
Die Fixierung auf Kinderschändung und Kindermord stellt vielleicht die merkwürdigste Seite der QAnon-Bewegung dar, die in den USA seit einigen Jahren medienwirksam eine großangelegte Verschwörung politischer Eliten zu enttarnen vorgibt. Ihre Vertreter:innen behaupten, dass das links-liberale politische und kulturelle Establishment von einflussreichen Netzwerken von Satanisten und Pädophilen beherrscht werde, die in großem Maßstab Kinder entführten und missbrauchten. Sie trachteten nicht zuletzt danach, aus den Körpern und dem Blut gefolterter Kinder das vermeintlich lebensverlängernde Stoffwechselprodukt Adrenochrom zu extrahieren. Eine der vielen phantastischen Erzählungen, die über diese angebliche Verschwörung im Umlauf sind, handelt etwa von riesigen Tunnelanlagen unter dem New Yorker Central Park, in denen im Jahr 2020 35.000 unterernährte Kinder in Käfigen gefangen gehalten und gequält worden seien. Erst das Marine-Corps habe auf Anweisung Donald Trumps und unter dem Deckmantel der Corona-Epidemie diesem Treiben ein Ende gesetzt und die Kinder befreit.
Auch im deutschsprachigen Raum stoßen diese Geschichten auf Resonanz. Der Mannheimer Musiker Xavier Naidoo griff beispielsweise mehrfach Adrenochrom-Gerüchte auf. Es ist schwierig abzuschätzen, wie viele Menschen den wilden Geschichten von QAnon tatsächlich Glauben schenken. Doch unabhängig von dieser Frage erscheint die herausgehobene Stellung gepeinigter Kinder und Kinderschänder in rechtsextremen Mythologien der Gegenwart erklärungsbedürftig: Woher rühren die rechten Obsessionen mit Kinderblut und Kinderqualen? Und inwieweit lassen sie sich in eine weitere Geschichte von Kindesmissbrauch und Kinderschutz einordnen?
Ritualmorde

Antisemitische Schrift zum „Blutmord in Konitz“, 1901; Quelle: wikipedia.org
Phantasmatische Geschichten über Kinderschändungen lassen sich historisch weit zurückverfolgen. Dass Juden im Rahmen religiöser Zeremonien christliche Kinder schlachteten und ihr Blut tränken, zählte schon im Mittelalter zu den gängigen Topoi antijüdischer Propaganda. Am Beginn des 20. Jahrhunderts fanden solche Vorstellungen jedoch weiterhin Gehör und gewannen sogar eine neue Relevanz. Die Historiker Christoph Nonn und Helmut Walser Smith haben in ihren Büchern über einen viel beachteten Kindesmord im westpreußischen Städtchen Konitz im Jahr 1900 den verheerenden Einfluss antisemitischer Ritualmord-Vorwürfe an der Jahrhundertwende nachweisen können. Nach dem unerklärlichen Verschwinden eines Jungen geriet der jüdische Metzger in den Verdacht, das Kind gemeinsam mit Glaubensbrüdern bestialisch ermordet zu haben. Das Gerücht eines jüdischen Ritualmords, vom christlichen Konkurrenten des Metzgers fleißig geschürt, wurde von der antisemitischen Presse in ganz Deutschland begierig aufgegriffen und stachelte Anwohner zu massiven antisemitischen Krawallen an. Auch der Polizei und Teilen der national-konservativen Presse erschien die Geschichte vom Ritualmord an dem Jungen so plausibel, dass sie Nachforschungen in diese Richtung nicht von vornherein verwerfen wollten.
Konitz war kein Einzelfall. Antisemitisch gefärbte Vorwürfe von Kinderschändung fanden sich auch in Großstädten. Im gleichen Jahr, in dem in Konitz ein antisemitischer Mob durch die Straßen zog, musste sich in Berlin der Bankier August Sternberg vor Gericht gegen den Vorwurf verteidigen, eine Vielzahl junger Mädchen vergewaltigt zu haben. Ein wichtiger Teil der öffentlichen Meinung sah, wie die Politikwissenschaftlerin Brigitte Kerchner herausgefunden hat, in den Vorfällen nicht so sehr die Straftaten eines Individuums als vielmehr ein Zeichen einer tief verwurzelten sittlichen Dekadenz der liberalen Großstadtgesellschaft. Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass der Bankier Sternberg fälschlich als Jude adressiert wurde, obwohl er Protestant war. Im Zentrum rechtsnationaler Kinderschändungsvorwürfe dieser Zeit stand eine urbane ökonomische Elite, für die „der Jude“ als Sinnbild stand. Das Anliegen des Kinderschutzes verband sich so um 1900 mit einer anti-liberalen Kritik modernen Lebens. Kinderschutz meinte nicht zuletzt den Schutz vor dem Zugriff liberaler Kultureliten und ihren Gesellschaftsideen.
Diese Verbindung lässt sich auch in den folgenden Jahrzehnten beobachten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Forderung „Schützt unsere Kinder vor den Sexualverbrechern!“, wie sie ein Pamphlet von 1931 schmückte, zur Losung einer völkisch-nationalistischen Kampagne gegen die Weimarer Demokratie, und die nationalsozialistische Führung wollte sich ab 1933 nicht zuletzt dadurch Legitimität verschaffen, dass sie sich ein gnadenloses Vorgehen gegen Kinderschänder auf ihre Fahnen schrieb. Tatsächlich verfügte sie im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 die zwangsweise Kastration von Sexualstraftätern. Deren Vergehen wurden als Angriff gegen den „Volkskörper“ aufgefasst, zugleich unterblieb eine Beschäftigung mit Ursachen und Ermöglichungsbedingungen von Missbrauch ebenso wie eine Sorge um die Opfer sexueller Gewalt. Die Wahnidee von Juden als geborenen Kinderschändern bildete darüber hinaus einen Baustein der antisemitischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik.
Vergiftete Bonbons
Wunderliche Erzählungen von Kinderschändung zirkulierten in dieser Zeit allerdings keineswegs nur in antisemitischen und nationalistischen Kreisen. Auch in der politischen Linken und im liberalen Bürgertum waren sie präsent, wobei das Profil des Kinderschänders jedoch ein deutlich anderes war. In der frühen Arbeiterbewegung kursierten Geschichten von wollüstigen Adeligen und reichen Kapitalisten, die Arbeitermädchen ihrer Ehre beraubten und in die Prostitution zwangen. Es waren nach 1900 dann aber vor allem die katholische Kirche und religiöse Orden, denen liberale und sozialistische Autoren massenhafte Verbrechen an Kindern unterstellten. Auch diese Vorwürfe entstammten älteren Traditionen. Die antiklerikale Propaganda hatte sich seit dem 18. Jahrhundert immer auch aus dem Verdacht genährt, dass hinter Klostermauern Kinder von monströsen Mönchen und Nonnen gepeinigt und vergewaltigt würden. Und auch in diesem Fall wirkten Bilder von Kinderschändung weit in das 20. Jahrhundert hinein. In Madrid führte noch im Frühjahr 1936 das Gerücht, Nonnen würden an Arbeiterkinder vergiftete Bonbons verteilen, zu Massenausschreitungen, bei denen Kirchen und religiöse Gebäude niedergebrannt wurden.
„Rechte“ wie „linke“ Erzählungen von Kinderschändung einte insofern eine Rhetorik des Verdachts, die sich gegen real oder vermeintlich mächtige Personen und Institutionen wendete. In Anklagen von Kinderschändung manifestierten sich immer auch Vorstellungen gesellschaftlicher Machthierarchien und soziale Demarkationslinien zwischen ehrbaren und sittlich korrupten Gesellschaftsgruppen. Sie fügten sich ein in die turbulenten Jahre der Jahrhundertwende, als soziale Veränderungen gesellschaftliche Hierarchien und Ordnungsentwürfe in Frage stellten. Zugleich gründeten sie auf einem neuen öffentlichen Interesse an der Kinderseele, das Mediziner und Pädagogen, Psychologen und Juristen bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben hatten. Sie beschworen die körperliche, aber immer mehr auch die psychische Verletzlichkeit von Heranwachsenden und entwarfen Kinder zugleich als Hoffnungsträger einer besseren Zukunft, die es sorgfältig zu bilden und von Gefahren aller Art fernzuhalten galt. Gewalt gegen Kinder richtete sich in diesem Sinn immer auch gegen die ganze Nation, deren Gesundheit und Zukunft Kinder symbolisierten.
Missbrauchsvorwürfe
Es ist kaum zu übersehen, dass die rechtsextremen Verschwörungsgeschichten auch heute in einer Gegenwart zirkulieren, die dem Wohlergeben von Kindern in neuer Weise Aufmerksamkeit schenkt. Nachdem jahrzehntelang Missbrauchsvorwürfe gegen prestigeträchtige Institutionen wenig Gehör fanden und Täter mit einem guten Leumund oftmals nicht strafrechtlich belangt wurden, vergeht seit einem Jahrzehnt kaum eine Woche, in der nicht neue Vorfälle von Übergriffen und sexueller Gewalt offengelegt werden. Kinderheime und Heime für ledige Mütter sind ebenso als Orte der Gewalt entdeckt worden wie Eliteinternate, Einrichtungen der Katholische Kirche, Sportverbände und Stützpunkte des Leistungssports.

Plakate mahnen in der Nähe der Odenwaldschule zur Aufarbeitung, 2011; Quelle: taz.de
In den USA haben die Ermittlungen gegen den Investor Jeffrey Epstein nicht nur ein erschreckendes Ausmaß jahrelangen Missbrauchs an Mädchen und jungen Frauen aufgedeckt, sondern auch die engen Kontakte zum Thema werden lassen, die Epstein zu vielen Mitgliedern der politischen und kulturellen Elite pflegte. In der Bundesrepublik fanden 2011 Opfer des jahrelangen Missbrauchs an der Odenwaldschule, dem bekanntesten deutschen Reforminternat, erstmals auf breiter Front Gehör, nachdem ihre Anklage noch zehn Jahre zuvor wenig mediale Resonanz erzielt hatte. Der akademisch und bildungspolitisch außerordentlich gut vernetzte Schulleiter Gerold Becker stand im Mittelpunkt eines ausgeklügelten Systems sexueller Gewalt, das über mehrere Jahrzehnte Bestand hatte. Jüngst sind pädokriminelle Netzwerke in West-Berlin der 1970er und 1980er Jahre in das öffentliche Blickfeld gerückt, in denen der Sozialpädagoge und Sexualwissenschaftler Helmut Kentler eine herausgehobene Rolle spielte. Als Abteilungsleiter für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung am Pädagogischen Zentrum Berlin, einer öffentlichen Einrichtung des Landes Berlin, vermittelte er männliche Jugendliche aus der staatlichen Fürsorge in die Obhut bekennender Pädophiler. Zugleich unterstreichen Untersuchungsberichte einzelner Bistümer das massive Ausmaß von Missbrauch in der Katholischen Kirche.
Verdeckte Gewalt
Diese und andere Enthüllungen machen die Wahngeschichten kinderschändender Elitenetzwerke nicht glaubhafter, die sich wie um 1900 immer wieder gegen liberale Eliten wenden und die Fähigkeiten des liberalen Rechtsstaates, Kinder und Familien zu schützen, grundsätzlich in Frage stellen. In den Repräsentationen gequälter Kinder manifestiert sich ein diffuses Unbehagen an gesellschaftlichem Wandel. Sie dürfen aber nicht als Ausdruck einer Besorgnis über spezifische Gewalthandlungen verstanden werden, auch wenn sie an um Bilder von Kindern gelagerte kulturelle Ängste anknüpfen und eine zeitgenössischen Sprache des Kinderschutzes usurpieren. Sie bedienen sich vielmehr einer voyeuristischen Lust am Schaudern, die sich auch in der weiteren Populärkultur der Gegenwart findet. Auch gut gemeinte Fernsehfilme wie etwa „Operation Zucker“ (2012) oder der Tatort „Abgründe“ (2014), die über sexuellen Missbrauch aufklären wollen, präsentieren einflussreiche „Pädophilenringe“ aus Politikern, Staatsanwälten, Bauunternehmern und Militärs als hauptsächliche Gewaltakteure, denen nur durch den unerschrockenen Einsatz einfacher Ermittler das Handwerk gelegt werden kann. Diese Darstellung erscheint jedoch problematisch. Anstatt Gewalt gegen Kinder erklären zu helfen und zu ihrer strafrechtlichen Verfolgung sowie zu ihrer Prävention beizutragen, verstellen diese kulturellen Repräsentationen den Blick auf Kindesmissbrauch: Indem sie nebulöse Netzwerke mächtiger Männer und Frauen für Missbrauch und Gewalt verantwortlich machen, exotisieren sie diese zugleich. Wird Kindesmissbrauch plakativ auf kulturelle Eliten, Politiker und Finanzinvestoren als Täter enggeführt, gerät das Alltägliche und Banale, das Gewalt gegen Kinder auch auszeichnet, in den Hintergrund. Ein Verständnis von Gewalt, die sich eben nicht auf bestimmte soziale Gruppen oder institutionelle Kontexte engführen lässt, wird damit ebenso erschwert wie eine historische Aufarbeitung ihrer Ursachen.