher Analyse (O-Ton der Regis­seure: „viel zu kompli­ziert“). Er zielt statt­dessen auf emotio­nale Immersion.

Im Anschluss an die Ausstrah­lung von LA 92 am 30. April fand auf den Social-Media-Kanälen des Senders eine Diskus­sion statt: ein Live Gespräch aus Korea­town in LA mit den Regis­seuren und Zeit­zeugen (Poli­ti­kern, ehema­ligen Poli­zisten, Jour­na­listen) sowie Aktivist/innen der afro­ame­ri­ka­ni­schen und korea­ni­schen Commu­nity. In dieser Diskus­sion wurde die derzei­tige Funk­tion der Ausein­an­der­set­zung mit den Riots von 1992 in den USA deut­lich: Die Beschäf­ti­gung mit der Geschichte wird als ein Werk­zeug der Versöh­nung („Recon­ci­lia­tion“) verstanden, als Binde­mittel im Rahmen von Commu­nity Buil­ding sowie als indi­vi­du­elles Iden­ti­fi­ka­ti­ons­re­ser­voir einer zerris­senen Gesellschaft.

Umkehr­justiz

Film-Plakat; Quelle: news.vcu.edu

Der Gewinner des dies­jäh­rigen Oskars für den besten Doku­men­tar­film, O.J.: Made in America von Ezra Edelman, ist eine 2016 vom Sport­sender ESPN produ­zierte zwölf­stün­dige Mini­serie. Durch die epische Länge und die extreme Mate­ri­al­fülle erhebt er den Anspruch, die defi­ni­tive Geschichte des Rechts­falles um den schwarzen Foot­ball­spieler O. J. Simpson zu sein. Zur Erin­ne­rung: Simpson, der Aufsteiger, der sich jegli­chen sozialen Zuschrei­bungen wider­setzte, lebte mit seiner weissen Ehefrau Nicole Brown Simpson im noblen Brent­wood Viertel in West LA. 1994 wurde er des Mordes an seiner inzwi­schen von ihm geschie­denen Ehefrau und ihres Freundes Ronald Goldman ange­klagt. Der Gestus des Defi­ni­tiven, der den Film prägt, lässt sich als Versuch inter­pre­tieren, endlich einen Schluss­strich unter einen Rechts­fall zu ziehen, an dem sich sympto­ma­tisch die Sozi­al­kon­flikte der USA ablesen lassen. Wie LA 92 split­tert O.J.: Made in America Geschichte durch häufige Perspek­ti­ven­wechsel in viele Minis­to­ries auf. Der Film ist enzy­klo­pä­di­scher Doku­men­ta­rismus und Forensik zugleich, sollen doch die Bilder jene Beweise erbringen, mit denen nicht nur der Fall O. J. Simpson, sondern auch jene in die Zeit der Skla­verei zurück­rei­chende Rassen­justiz ad acta gelegt werden könnte.

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Anders als Lindsay und T. J. Martin in LA 92 bringt Edelman in O.J.: Made in America das analy­ti­sche Poten­tial der Kate­go­rien race, class und gender explizit ins Spiel und zeigt auf, wie die rassis­ti­sche Justiz, die bei den Gerichts­ur­teilen von Harlins und King durch­schlug und den Auslöser für die Riots von 1992 bildete, zwei Jahre später im Mord­pro­zess gegen O. J. Simpson in Form einer Art rück­wir­kenden Heim­zah­lung zugunsten von Rodney King ins Lot gerückt werden sollte. Es ist die grosse Stärke von Edel­mans Doku­men­tar­film, dass er minu­tiös darlegt, wie der sich rassi­schen Zuschrei­bungen wider­set­zende Simpson („I’m not black. I’m O. J.“), der nach seiner Karriere als Foot­ball­spieler eine zweite als Schau­spieler in Holly­wood­filmen und hoch­be­zahlten Werbe­spots hinge­legt hatte, ausge­rechnet mit Hilfe des ehema­ligen Black Panther Anwalts Johnnie Cochran frei­ge­spro­chen wurde. Äusserst geschickt wusste dieser aus dem Fall Simpson einen Fall um Poli­zei­ge­walt und Rassismus und damit letzt­lich einen Fall um race in der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft zu machen.

Damit wurde ein durch Fern­sehen und Film berühmt und reich gewor­dener Mann in einem live im Fern­sehen über­tra­genen Prozess frei­ge­spro­chen: ein Mann, der in einer Sozi­al­sied­lung aufge­wachsen war und nie schwarz sein wollte. Er wurde frei­ge­spro­chen trotz erdrü­ckender Beweis­lage und trotz der Exis­tenz von Tonbän­dern, welche die vielen der Tat voran­ge­gan­genen verzwei­felten Anrufe der Ex-Frau wegen häus­li­cher Gewalt eindrück­lich doku­men­tierten. Die Kate­gorie race musste beim Mord­pro­zess O. J. Simpson die entschei­dende Kate­gorie sein, und zwar in einer Art Umkehr­justiz, welche das Unrecht vergan­gener Prozesse sühnen sollte. Darin war sich das nach langen und schwie­rigen Verhand­lungen mehr­heit­lich aus schwarzen Frauen zusam­men­ge­stellte Geschwo­re­nen­ge­richt einig. Deshalb wurde der Frei­spruch von den afro­ame­ri­ka­ni­schen Commu­ni­ties denn auch eupho­risch gefeiert.

Nur ein Jahr später wurde Simpson jedoch in einem Zivil­rechts­pro­zess von einem wiederum mehr­heit­lich weissen Gericht zur Zahlung von 35 Millionen Dollar Scha­den­er­satz an die beiden Opfer­fa­mi­lien verur­teilt. Mitt­ler­weile sitzt Simpson tatsäch­lich im Gefängnis, aller­dings nicht wegen Mordes, sondern wegen später began­gener Raub­über­fälle. Dieser vorläu­fige Schluss­punkt von Simpsons Biografie bildet auch den Schluss von Edel­mans Film. Simpson wird darin letzt­lich zur Ikone einer anschei­nend unver­än­der­li­chen tragi­schen Konstel­la­tion stili­siert. Die Wendung dieses Lebens zu einer „ameri­ka­ni­schen Tragödie“ hinter­lässt einen am Ende des Films mit dem bangen Gefühl, dass es dem Regis­seur Edelman und letzt­lich auch der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft nicht gelingen will, aus dem Fall Simpson einen Fall über die drin­gende Notwen­dig­keit einer gesell­schaft­li­chen Verän­de­rung zu machen.

Baldwin sells

Baldwin-Kerzen in der Buch­han­dung Poli­tics and Prose in Washington, D.C.; Foto: Monika Dommann

Raoul Pecks Film I Am Not Your Negro schliess­lich setzt ganz auf den afro­ame­ri­ka­ni­schen Schrift­steller James Baldwin, der zurzeit eine grosse Renais­sance erlebt. Warum ist der afro­ame­ri­ka­ni­sche Schrift­steller James Baldwin heute zu jener Zufluchts­figur geworden, die bei der Eröff­nung des National Museum of African American History and Culture (NMAAHC) im September 2016 genauso abge­feiert wird wie in den ameri­ka­ni­schen Buch­läden, die im düsteren Trump-Amerika nun Baldwin-Kerzen verkaufen?

Baldwin wurde 1924 geboren, wuchs im afro­ame­ri­ka­ni­schen Predi­ger­mi­lieu von Harlem auf, flüch­tete später nach Paris und bewegte sich stets in sozialen und iden­ti­tären Zwischen­räumen: zwischen binär codierten sexu­ellen Zuschrei­bungen, zwischen Europa und Amerika, zwischen Lite­ratur und Politik – und auch zwischen Martin Luther King und Malcom X. Der in Haiti gebo­rene Regis­seur Raoul Peck erklärt sein Inter­esse an James Baldwin damit, dass dieser ihm Instru­mente zur Dekon­struk­tion der verfloch­tenen Geschichte Haitis und der USA zur Verfü­gung gestellt habe: „Baldwin gave me a voice, gave me the words, gave me the rhetoric.“ Peck greift im Film das unvoll­endete Projekt Bald­wins aus dem Jahr 1979 auf, die Lebens­läufe von drei ermor­deten Bürger­rechts­ak­ti­visten – Medgar Evers, Martin Luther King und Malcom X – lite­ra­risch darzustellen.

Von dieser acht Jahre vor seinem Tod im Jahr 1987 begon­nenen Arbeit Bald­wins sind dreissig Manu­skript­seiten mit dem Titel „Remember this House“ erhalten geblieben, die Peck als Grund­ge­rüst seines Films dienen. Der Film ist auf vielen Ebenen für eine Geschichte des Rassismus äusserst aufschluss­reich: Erstens weil er Bald­wins lebens­lange Ausein­an­der­set­zung mit der ameri­ka­ni­schen Kultur, die im Kern auch eine Ausein­an­der­set­zung mit dem Holly­wood­kino als Spiegel von komplexen Iden­ti­täts­kon­struk­tionen ist, eine visu­elle Sprache verleiht. Zwei­tens weil er der in LA 92 und in O.J.: Made in America letzt­lich nie ganz verlas­senen Indi­vi­dua­li­sie­rung von Gesell­schafts­pro­blemen dezi­diert eine gesell­schaft­liche Perspek­tive und auch ein unbe­dingter Aufruf zur gesell­schaft­li­chen Verän­de­rung entgegensetzt.

Es mag etwas unheim­lich anmuten, dass ein Denker, der sich eindeu­tigen Zuschrei­bungen stets wider­setzte, nun musea­li­siert wird, und seine Texte als Blue­prints und Scha­blonen neu aufge­legt werden. Doch Raoul Pecks Geschichts­kino ist als ein Kommentar zur Gegen­wart zu betrachten: Dies legt seine Bild­mon­tage nahe, welche zwischen das Archiv­ma­te­rial der 1960er Jahre Gesichts­auf­nahmen jener afro­ame­ri­ka­ni­schen Teen­ager einfügt, die zwischen 2010 und 2014 durch Gewalt von Polizei, Sicher­heits­diensten und selbst­er­nannten Zivil­hü­tern umge­bracht worden sind. Und auch durch die sexy Off-Stimme Samuel L. Jack­sons, der den unvoll­endeten Text Bald­wins genüss­lich in seinem Mund und seinem Hals vergehen lässt. James Baldwin wird durch diesen drama­tur­gi­schen Trick auch eine Hommage durch einen afro­ame­ri­ka­ni­schen Schau­spieler zuteil, der sich von einer langen Tradi­tion der Kastra­tion im weissen Main­stream­kino frei­ge­macht hat, die James Baldwin in „Remember this House“ so bitter beklagt hatte.

James Baldwin; Quelle: warscapes.com