Seit einigen Jahren verbreitet die QAnon-Bewegung rechtsextreme Verschwörungstheorien, die um den Missbrauch von Kindern kreisen. Diese Theorien sind abstrus. Historisch betrachtet bilden sie allerdings nur das gegenwärtige Ende einer langen Geschichte der rechten Instrumentalisierung von Kinderschutz und Missbraucherzählungen.

  • Till Kössler

    Till Kössler ist Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und forscht zur Geschichte der Kindheit und Bildung sowie zur spanischen und europäischen Zeitgeschichte.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
QAnon, Kinder­schän­dung und die Geschichte des Kinderschutzes
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Die Fixie­rung auf Kinder­schän­dung und Kinder­mord stellt viel­leicht die merk­wür­digste Seite der QAnon-Bewegung dar, die in den USA seit einigen Jahren medi­en­wirksam eine groß­an­ge­legte Verschwö­rung poli­ti­scher Eliten zu enttarnen vorgibt. Ihre Vertreter:innen  behaupten, dass das links-liberale poli­ti­sche und kultu­relle Estab­lish­ment von einfluss­rei­chen Netz­werken von Sata­nisten und Pädo­philen beherrscht werde, die in großem Maßstab Kinder entführten und miss­brauchten. Sie trach­teten nicht zuletzt danach, aus den Körpern und dem Blut gefol­terter Kinder das vermeint­lich lebens­ver­län­gernde Stoff­wech­sel­pro­dukt Adre­no­chrom zu extra­hieren. Eine der vielen phan­tas­ti­schen Erzäh­lungen, die über diese angeb­liche Verschwö­rung im Umlauf sind, handelt etwa von riesigen Tunnel­an­lagen unter dem New Yorker Central Park, in denen im Jahr 2020 35.000 unter­ernährte Kinder in Käfigen gefangen gehalten und gequält worden seien. Erst das Marine-Corps habe auf Anwei­sung Donald Trumps und unter dem Deck­mantel der Corona-Epidemie diesem Treiben ein Ende gesetzt und die Kinder befreit.

Auch im deutsch­spra­chigen Raum stoßen diese Geschichten auf Reso­nanz. Der Mann­heimer Musiker Xavier Naidoo griff beispiels­weise mehr­fach Adrenochrom-Gerüchte auf. Es ist schwierig abzu­schätzen, wie viele Menschen den wilden Geschichten von QAnon tatsäch­lich Glauben schenken. Doch unab­hängig von dieser Frage erscheint die heraus­ge­ho­bene Stel­lung gepei­nigter Kinder und Kinder­schänder in rechts­extremen Mytho­lo­gien der Gegen­wart erklä­rungs­be­dürftig: Woher rühren die rechten Obses­sionen mit Kinder­blut und Kinder­qualen? Und inwie­weit lassen sie sich in eine weitere Geschichte von Kindes­miss­brauch und Kinder­schutz einordnen?

Ritu­al­morde

Anti­se­mi­ti­sche Schrift zum „Blut­mord in Konitz“, 1901; Quelle: wikipedia.org

Phan­tas­ma­ti­sche Geschichten über Kinder­schän­dungen lassen sich histo­risch weit zurück­ver­folgen. Dass Juden im Rahmen reli­giöser Zere­mo­nien christ­liche Kinder schlach­teten und ihr Blut tränken, zählte schon im Mittel­alter zu den gängigen Topoi anti­jü­di­scher Propa­ganda. Am Beginn des 20. Jahr­hun­derts fanden solche Vorstel­lungen jedoch weiterhin Gehör und gewannen sogar eine neue Rele­vanz. Die Histo­riker Chris­toph Nonn und Helmut Walser Smith haben in ihren Büchern über einen viel beach­teten Kindes­mord im west­preu­ßi­schen Städt­chen Konitz im Jahr 1900 den verhee­renden Einfluss anti­se­mi­ti­scher Ritualmord-Vorwürfe an der Jahr­hun­dert­wende nach­weisen können. Nach dem uner­klär­li­chen Verschwinden eines Jungen geriet der jüdi­sche Metzger in den Verdacht, das Kind gemeinsam mit Glau­bens­brü­dern bestia­lisch ermordet zu haben. Das Gerücht eines jüdi­schen Ritu­al­mords, vom christ­li­chen Konkur­renten des Metz­gers fleißig geschürt, wurde von der anti­se­mi­ti­schen Presse in ganz Deutsch­land begierig aufge­griffen und stachelte Anwohner zu massiven anti­se­mi­ti­schen Krawallen an. Auch der Polizei und Teilen der national-konservativen Presse erschien die Geschichte vom Ritu­al­mord an dem Jungen so plau­sibel, dass sie Nach­for­schungen in diese Rich­tung nicht von vorn­herein verwerfen wollten.

Konitz war kein Einzel­fall. Anti­se­mi­tisch gefärbte Vorwürfe von Kinder­schän­dung fanden sich auch in Groß­städten. Im glei­chen Jahr, in dem in Konitz ein anti­se­mi­ti­scher Mob durch die Straßen zog, musste sich in Berlin der Bankier August Stern­berg vor Gericht gegen den Vorwurf vertei­digen, eine Viel­zahl junger Mädchen verge­wal­tigt zu haben. Ein wich­tiger Teil der öffent­li­chen Meinung sah, wie die Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Brigitte Kerchner heraus­ge­funden hat, in den Vorfällen nicht so sehr die Straf­taten eines Indi­vi­duums als viel­mehr ein Zeichen einer tief verwur­zelten sitt­li­chen Deka­denz der libe­ralen Groß­stadt­ge­sell­schaft. Es ist in diesem Zusam­men­hang kein Zufall, dass der Bankier Stern­berg fälsch­lich als Jude adres­siert wurde, obwohl er Protes­tant war. Im Zentrum rechts­na­tio­naler Kinder­schän­dungs­vor­würfe dieser Zeit stand eine urbane ökono­mi­sche Elite, für die „der Jude“ als Sinn­bild stand. Das Anliegen des Kinder­schutzes verband sich so um 1900 mit einer anti-liberalen Kritik modernen Lebens. Kinder­schutz meinte nicht zuletzt den Schutz vor dem Zugriff libe­raler Kulture­liten und ihren Gesellschaftsideen.

Diese Verbin­dung lässt sich auch in den folgenden Jahr­zehnten beob­achten. Nach dem Ersten Welt­krieg wurde die Forde­rung „Schützt unsere Kinder vor den Sexu­al­ver­bre­chern!“, wie sie ein Pamphlet von 1931 schmückte, zur Losung einer völkisch-nationalistischen Kampagne gegen die Weimarer Demo­kratie, und die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Führung wollte sich ab 1933 nicht zuletzt dadurch Legi­ti­mität verschaffen, dass sie sich ein gnaden­loses Vorgehen gegen Kinder­schänder auf ihre Fahnen schrieb. Tatsäch­lich verfügte sie im „Gesetz gegen gefähr­liche Gewohn­heits­ver­bre­cher und über Maßre­geln der Siche­rung und Besse­rung“ vom 24. November 1933 die zwangs­weise Kastra­tion von Sexu­al­straf­tä­tern. Deren Vergehen wurden als Angriff gegen den „Volks­körper“ aufge­fasst, zugleich unter­blieb eine Beschäf­ti­gung mit Ursa­chen und Ermög­li­chungs­be­din­gungen von Miss­brauch ebenso wie eine Sorge um die Opfer sexu­eller Gewalt. Die Wahn­idee von Juden als gebo­renen Kinder­schän­dern bildete darüber hinaus einen Baustein der anti­se­mi­ti­schen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik.

Vergif­tete Bonbons

Wunder­liche Erzäh­lungen von Kinder­schän­dung zirku­lierten in dieser Zeit aller­dings keines­wegs nur in anti­se­mi­ti­schen und natio­na­lis­ti­schen Kreisen. Auch in der poli­ti­schen Linken und im libe­ralen Bürgertum waren sie präsent, wobei das Profil des Kinder­schän­ders jedoch ein deut­lich anderes war. In der frühen Arbei­ter­be­we­gung kursierten Geschichten von wollüs­tigen Adeligen und reichen Kapi­ta­listen, die Arbei­ter­mäd­chen ihrer Ehre beraubten und in die Prosti­tu­tion zwangen. Es waren nach 1900 dann aber vor allem die katho­li­sche Kirche und reli­giöse Orden, denen libe­rale und sozia­lis­ti­sche Autoren massen­hafte Verbre­chen an Kindern unter­stellten. Auch diese Vorwürfe entstammten älteren Tradi­tionen. Die anti­kle­ri­kale Propa­ganda hatte sich seit dem 18. Jahr­hun­dert immer auch aus dem Verdacht genährt, dass hinter Klos­ter­mauern Kinder von mons­trösen Mönchen und Nonnen gepei­nigt und verge­wal­tigt würden. Und auch in diesem Fall wirkten Bilder von Kinder­schän­dung weit in das 20. Jahr­hun­dert hinein. In Madrid führte noch im Früh­jahr 1936 das Gerücht, Nonnen würden an Arbei­ter­kinder vergif­tete Bonbons verteilen, zu Massen­aus­schrei­tungen, bei denen Kirchen und reli­giöse Gebäude nieder­ge­brannt wurden.

„Rechte“ wie „linke“ Erzäh­lungen von Kinder­schän­dung einte inso­fern eine Rhetorik des Verdachts, die sich gegen real oder vermeint­lich mäch­tige Personen und Insti­tu­tionen wendete. In Anklagen von Kinder­schän­dung mani­fes­tierten sich immer auch Vorstel­lungen gesell­schaft­li­cher Macht­hier­ar­chien und soziale Demar­ka­ti­ons­li­nien zwischen ehrbaren und sitt­lich korrupten Gesell­schafts­gruppen. Sie fügten sich ein in die turbu­lenten Jahre der Jahr­hun­dert­wende, als soziale Verän­de­rungen gesell­schaft­liche Hier­ar­chien und Ordnungs­ent­würfe in Frage stellten. Zugleich grün­deten sie auf einem neuen öffent­li­chen Inter­esse an der Kinder­seele, das Medi­ziner und Pädagogen, Psycho­logen und Juristen bereits seit Mitte des 19. Jahr­hun­derts voran­ge­trieben hatten. Sie beschworen die körper­liche, aber immer mehr auch die psychi­sche Verletz­lich­keit von Heran­wach­senden und entwarfen Kinder zugleich als Hoff­nungs­träger einer besseren Zukunft, die es sorg­fältig zu bilden und von Gefahren aller Art fern­zu­halten galt. Gewalt gegen Kinder rich­tete sich in diesem Sinn immer auch gegen die ganze Nation, deren Gesund­heit und Zukunft Kinder symbolisierten.

Miss­brauchs­vor­würfe

Es ist kaum zu über­sehen, dass die rechts­extremen Verschwö­rungs­ge­schichten auch heute in einer Gegen­wart zirku­lieren, die dem Wohl­ergeben von Kindern in neuer Weise Aufmerk­sam­keit schenkt. Nachdem jahr­zehn­te­lang Miss­brauchs­vor­würfe gegen pres­ti­ge­träch­tige Insti­tu­tionen wenig Gehör fanden und Täter mit einem guten Leumund oftmals nicht straf­recht­lich belangt wurden, vergeht seit einem Jahr­zehnt kaum eine Woche, in der nicht neue Vorfälle von Über­griffen und sexu­eller Gewalt offen­ge­legt werden. Kinder­heime und Heime für ledige Mütter sind ebenso als Orte der Gewalt entdeckt worden wie Elite­inter­nate, Einrich­tungen der Katho­li­sche Kirche, Sport­ver­bände und Stütz­punkte des Leistungssports.

Plakate mahnen in der Nähe der Oden­wald­schule zur Aufar­bei­tung, 2011; Quelle: taz.de

In den USA haben die Ermitt­lungen gegen den Investor Jeffrey Epstein nicht nur ein erschre­ckendes Ausmaß jahre­langen Miss­brauchs an Mädchen und jungen Frauen aufge­deckt, sondern auch die engen Kontakte zum Thema werden lassen, die Epstein zu vielen Mitglie­dern der poli­ti­schen und kultu­rellen Elite pflegte. In der Bundes­re­pu­blik fanden 2011 Opfer des jahre­langen Miss­brauchs an der Oden­wald­schule, dem bekann­testen deut­schen Reform­in­ternat, erst­mals auf breiter Front Gehör, nachdem ihre Anklage noch zehn Jahre zuvor wenig mediale Reso­nanz erzielt hatte. Der akade­misch und bildungs­po­li­tisch außer­or­dent­lich gut vernetzte Schul­leiter Gerold Becker stand im Mittel­punkt eines ausge­klü­gelten Systems sexu­eller Gewalt, das über mehrere Jahr­zehnte Bestand hatte. Jüngst sind pädo­kri­mi­nelle Netz­werke in West-Berlin der 1970er und 1980er Jahre in das öffent­liche Blick­feld gerückt, in denen der Sozi­al­päd­agoge und Sexu­al­wis­sen­schaftler Helmut Kentler eine heraus­ge­ho­bene Rolle spielte. Als Abtei­lungs­leiter für Sozi­al­päd­agogik und Erwach­se­nen­bil­dung am Pädago­gi­schen Zentrum Berlin, einer öffent­li­chen Einrich­tung des Landes Berlin, vermit­telte er männ­liche Jugend­liche aus der staat­li­chen Fürsorge in die Obhut beken­nender Pädo­philer. Zugleich unter­strei­chen Unter­su­chungs­be­richte einzelner Bistümer das massive Ausmaß von Miss­brauch in der Katho­li­schen Kirche.

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 Verdeckte Gewalt

Diese und andere Enthül­lungen machen die Wahn­ge­schichten kinder­schän­dender Elite­netz­werke nicht glaub­hafter, die sich wie um 1900 immer wieder gegen libe­rale Eliten wenden und die Fähig­keiten des libe­ralen Rechts­staates, Kinder und Fami­lien zu schützen, grund­sätz­lich in Frage stellen. In den Reprä­sen­ta­tionen gequälter Kinder mani­fes­tiert sich ein diffuses Unbe­hagen an gesell­schaft­li­chem Wandel. Sie dürfen aber nicht als Ausdruck einer Besorgnis über spezi­fi­sche Gewalt­hand­lungen verstanden werden, auch wenn sie an um Bilder von Kindern gela­gerte kultu­relle Ängste anknüpfen und eine zeit­ge­nös­si­schen Sprache des Kinder­schutzes usur­pieren.  Sie bedienen sich viel­mehr einer voyeu­ris­ti­schen Lust am Schau­dern, die sich auch in der weiteren Popu­lär­kultur der Gegen­wart findet. Auch gut gemeinte Fern­seh­filme wie etwa „Opera­tion Zucker“ (2012) oder der Tatort „Abgründe“ (2014), die über sexu­ellen Miss­brauch aufklären wollen, präsen­tieren einfluss­reiche „Pädo­phi­len­ringe“ aus Poli­ti­kern, Staats­an­wälten, Bauun­ter­neh­mern und Mili­tärs als haupt­säch­liche Gewalt­ak­teure, denen nur durch den uner­schro­ckenen Einsatz einfa­cher Ermittler das Hand­werk gelegt werden kann. Diese Darstel­lung erscheint jedoch proble­ma­tisch. Anstatt Gewalt gegen Kinder erklären zu helfen und zu ihrer straf­recht­li­chen Verfol­gung sowie zu ihrer Präven­tion beizu­tragen, verstellen diese kultu­rellen Reprä­sen­ta­tionen den Blick auf Kindes­miss­brauch: Indem sie nebu­löse Netz­werke mäch­tiger Männer und Frauen für Miss­brauch und Gewalt verant­wort­lich machen, exoti­sieren sie diese zugleich. Wird Kindes­miss­brauch plakativ auf kultu­relle Eliten, Poli­tiker und Finanz­in­ves­toren als Täter engge­führt, gerät das Alltäg­liche und Banale, das Gewalt gegen Kinder auch auszeichnet, in den Hinter­grund. Ein Verständnis von Gewalt, die sich eben nicht auf bestimmte soziale Gruppen oder insti­tu­tio­nelle Kontexte engführen lässt, wird damit ebenso erschwert wie eine histo­ri­sche Aufar­bei­tung ihrer Ursachen.