Was haben Prüfungskultur in Schule und Universität mit dem geschichtlichen und gegenwärtigen Medienwandel zu tun? Und wo sollte die künftige Prüfungsentwicklung nicht falsch abbiegen? Zur historischen Einordnung und digitalen Zukunft der heutigen Prüfungskultur.

  • Philippe Wampfler

    Philippe Wampfler ist Deutschlehrer und Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich. Sein Fachgebiet ist die digitale Jugendkultur sowie Lernen mit digitalen Medien.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Prüfungs­kultur und Medi­en­wandel. Was sich ändern muss
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„Sicheres Prüfen im Fern­un­ter­richt“, versprach ein auf Twitter und Linkedin geteilter Beitrag des Gymna­si­al­leh­rers Jürg Widrig im März 2020: Wer die von ihm konzi­pierte Soft­ware isTest2 nutze, könnte die Schüler:innen gleich­zeitig dazu auffor­dern, sich mit ihrem Handy zu filmen. So sei es der Lehr­person über Zoom möglich einzu­sehen, ob Lernende uner­laubte Hilfe­stel­lungen beiziehen.

Widrig unter­stützte mit seinem Beitrag Lehr­kräfte, die Wege suchten, um Prüfungen „sicher“ durch­führen zu können. Sicher­heit bezieht sich dabei auf unter­schied­liche Kompo­nenten: erstens auf das tech­ni­sche Verfahren, das so verläss­lich sein sollte wie schrift­liche Prüfungen auf Papier, zwei­tens auf die Vergleich­bar­keit der Lernenden, die alle indi­vi­duell und ohne Hilfe die Prüfung bewäl­tigen müssen, und drit­tens auf schu­li­sche oder recht­liche Vorgaben, welche die Moda­li­täten einer Prüfung fest­legen, die gegen­über Rekursen „sicher“ ist.

Die Orien­tie­rung an Sicher­heit lässt sich auch auf Hoch­schul­ebene beob­achten: Soge­nannte Proctoring-Systeme bieten verschie­dene Formen von Über­wa­chung an, die verhin­dern sollen, dass Studie­rende bei Online-Prüfungen betrügen können. Eine kriti­sche Prüfung dieser Verfahren, wie sie etwa Lee und Fanguy (2022) vorge­nommen haben, zeigt aller­dings, dass sie eine Reihe von Konse­quenzen haben. So werden über­holte didak­ti­sche Settings, ein „teaching to the test“, bestärkt. Der Fokus auf Betrugs­ver­suche beein­flusst die Bezie­hungen zwischen Studie­renden und Lehrenden negativ. Und schließ­lich kann sich gesell­schaft­liche Ungleich­heit auf das Ergebnis auswirken, denn Proctoring-Verfahren gehen davon aus, dass alle Studie­renden Prüfungen unter idealen Rahmen­be­din­gungen ablegen können. Wer aber mit Menschen zusam­men­lebt, die während Prüfungen laut sind oder im Hinter­grund sichtbar werden, muss damit rechnen, als Betrüger:in ausge­schlossen zu werden.

Ein falscher Prüfungsmodus

Die tech­no­lo­gi­sche Entwick­lung der Prüfungs­kultur beruht nicht nur auf sche­ma­ti­schen und unter­kom­plexen Vorstel­lungen von Lernen und Wissens­ma­nage­ment, sondern steht zudem in einem ekla­tanten Wider­spruch zu den Merk­malen einer Kultur der Digi­ta­lität, wie sie Felix Stalder 2016 umrissen hat: Gemein­schaft­lich­keit, Refe­ren­tia­lität und Algo­rith­mi­zität bedeuten grund­sätz­lich, dass Wissen in einer Kultur, in der das Netz Leit­me­dium ist, durch Zusam­men­ar­beit, Kura­tion von bestehenden Texten und Verwen­dung von Programmen entsteht. Proctoring-Systeme werden hingegen einge­setzt, um gerade diese drei Typen von Verfahren bei Prüfungen zu verhin­dern und Menschen, die sie einsetzen wollen, zu bestrafen. Die Vorstel­lung einer Prüfung, in der Lernende in beschränkter Zeit, ohne Kommu­ni­ka­tion mit anderen Menschen und ohne Beizug von Fach­li­te­ratur Aufgaben bear­beiten, steht in einem krassen Kontrast zur Problem­be­ar­bei­tung in profes­sio­nellen Kontexten. Niemand erbringt heute eine Leis­tung so, wie das bei Prüfungen verlangt wird. Wer vor einer Heraus­for­de­rung steht, begegnet ihr nie in dem Modus, der bei Prüfungen erfor­dert wird.

Wer auf diesen Gegen­satz hinweist, wird auf Sach­zwänge verwiesen: Einer­seits würden Gesetze oder schu­li­sche Konven­tionen diese Formen von Prüfungen erzwingen, ande­rer­seits seien Noten für die künf­tige Ausbil­dung nötig. Wie aber ist diese Prüfungs­kultur, die im Grunde in einem Gegen­satz zu konsens­fä­higen Vorstel­lungen von Profes­sio­na­lität und Leis­tung stehen, über­haupt entstanden?  

„Span­nungs­reiche Logik“: Prüfungen als pädago­gi­sche Praxis

Prüfungen sind nicht primär aufgrund externer Faktoren ein zentrales Schar­nier im Bildungs­system, viel­mehr entspre­chen sie der sich wandelnden Mach­struktur der pädago­gi­schen Arbeit.

Foucault hat in der Straf­ge­sell­schaft-Vorle­sungs­reihe darauf hinge­wiesen, dass die Logik der Prüfung die Probeabge­löst habe. Wurden an mittel­al­ter­li­chen Univer­si­täten oder in der Erzie­hung von Adligen Menschen erprobt, so wird diese Konzep­tion spätes­tens seit der Einfüh­rung des Abiturs in Deutsch­land am Ende des 18. Jahr­hun­derts von der Vorstel­lung des Bemes­sens und Beur­tei­lens abge­löst. Die Struktur der Probe ist zwei­teilig: Lernende erproben sich in etwas, oft in der Fähig­keit, selbst lehren zu können. Die Prüfung hingegen ist drei­teilig: Lehrende prüfen Lernende hinsicht­lich ihrer Ausein­an­der­set­zung mit einem Lern­ge­gen­stand. Diese Struktur führt zu spezi­fi­schen Fragen und Aufgaben, die drei Funk­tionen erfüllen müssen: Erstens dürfen ihre Antworten nicht offen­sicht­lich oder Resultat einer Beob­ach­tung sein, zwei­tens sollten sie leicht beur­teilbar sein und drit­tens müssen sie vom geprüften Indi­vi­duum selbst hervor­ge­bracht werden. Das zeigt etwa das preu­ßi­sche Abitur-Edikt von 1788, wo explizit fest­ge­halten wird, dass Prüfungs­auf­gaben ohne Hilfe und in beschränkter Zeit zu lösen seien, damit sicher­ge­stellt werden kann, dass Schüler sie eigen­ständig bear­beitet haben und Lehr­per­sonen sie effi­zient korri­gieren können.

Diese Struktur gibt allen drei Bestand­teilen von Prüfungen eine spezi­fi­sche Form: Wissen wird zu Prüfungs­stoff, Lehr­per­sonen zu Prüfenden (die sich aber über die Prüfung auch selbst in ihrer Arbeit bewähren müssen) und die Lernenden zu Prüf­lingen, die nach­weisen, über welche Kennt­nisse und Kompe­tenzen sie verfügen. Die Prüfungs­leis­tung wird dabei zum Symptom eines indi­vi­dua­li­sierten Leis­tungs­ver­mö­gens, das Schüler:innen zuge­schrieben wird.

Noten machen Lernende zu Subjekten ihrer Prüfungs­leis­tung. Sie ermög­li­chen pädago­gisch seit rund zwei­hun­dert Jahren, das Selbst­ver­ständnis von Schüler:innen so zu prägen, dass sie sich anhand von geprüften Fähig­keiten sozial einordnen können. Noten sind ein zentrales Schar­nier in der Schul­so­zia­li­sa­tion, Prüfungen struk­tu­rieren und stan­dar­di­sieren das Bildungs­system. Histo­risch verläuft die Entwick­lung von Univer­si­täten zu Gymna­sien und von da zu den Volks­schulen, wie Helmut Fend gezeigt hat.

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Die Erfin­dung der Noten und die Media­lität der Prüfungen

Die Einfüh­rung der Noten wird gemeinhin den Jesui­ten­schulen zuge­schrieben, deren Prüfungs­kultur darauf ausge­richtet war, Ehrgeiz und Fleiß der Lernenden zu beför­dern. Der Jesui­ten­pro­fessor Joseph Juven­cius hielt gegen Ende des 17. Jahr­hun­derts in seinen Lern- und Lehr­me­thoden fest, es genüge nicht, dass die „jungen Leute“ studieren, „sondern sie müssen studieren wollen, gebildet werden wollen“. Dafür gebe es einen „doppelten Sporn“, nämlich die „Furcht vor Beschä­mung“ sowie der „Wett­eifer“.

Die münd­li­chen Prüfungen sind entspre­chend wett­be­werbs­ori­en­tiert ange­legt, damit die Schüler wahr­nehmen können, wer bessere Leis­tungen erbringt. Juven­cius hält fest, die Fragen sollten so gestellt werden, dass Konkur­renz möglich sei und andere bei Fehlern korri­gieren und verbes­sern können. Diese „Beschä­mung“ ist es, die Lernende fürchten sollen. Die Jesuiten haben auch Preise für die besten Schüler einge­führt und Leis­tungs­klassen unter­halten, welche eben­falls dazu dienten, Anreize für den Wett­kampf zu schaffen.

Das Wett­be­werbs­prinzip wird in der Jesui­ten­schule so stark gelebt, dass Schüler einander kontrol­lieren und über­wa­chen. Prüfungen und Noten bewirken eine soziale Rang­ord­nung, auf die sich die von Juven­cius bezo­gene Moti­va­tion bezieht: Lernen ist direkt mit Konkur­renz und Status verbunden. Noten dienen in dieser Macht­struktur der Vergleich­bar­keit von Lernenden.

Jesui­ten­schulen haben neben Noten und Wett­be­werb einer weiteren Neue­rung in der Prüfungs­kultur den Weg bereitet: die Einfüh­rung schrift­li­cher Prüfungen an den Gymna­sien, die aber erst um 1900 flächen­de­ckend erfolgte. Der Über­gang von einem oralen in ein skrip­to­gra­fi­sches Para­digma in Bezug auf die Prüfungs­kultur hat glei­cher­maßen mediale Bedin­gungen und Konse­quenzen. Die Verfüg­bar­keit von Papier erleich­tert beispiels­weise die Durch­füh­rung schrift­li­cher Prüfungen. Dadurch erhöht sich aber gleich­zeitig der Komple­xi­täts­grad, da Prüfungen aus dem Kommu­ni­ka­ti­ons­kon­text gelöst werden. Proto­kolle von Konventen der Zürcher Handels­schule zeigen, dass dieser Para­dig­men­wechsel für die Lehrer­schaft nicht ohne Probleme vonstat­ten­ging: Erfah­rene Lehr­kräfte wehrten sich gegen schrift­liche Prüfungen, die für sie mit größerem Korrek­tur­auf­wand und der Möglich­keit der Einmi­schung von Eltern oder Behörden verbunden waren. Schrift­liche Prüfungen erfor­derten zudem präziser und umständ­lich formu­lierte Aufgabenstellungen.

Der Über­gang bzw. die Über­la­ge­rung von münd­li­cher und hand­schrift­li­cher Prüfungs­kultur zeigt, wie spät sich in Prüfungen mediale Verschie­bungen in der Wissens­or­ga­ni­sa­tion mani­fes­tieren. Deshalb erstaunt es nicht, dass Typo­grafie und Digi­ta­lität mit deut­li­cher Verzö­ge­rung in Prüfungen aufscheinen. Zuge­spitzt könnte man sagen, dass beide sich heute noch nicht durch­ge­setzt haben, zumal Open-Book-Prüfungen, wie sie das Para­digma der Typo­grafie erfor­dern würde, weiterhin die Ausnahme bleiben. In den 1970er- und 1980er Jahren gab es an Gymna­sien inten­sive Diskus­sionen darüber, wie sinn­voll es sei, Schüler:innen kopierte Prüfungen bear­beiten zu lassen, diktierte Aufgaben hielten sich bis in die 1990er Jahre, obwohl es tech­nisch längst einfach möglich gewesen wäre, getippte Aufga­ben­blätter zu vervielfältigen.

Leit­me­di­en­wechsel bewirken eine Verän­de­rung der Prüfungs­kultur, aber mit einem großen Rück­stand und sehr langen Phasen der Über­la­ge­rung. Bezogen auf Digi­ta­li­sie­rung, die im Sinne einer digi­talen Trans­for­ma­tion als Über­gang von der Typo­grafie in die Digi­ta­lität gelesen werden kann, könnte aus dieser Perspek­tive zu Geduld gemahnt werden: Verläuft die Entwick­lung entlang histo­ri­scher Muster, dann dürfte Digi­ta­lität mit ihren Merk­malen (Kolla­bo­ra­tion, Refe­ren­zia­lität und Algo­rith­mi­zität) erst relativ spät in Prüfungs­set­tings wahr­nehmbar und sehr lange parallel zu oralen, skrip­to­gra­fi­schen und typo­gra­fi­schen Prüfungs­formen entwi­ckelt werden.

Bewer­tung als Expe­ri­men­tal­an­ord­nung: Der Einfluss der Naturwissenschaften

Prüfungen indi­vi­dua­li­sieren und stan­dar­di­sieren gleich­zeitig: Sie schreiben Einzelnen Leis­tungen zu. Damit diese Leis­tungen aber vergleichbar werden, müssen die Aufgaben, auf die sie sich beziehen, stan­dar­di­siert werden. Im 19. Jahr­hun­dert wurde dieser Zusam­men­hang mit statis­ti­schen und expe­ri­men­tellen Konzepten verbunden. Versteht man Prüfungen als Messungen, dann sind sie Teil einer Expe­ri­men­tal­ord­nung: Mit Instru­menten wird etwas ermit­telt, das der Wahr­neh­mung nicht unmit­telbar zugäng­lich sind. Bei Prüfungen sind das Lern­pro­zesse, und sie müssen so gestaltet werden, dass sie möglichst genau und störungs­frei zeigen, wie gut Schüler:innen etwas gelernt haben.

Diese Expe­ri­men­tal­ord­nung basiert auf einer Reihe von Annahmen, die durchaus kritisch gesehen werden können. Um ein Beispiel zu nennen: Würden Prüfungen wie Instru­mente in idealen Expe­ri­menten funk­tio­nieren, dürfte das Gemes­sene nicht von ihnen abhängen. Tatsäch­lich prägen Prüfungen aber Lernsettings.

Ein naturwissenschaftlich-experimentelles Verständnis von Prüfungen hat Konse­quenzen: Messen Prüfungen natür­liche Gege­ben­heiten, dann sollten ihre Ergeb­nisse statis­tisch normal verteilt sein. Daraus lässt sich die unter Lehr­per­sonen weiterhin verbrei­tete Vorstel­lungen erklären, Noten müssten „gut streuen“, und es sei „natür­lich“, dass nur wenige Werte sehr klein und nur wenige sehr groß seien und viele nahe am Mittel­wert liegen. So lassen sich zwei Phäno­mene erklären, die grund­sätz­lich seltsam sind: Weshalb haben nicht fast alle Schüler:innen gute Noten, wenn sie die Lern­ziele errei­chen? Weshalb teilen Lehr­kräfte Klassen den Durch­schnitt einer Prüfung mit? 

Die Vorstel­lung, Prüfungen seien ein Instru­ment in einem expe­ri­men­tellen Mess­ver­fahren, ist enorm wirk­mächtig. Sie beschreibt aber nicht, wie Prüfungen funk­tio­nieren, sondern wie sich Menschen in Analogie zu einer posi­ti­vis­ti­schen Vorstel­lung von Natur­wis­sen­schaften vorstellen, wie sie funk­tio­nieren könnten.

Kontrolle durch Unter­neh­mens­tech­no­logie: Die Zukunft von Prüfungen

In ihrer Kritik der Über­wa­chung an Schulen hat die Bildungs­ak­ti­vistin Audrey Watters darauf hinge­wiesen, dass digi­tale Bildungs­tech­no­logie durch ein grund­sätz­li­ches Miss­trauen gegen­über Lernenden gekenn­zeichnet sei. Das erklärt sie damit, dass EdTech oft eine Über­tra­gung tech­ni­scher Lösungen sei, die in Unter­nehmen zur Kontrolle von Arbeit­neh­menden entwi­ckelt worden sei.

Teams, eine von Micro­soft entwi­ckelte Platt­form, ist aktuell das Para­de­bei­spiel für die Verschmel­zung von Unter­neh­mens­tech­no­logie und Über­wa­chung von Lernenden. Für Arbeit­neh­mende bedeutet Teams oft komplette Verfüg­bar­keit: Wer nicht aktiv an einem Termin teil­nimmt, ist über Teams dennoch erreichbar. Vorge­setzte können alle Akti­vi­täten über Teams nach­ver­folgen und unab­hängig vom Arbeitsort über­prüfen, wie aktiv Mitar­bei­tende sind.

In Schulen wird Teams primär für Chats und Aufgaben verwendet: Lehr­per­sonen können Lernenden Aufgaben zuteilen, die in Teams abge­geben werden. So lässt sich nach­ver­folgen, wer die Aufgaben erle­digt hat und eine verspä­tete Abgabe kann verhin­dert oder markiert werden. Lehr­kräfte können Feed­back, Beur­tei­lungen und auch Noten direkt auf Teamserfassen und verwalten. Bei der Einfüh­rung von Teams haben sich Klassen an Gymna­sien zunächst gegen die Nutzung des Tools gewehrt, weil es für sie mit den entspre­chenden Einstel­lungen keine Möglich­keiten mehr gibt, Aufgaben nicht oder verspätet einzu­rei­chen. Seit der Phase des pande­mie­be­dingten Fern­un­ter­richts ist der Wider­stand aller­dings gebro­chen. Da Teams auch auf mobilen Geräten verfügbar ist, sind die Lernenden prak­tisch rund um die Uhr erreichbar.

Teams ist nicht nur eine Platt­form, auf der Prüfungen durch­ge­führt werden können (teil­weise durch Einbin­dung spezi­fi­scher Prüfungs­tools wie IsTest2 oder Clas­stime), die Insight-Funk­tion könnte in Zukunft auch bestimmte Aspekte von Prüfungen ersetzen. Dieses Tool misst die Akti­vität von Lernenden. Sie zeigt Lehr­per­sonen an, wer welche Dateien wie intensiv bear­beitet hat und wie lange jemand Teams genutzt hat. Die in der Arbeits­welt einge­führte Funk­tio­na­lität zu Erfas­sung der Arbeits­zeit kann umge­la­gert auf die Schule zu einer lücken­losen Erfas­sung der Lern­ak­ti­vi­täten führen. So wäre – eine etwas dysto­pi­sche Aussicht – die Abschaf­fung von Prüfungen denkbar: Wird das Lernen lückenlos vermessen, muss es nicht mehr in unge­nauen Prüfungen rekon­stru­iert werden, sondern kann direkt vergli­chen, beur­teilt und klas­si­fi­ziert werden.

Prüfungen sind einge­bunden in die Geschichte der mensch­li­chen Kultur und Gesell­schaft – so weit, so trivial. Als Macht­in­stru­ment funk­tio­nieren sie konser­vativ. Die Vorstel­lung, in künst­li­chen und leicht rück­stän­digen Arbeits­formen vermessen und vergli­chen zu werden, wird norma­li­siert. Das zeigt sich daran, dass die Vorstel­lung von prüfungs- oder noten­freien Lern­um­ge­bungen für viele utopisch wirkt. Sie löst Unsi­cher­heiten aus, wie an Jesui­ten­schulen scheinen Noten als Ansporn alter­na­tivlos. Gleich­zeitig schleicht sich über die Unter­neh­mens­tech­no­logie eine mäch­tige Alter­na­tive ein: Die Mikro­ver­mes­sung von Tätig­keiten (nicht Persön­lich­keits­merk­malen) könnte Prüfungen dann ersetzen, wenn es darum geht, zu kontrol­lieren, wie produktiv Lernende sind. So schließt diese histo­ri­sche Über­le­gung mit einer pessi­mis­ti­schen Prognose: Die aktuell proble­ma­ti­sche Prüfungs­kultur wird sich nicht hin zu einem menschlich-dialogischen Umgang mit Lernen und Entwick­lung wandeln können, weil dafür schlicht die Ressourcen fehlen, sondern tech­no­lo­gisch durch subtile und umfas­sende Formen der Kontrolle und Daten­aus­wer­tung abge­löst werden.