- Geschichte der Gegenwart - https://geschichtedergegenwart.ch -

Putin für Blinde

Jeden Abend gehe ich meiner schlechten Gewohn­heit nach, die russi­schen Nach­richten im Internet zu lesen. Ich surfe dabei auf den beliebten Nach­rich­ten­seiten wie gazeta.ru, lenta.ru oder newsru.com. Wie überall auf der Welt mischen sich skur­rile Schlag­zeilen aus dem Inland mit Kata­stro­phen­mel­dungen aus dem Ausland und werden zu einem unheim­li­chen Gewirbel aus bizarren Todes­fällen und Verbre­chen, absurden natur­wis­sen­schaft­li­chen Entde­ckungen, Lebens­chro­niken von ortho­doxen Geist­li­chen und Film­stars: „Zwei sich küssende Schü­le­rinnen wurden von einem Zug über­fahren“, „Magel­lan­sche Wolken verschwinden bald“, „Die Lomonossov-Universität hat den Schim­mel­pilz bekämpft“, „Die Katzen des Soloveckij-Klosters möchten getauft werden“, „Eine Oma hat einen Eisbären mit einer Schaufel erschlagen“.

Das einzige, was in diesem Nachrichten- und Sprach­ge­wirr mit schöner Regel­mä­ßig­keit auftaucht, und zwar mehr­mals pro Tag, ist ein Bild von Vladimir Putin. Diese Stabi­lität wird der Defi­ni­tion des russi­schen Präsi­denten als eines „Garanten“ gerecht, die Boris Jelzin 1993 in die Verfas­sung einführte: In den russi­schen Medien dienen die vertausch­baren Bezeich­nungen „Präsi­dent“, „Garant“ und „Putin“ als eine Art Versi­che­rung der gesell­schaft­li­chen Ordnung: Solange man diesen Wörtern begegnet, wird das Staats­schiff von Kata­stro­phen, die aus dem Westen herüber­wehen, und von der inlän­di­schen fünften Kolonne nicht vom Kurs abgelenkt.

Putin-iPhone, Quelle: caviar-phone.ru/collection-5s/supremo/collection-5s-caviar-supremo-putin

Ursprüng­lich hieß es sogar, dass der Präsi­dent der Russi­schen Föde­ra­tion ein „Garant des Grund­ge­setzes“ (Garant konsti­tutcii) sei. Das heißt derje­nige, der die „recht­mä­ßige Ausfüh­rung des Grund­ge­setzes garan­tiert“. Doch mit Putin verschwand im Alltags­ge­brauch aus dieser Formu­lie­rung das Wort „Grund­ge­setz“ wieder, wie mit ihm auch die Idee verschwand, dass das Grund­ge­setz für alle gelte, also auch für den „Garanten“ selbst. Stehen blieb nur der „Garant“. Er ersetzt das Gesetz. In den Augen der Mehr­heit der Russen darf und soll dieser „Garant“ die „Ordnung“ und „Stabi­lität“ nicht nur in Russ­land, sondern über die Grenzen Russ­lands hinaus gewährleisten.

Putin-Shirt (Der höflichste unter den Menschen), Quelle: de.sputniknews.com/bilder/20150721/303360763.html

Die täglich in der Presse auftau­chenden Bilder von Putin sind inzwi­schen auch fester Bestand­teil des russi­schen Alltags außer­halb der Medien. Sie hängen in den Büros von russi­schen Büro­kraten und Olig­ar­chen, in der Provinz sogar im Herr­gotts­winkel neben der Ikone. Und doch: Es handelt sich nicht um eine Wieder­ho­lung des Perso­nen­kults, wie man ihn aus der sowje­ti­schen Geschichte kennt. Die Bilder von Putin sind zur Unter­hal­tung und zum Kauf bestimmt: Sie schmü­cken iPad-Hüllen und exklu­sive goldene iPhones, sie sind auf T-Shirts und auf billigen, in China gefer­tigten Porzellan-Bechern aufge­druckt. Sie sind Teil einer Merchan­di­sin­g­stra­tegie des poli­ti­schen Systems, das sich zwischen globalem neoli­be­ralem Markt und rechts­na­tio­nalem, zur Archaik tendie­rendem Tradi­tio­na­lismus bewegt.

Geht man davon aus, dass die Selbst­dar­stel­lungen von poli­ti­schen Führungs­fi­guren auch die Beson­der­heiten des Systems wider­spie­geln, dann ist Putin ein visu­elles Aushän­ge­schild seines eigenen poli­ti­schen Kurses: Seine Insze­nie­rungen über­blenden die Vita­lität und den Glanz des Konsum­ka­pi­ta­lismus mit der Sehn­sucht nach einer idea­li­sierten, ja korri­gierten und verfälschten sowje­ti­schen und ortho­doxen Vergangenheit.

Putin als Parvenü und Abenteurer

Die gängigen Narra­tive von Putins Leben folgen einer bestimmten Formel, die schon das sowje­ti­sche Lese­pu­blikum liebte: Es ist die Geschichte vom Parvenü, einem einfa­chen Mann, der durch eine Reihe von glück­li­chen Zufällen an die Spitze der Macht gelangt. Ein Narrativ, das man in den Romanen Victor Hugos, Stend­hals und Émile Zolas findet und das auch der russi­schen Kultur nicht fremd ist, wenn man an den spek­ta­ku­lären Aufstieg des Fürsten Potemkin denkt, dem legen­dären Erfinder der „potem­kin­schen Dörfer“: gemalten Deko­ra­tionen, hinter denen sich mise­rable Zustände und Zerfall verbergen.

Putin auf dem Pferd im Rayon „Karataš“, Quelle: bibo.kz/zabavnie-foto/499325-super-putin.-chast-1..html

Diese Parvenü-Figur wird durch die stereo­typen Elemente einer anderen lite­ra­ri­schen Gattung, nämlich der Aben­teu­er­li­te­ratur, ergänzt. Putin, der aus der Meeres­tiefe eine antike Amphore holt, Putin, der auf einem Pferd durch die Taiga reitet, Putin, der in einem U-Boot in die Untiefen des Baikal-Grabens abtaucht, Putin, der einen Tiger jagt, Putin, der mit einem Kampfjet den Himmel durch­schneidet, Putin auf einem Motorrad, Putin als Hockey­spieler, Putin, der Raketen startet, Putin, der einen weißen Wal jagt, Putin, der verwaisten Nonnen­kra­nich­küken das Fliegen beibringt – alle diese Darstel­lungen sind geläu­fige Topoi der sowje­ti­schen Aben­teu­er­li­te­ratur, sie erwe­cken nost­al­gi­sche Erin­ne­rungen an Bilder aus Aben­teu­er­bü­chern, Kinder­ma­ga­zinen und Action­filmen der Sowjet­zeit. Nun werden diese Aben­teu­er­fan­ta­sien aus der Jugend­zeit der letzten sowje­ti­schen Gene­ra­tion mithilfe von Putin ‚tatsäch­lich‘ erlebt.

Putin 2008 in einem Tiger­re­servat mit einem betäubten Tier, Quelle: programmes.putin.kremlin.ru/en/tiger

Oft waren die Prot­ago­nisten dieser anspruchs­losen Romane oder Filme Mili­zio­näre, Mili­tärs oder Agenten des staat­li­chen Sicher­heits­dienstes. In den 1960er und 1970er Jahren wurde dem sowje­ti­schen Kino- und Fern­seh­zu­schauer die „Sicherheitsdienst-Romantik“ schmack­haft gemacht. Dieses Genre, das Ende der 1960er Jahre nach dem „Tauwetter“ entstand, war die reak­tio­näre Antwort auf die Offen­ba­rungen des XX. Partei­tags der KPdSU über die Rolle des Inland­ge­heim­dienstes NKVD, über den Staats­terror und den Perso­nen­kult von Stalin. Die damals gedrehten Filme und Fern­seh­se­rien wie Der Irrtum des Gesandten (Ошибка резидента, 1968), Den Treff­punkt darf man nicht ändern (Место встречи изменить нельзя (1979) oder Sieb­zehn Augen­blicke des Früh­lings (Семнадцать мгновений весны, 1973), deren Hand­lungen oft in die Blüte­zeit der stali­nis­ti­schen Säube­rungen zurück­ver­schoben worden waren, haben den Sicher­heits­dienst glori­fi­ziert und zugleich den Terror und die Repres­sionen uner­wähnt gelassen.

Max Otto von Stier­litz aus der Serie „Sieb­zehn Augen­blicke des Früh­lings“ (Семнадцать мгновений весны, 1973), Quelle: www.pravmir.ru/s-yubileem-gerr-shtirlic-k-40-letiyu-premery-filma-17-mgnovenij-vesny

Diese Filme imprä­gnierten das sowjetisch-russische kultu­relle Imagi­näre mit einer bestimmten Vorstel­lung von einem NKVD/GRU/KGB-Agenten: Dieser ist sport­lich, stark, klug, tapfer, manchmal stür­misch, aber fair, sitt­lich gefes­tigt, ehrlich, liebt seine Heimat, kann nichts falsch machen. Die Helden dieser Filme wurden vom Volk geliebt und zum unab­ding­baren Bestand­teil der sowje­ti­schen Folk­lore. Ihre Leder­ja­cken, ihre Gebärden und Hand­lungs­weisen wurden gerne imitiert. Es ist bekannt, dass Putin den Prot­ago­nisten von Sieb­zehn Augen­blicke des Früh­lings, einen char­manten russi­schen Agenten namens Stier­litz, der in Nazi­deutsch­land spio­niert, zu seinen Vorbil­dern zählt. So erscheint es auch nicht seltsam, dass der Präsi­dent die Zahl der west­li­chen Spione, die in Russ­land erwischt werden, jedes Jahr selbst verkündet.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Putin für Blinde

Dass Putin nun auch noch für jene sichtbar gemacht werden soll, die nicht sehen können, legt eine weitere absurde Nach­richt nahe. Vor drei Wochen berich­tete eine Regio­nal­nach­rich­ten­agentur über eine spezi­elle Biblio­thek für Blinde in Kras­no­jarsk. Für diese wurde ein drei­di­men­sio­nales Porträt von Putin in Origi­nal­größe aus Plastik ange­fer­tigt, damit die Blinden von Kras­no­jarsk, die en masse den Wunsch geäu­ßert haben sollen, den Präsi­denten zu sehen, nun dessen Antlitz ertasten können. Das kuriose Porträt besteht aus zwei Teilen, einer trans­pa­renten hohlen Putin­maske, unter der sich dann das gängige offi­zi­elle Foto­por­trät des Präsi­denten befindet. Zwischen beiden Ober­flä­chen herrscht Leere. Sofort wurde dieses für die Blinden in Sibi­rien bestimmte Bild zu einem Inter­net­phä­nomen. Es kursierte ebenso wie die szeni­schen Bilder, die Putin selbst in Auftrag gibt, und wie die unzäh­ligen Meme, die Putins verbale und visu­elle Plat­ti­tüden ironisch vervielfachen.

Putin für Blinde, Quelle: fotodnia.ru/foto-dnya-15-marta-2016-goda

Dazu passt auch, dass man für die Blinden keine Büste zum Ertasten erstellt hat, denn es gibt keine offi­zi­ellen Putin­büsten. Nicht zuletzt durch dieses Fehlen von Skulp­turen werden die Unter­schiede zwischen dem Putin’schen Russ­land und der Sowjet­union evident. Das sowje­ti­sche Denkmal war für die Zukunft bestimmt: Ein in Bronze gegos­sener tota­li­tärer Herr­scher schaut nach vorne, um die zukünf­tige Erin­ne­rung an sich selbst bereits in der Gegen­wart zu zemen­tieren. Die Bilder von Putin haben jedoch einen anderen Zweck. In einem Staat, der nicht auf die Zukunft setzt, sondern seine Ideo­logie auf dem Funda­ment einer erfun­denen Vergan­gen­heit baut, die aus Aben­teu­er­bü­chern stammt, sollen die Bilder des Auto­kraten vor allem eine ‚vitale‘, ja ‚virile‘ Gegen­wart erzeugen.

Das Künst­liche der Inszenierung

Putin auf dem Lado­gasee, Quelle; bibo.kz/zabavnie-foto/499325-super-putin.-chast-1..html

Das kuriose Putin­por­trät aus der sibi­ri­schen Biblio­thek ist wie viele andere Darstel­lungen Putins meta­re­flexiv. Putin hat zwei Gesichter. Hinter einer durch­sich­tigen, mime­ti­schen Ober­fläche, einem trans­pa­renten Abbild, gibt es ein anderes Image, ein uner­reich­bares und unwan­del­bares, das durch den physi­schen Kontakt mit den Fingern von Blinden nicht befleckt werden kann. Frei­lich, die Verdop­pe­lung des Körpers einer Persön­lich­keit des öffent­li­chen Lebens, sei es eines Stars oder Staats­manns, ist schon seit langem zum Gemein­platz der Kultur­theorie geworden. Kanto­ro­wiczs These von den zwei Körpern des Königs, einem natür­li­chen und damit sterb­li­chen, und einem über­na­tür­li­chen, der niemals stirbt, wurde immer wieder auf das Prinzip des modernen Herr­schers und des Stars über­tragen. Putin nutzt das Prinzip des Stars, vor allem des Schau­spie­ler­stars, der für gewöhn­lich aus einem star-as-image und einem star-as-real-person besteht, und kehrt dieses um. Während der Schau­spieler seine Rolle im Film spielt und sein Bild im wirk­li­chen Leben erst noch erzeugen muss, wählt Putin für das wirk­liche Leben die Film­rolle. Der ‚natür­liche‘ Putin ist der Film­putin, der Putin aus den Aben­teu­er­filmen oder – wie ihn die Autoren von Memes gerne sehen – ein Action­held aus ameri­ka­ni­schen B-Movies. Der ‚natür­liche‘ Putin ist ebenso eine glatte Ober­fläche wie der ‚offi­zi­elle‘.

Die Mecha­nismen der Medi­en­in­sze­nie­rung, die bei der Produk­tion von Cele­bri­ty­bil­dern norma­ler­weise verhüllt sind, sind bei Putin­bil­dern nicht mehr verborgen. Im Gegen­teil, sie stellen einen wesent­li­chen Teil der Ober­fläche dar. Die berühmte Schei­dungs­an­kün­di­gung des Ehepaars Putin fand im Theater angeb­lich nach einer Ballett-Performance statt. Das Thea­ter­foyer war aller­dings leer, obwohl die Premiere des Balletts, wenn man den kurz zuvor gezeigten Aufnahmen des Publi­kums im Zuschau­er­raum glauben sollte, gut besucht war. Durch die großen Foyer­fenster sieht man zudem, wie draußen die Sonne scheint, und trotzdem behauptet die Mode­ra­torin, dass das Präsi­den­ten­paar eine Abend­vor­stel­lung besuchte.

„Wie fanden Sie die Vorstel­lung?“ – erkun­digt sich die Jour­na­listin, die eigent­lich eine Repor­tage über die Premiere machen sollte, aber zufäl­li­ger­weise im Foyer auf die Putins stieß. – „Ich habe den Eindruck, dass unser Ballett eine unglaub­liche Größe, eine Perfek­tion erreicht hat, so leicht und unsichtbar sind die Bewe­gungen der Akteure auf der Bühne, eine harte Arbeit, die der Zuschauer mit bloßem Auge nicht sehen kann“, antwortet Ljud­mila Putina. – „Ja, ja, es ist eine harte Arbeit, die man nicht sehen kann“, erwi­dert Putin und fügt hinzu: „Meine Frau meint natür­lich… die Arbeit der Tänzerin“. – „Wenn ich Sie schon getroffen habe“, setzt die Jour­na­listin fort, „darf ich noch eine Frage stellen? Man sieht Sie beide nicht oft zusammen, es gibt aber Gerüchte… ist etwas mit Ihrer Ehe los?“ – Groß­auf­nahme vom regungs­losen Gesicht Putins. – „Meine ganze Tätig­keit“, sagt der Garant nach einer bedeu­tungs­vollen Pause, „meine Arbeit ist mit der Öffent­lich­keit verbunden, es gibt aber Menschen, denen diese Öffent­lich­keit völlig fremd ist.“ – „Vladimir Vladi­mi­rovič gehört der Öffent­lich­keit, und mir ist das öffent­liche Leben fremd“, wieder­holt nach ihm seine Ehefrau.

Nichts an dieser Szene ist glaub­würdig, das zufäl­lige Treffen und die Insze­nie­rung des ‚authen­ti­schen‘ Moments sind offen­sicht­lich, das unge­lenk Geküns­telte wird nicht verborgen, es wird regel­recht zur Schau gestellt. Der Film­held spielt seine Rolle schlecht. Aber das macht nichts. Putin adres­siert dasje­nige russi­sche Publikum, das – wie zu sowje­ti­schen Zeiten – den Kitsch, also das offen­sicht­lich Künst­liche liebt, und deswegen über­zeugen, nein: verzau­bern diese Insze­nie­rungen nicht trotz, sondern aufgrund ihrer mit bloßem Auge sicht­baren Künstlichkeit.