
1986 schrieb die US-amerikanische Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018) einen witzigen und bissigen Essay mit dem Titel The Carrier Bag Theory of Fiction (Die Tragetaschentheorie der Fiktion). Darin macht sie sich lustig über die lineare Erzählung vom vorzeitlichen Helden, der auszog, um Mammuts zu erlegen – und zurückkehrte, um wortreich davon zu prahlen. Die Sammler:innen mit ihren carrier bags, ihren Gefässen und Behältern voller wildem Hafer, voller Samen, Nüsse, Sprossen, Wurzeln, wären eigentlich absolut zufrieden gewesen mit ihrem veganen Menu, meint Le Guin, doch angesichts der blutrünstigen Geschichten vom Helden und der einzigartigen Handhabung seiner Waffen seien alle anderen verstummt, als staunendes Publikum: „Before you know it, the men and women in the wild-oat-patch and their kids and the skills of the makers and the thoughts of the thoughtful and the songs of the singers are all part of it, have all been pressed into service in the tale of the Hero. But it isn’t their story. It’s his.“

Ursula K Le Guin, Quelle: indiatoday.in
Dass Le Guins Essay in den 1980er Jahren entstand, ist kein Zufall. Einsame Action-Helden wie Conan der Barbar(1982) oder Rambo (1982), gespielt von Muskelpaketen wie Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone, dominierten die Kinoleinwände und das Angebot der aufblühenden Videotheken.
Damals konnte Le Guin nicht ahnen, dass sie eines Tages als einflussreichste Autorin spekulativer Romane und Erzählungen in die Literaturgeschichte eingehen und zu einer feministischen Ikone des 21. Jahrhunderts avancieren würde. Und dies, obwohl es in den 1970er und 80ern durchaus radikalere feministische Science Fiction gab – Joanna Russ’ Roman The Female Man (1975) zum Beispiel, der eine utopische Frauengemeinschaft ganz ohne Männer entwirft. Le Guin hingegen schrieb das Genre von innen heraus um, indem sie Abenteurer durchaus ferne Planeten entdecken und kolonisieren und vordergründig klassische Konflikte erleben ließ; was sie daran interessiert, ist aber nie das Hauen und Stechen, sondern immer die Begegnung zwischen kulturell und biografisch unterschiedlich geprägten Figuren, die versuchen, miteinander auszukommen. Eine der schönsten Passagen ist die gemeinsame Flucht von Genli Ai und Estraven über das gefrorene Meer im Roman The Left Hand of Darkness (1969). Mit ihrer Bromance, einer innigen Männerfreundschaft unter extremen Bedingungen, lässt Le Guin ganze Bibliotheken von Abenteuerromanen alt aussehen. Den bewährten Plot – Mann gegen Wildnis – benutzt sie subversiv als Behälter für die Beschreibung einer zarten Annäherung zwischen den beiden Haudegen in ihrer Körperlichkeit, ihrer Sinnlichkeit. Das eigentliche Abenteuer ist die Beziehung. Ihre unterschiedliche Geschlechtlichkeit finden beide zu Beginn verstörend. Der Erdling Genli Ai sieht sich als Mann, Estraven hingegen nimmt, wie alle auf dem Planeten Gethen, nur in bestimmten Phasen ein Geschlecht an, das dann männlich oder weiblich sein kann. Mit immer mehr Neugier und immer mehr Liebe entwickelt sich zwischen den beiden eine queere Beziehung jenseits aller Kategorien. Dann macht Le Guin den Behälter zu, greift zum erprobten Instrumentarium des populären Erzählens und bricht den Leser:innen das Herz.
Auf die Kritik, am Ende doch eine allzu binäre, männlich geprägte Geschichte erzählt zu haben, reagierte sie Jahre später mit einer Erzählung, in der die Ich-Erzähler:in ganz und gar aus einer genderfluiden Wahrnehmung heraus erzählt: Coming of Age in Karhide (1995). Kritik verstand die Autorin als willkommene Aufforderung, ihr eigenes literarisches Universum mit ethnografischer Neugier und Offenheit immer wieder neu zu vermessen.
Erzählräume
Ohne ihre weitverzweigten, leidenschaftlich genau ausgestalteten fantastischen Parallelwelten ist Le Guins spekulatives Fabulieren kaum nachvollziehbar. Sie liebte es zwar, in ihren Essays einen patriarchal, oft auch misogyn geprägten Literaturbetrieb anzugreifen. Doch das tat sie vor allem, um die unendliche Vielfalt und Differenziertheit ihrer Romanwelten zu verteidigen, und um für einen Erzählraum zu kämpfen, in dem es Raum für Experimente gibt.
Seit einiger Zeit wird ihr Carrier-Bag-Essay überall zitiert, wenn es um die Forderung nach neuen Erzählformen geht, die ohne den einsamen männlichen Helden auskommen sollen; es gibt Podcasts und Bücher dazu. In den letzten Jahren ist Le Guins Essay selbst zu einer Art Behälter für eine Vielfalt künstlerischer und wissenschaftlicher Bestrebungen geworden, aus den Zwängen der linearen Heldengeschichte auszubrechen. Von Dorothee Elmiger bis Kim de l’Horizon, von Neil Gaiman bis Rebecca Solnit beziehen sich weltweit zahlreiche Autor:innen auf Le Guin. Bei den meisten ist die Botschaft über den Umweg der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Anthropozän angekommen.
Erst seit die Carrier-Bag-Theory von Theoretikerinnen wie Anna Tsing und Donna Haraway benutzt wird, um die Dringlichkeit eines fundamental anderen Weltbezugs angesichts des Klimawandels und des Schwunds der Artenvielfalt zu betonen, sind neue Ausgaben, Übersetzungen und Textsammlungen erschienen. Donna Haraway schreibt in ihrem Vorwort zur Neuausgabe von 2019, der Essay habe sie damals, in den späten 80ern, im Kern – „at my core“ berührt, „and it still undoes and redoes me in the knotting of life stories for going on together in times of immense danger.“ In Staying with the Trouble (2016), ihrem Buch über neue Praktiken des Sich-Verwandtmachens jenseits kapitalistischer Ausbeutungs- und Fortschrittslogik, argumentiert Haraway mit Le Guin gegen autoritäre, vor allem aber auch gegen apokalyptische und dystopische Zukunftsfantasien. Es brauche, betont sie, eine Alternative zu den beiden dominanten Narrativen der Gegenwart, dem technologiegläubigen Optimismus auf der einen und endzeitlichen Untergangsvisionen auf der anderen Seite. Le Guins theory erscheint als geeignetes Gegengift angesichts von Fake News und Verschwörungstheorien. Sie nimmt zwar Bezug auf Elizabeth Fishers feministische Evolutionsgeschichte Women’s Creation (1975), von der sie die Idee übernimmt, dass am Anfang der Behälter war und nicht die Waffe, verwendet sie aber für eine verspielte Dekonstruktion des Mythos vom jagenden Helden. Es geht ihr weniger um die Vergangenheit und wie es wirklich war, sondern darum zu zeigen, dass Geschichten die Welt verändern können.
Insofern ist die theory eher Denkanstoss, spekulative Geste, und fordert dazu auf, bis zur Unsichtbarkeit selbstverständlich gewordene Narrative zu hinterfragen. Die spannendsten Auseinandersetzungen finden sich denn auch in literarischen Texten. Die lineare Form aufzusprengen zugunsten von Episoden, die sich in vielfacher Weise aufeinander beziehen, wie es Kim de l’Horizon in Blutbuch macht, ist eine Möglichkeit. De l’Horizons Roman gibt der Lust am Öffnen und Auspacken alter Behälter Raum und greift so die bestehende Ordnung zugunsten einer Ambivalenz an – die vielen kleinen Schachteln, die „Truckli“ in der Wohnung der Grossmeer, weichen dem Blutbuch als Gefäss, in dem sich alles neu arrangieren kann. Die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger sucht seit ihrem Erstling Einladung an die Waghalsigen (2010) nach einer Form, die Stimmen nicht hierarchisch und entlang von psychologisch ausgestalteten Figuren zu organisieren, sondern in ihrer Verflochtenheit und Verletzlichkeit wahrnehmbar zu machen, als Phänomene eines sozialen Raums. Im 2021 vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin herausgegebenen Band Carrier Bag Fictionformuliert sie programmatisch: „In der Tasche, im Behältnis befinden sich die Dinge in Unordnung, in ständiger Bewegung, mit jedem Schritt werden sie gewendet und in neue Konstellationen gebracht, neu formatiert; Hierarchien haben unter diesen Bedingungen keinen Bestand […].“ Elmiger greift auch Le Guins Kritik an der Schreibratgeberweisheit auf, Konflikt sei das einzige Element, das Erzählungen voranzutreiben vermöge. Konflikt, schreibt Elmiger, sei nicht als Teil einer Handlung im Text zu verorten, vielmehr müsse sich „der Text selbst im Konflikt mit der Welt befinden, von der er ausgeht“. Anders als bei Le Guin selbst entsteht der Text bei Elmiger erst mit dem Zaubertrick, wenn die Sammlerin ihre Gegenstände aus der Hosentasche zieht. Dann kommt es darauf an, in dem „feingesponnenen Netz“ von Dingen etwas zu sehen, „was zuvor noch nicht gesehen wurde“. Elmiger spinnt den Essay in eine Richtung weiter, die ihn über sich hinauswachsen lässt. Le Guins Text selbst macht eher das Gegenteil, er nutzt die literarischen Mittel des Tricks und des Spiels, um den Leser:innen zu vermitteln, dass das Erzählen nicht in erster Linie Kunst sein muss, sondern – wie das Le Guins feministisch-ethnografische Spielart der Science Fiction besonders gut kann – Anteil haben muss am handfesten Gewebe des Alltagslebens.
Geniekult um Serienmörder
Le Guin selbst ging es vor allem um die Notwendigkeit der Verbindung zwischen Welterfahrung und Erzählen. Wer was erzählt und wie, hat für Le Guin auf eine fundamentale Weise mit Zugehörigkeit und Partizipation zu tun. Und so wechselt sie nach ein paar unterhaltsamen Seiten von der Ironie ins Pathos und schreibt: „This theory […] grounds me, personally, in human culture in a way I never felt grounded before. So long as culture was explained as originating from and elaborating upon the use of long, hard objects for sticking, bashing and killing, I never thought that I had, or wanted, any particular share in it.“
Hier setzt die US-Autorin Rebecca Solnit an, bekannt unter anderem für den Begriff des Mansplaining. Sie entwickelt Le Guins Argument in eine Richtung weiter, die soziale Praktiken mit populärem Erzählen kurzschliesst, unter dem Motto: „Patriarchy kills off stories and women to maintain its power“. Kritisch geht sie mit der feministischen Rezeption der medialen Berichterstattung rund um die #metoo-Bewegung ins Gericht. Im Essay Let This Flood of Women’s Stories Never Cease zeigt sie auf, wie der Fokus auf einzelnen Tätern wie Harvey Weinstein mit dazu beiträgt, systemische Kritik an patriarchalen Strukturen zu untergraben.
Auch das hat mit dem Erzählen zu tun. Populäre Krimiserien geben sich auch fünf Jahre nach dem Beginn von #metoo noch lustvoll der Obsession für Serienmörder hin und zelebrieren damit – unter anderem – einen Kult um perverse Genies. Die Tatsache, dass aufwändige True-Crime-Formate wie die HBO-Miniserie The Staircase (2022) weibliche Stars – Juliette Binoche, Toni Collette, Sophie Turner – aufbieten, um sie acht Folgen lang um den mutmaßlichen Täter (Colin Firth) mit seiner schillernden narzisstischen Persönlichkeit kreisen zu lassen, spricht Bände. Solange die Faszination für Täter in keinem Verhältnis zum Interesse für die Opfer steht, lebt der einsame Held mit seiner Waffe fröhlich weiter.