
Seit seinem international gefeierten Bestseller The Corrections (2001) bejubelt die Kritik Jonathan Franzens dicke Wälzer immer wieder aufs Neue als die ultimativen Romane des 21. Jahrhunderts. Kürzlich ist Crossroads erschienen, der erste Band einer auf drei Bände angelegten Familiensaga. Im amerikanischen Original umfasst er 600, in der deutschen Übersetzung von Bettina Abarbanell 800 Seiten. Die Trilogie setzt 1971 an einem fiktiven Schauplatz im Mittleren Westen der USA ein und beleuchtet den Zerfall einer Familie und ihrer Mitglieder. Alle sechs, Vater, Mutter und vier Kinder, bilden sich ein, gute Menschen zu sein und das Richtige tun zu wollen, steuern durch ihre Verlogenheit und moralische Ambivalenz aber allesamt direkt auf den Abgrund zu. Eine Geschichte, wie wir sie von Franzen bereits kennen, mit leichten Variationen.
Franzen wird als „Meister des psychologischen Romans“ bewundert, als virtuoser Handwerker, der die Komplexität seiner Erzählkonstruktionen geschickt zu kaschieren verstehe, aber auch als Menschenkenner und Seelenergründer. Zu Beginn seiner Karriere wurde ihm vor allem in den deutschsprachigen Feuilletons attestiert, dass er den großen Gestus des Erzählens in die Literatur zurückgebracht und ein Gegenprogramm zur postmodernen Fragmentierung und Metafiktionalität geschaffen habe. Dass es ihm mit seinen düsteren Familiengeschichten gelungen ist, quasi unbestritten als der Gegenwartsromancier schlechthin wahrgenommen zu werden, hat aber nicht nur mit seiner konventionellen und deshalb eingängigen Erzählweise zu tun.
Wenn man Franzens Erfolg verstehen will, ist eine andere Serie von Hinweisen hilfreich, die sich durch fast alle lobenden Kritiken zieht: Franzens Blick in die Vergangenheit trage dazu bei zu verstehen, wie die Welt geworden ist, wie sie heute ist. Im Scheitern seiner Figuren im Mikrokosmos der Familie spiegle sich der gesellschaftliche Makrokosmos – Franzens großes Projekt ließe sich also als eine Geschichte der Gegenwart verstehen. Das ist Grund genug, um an dieser Stelle danach zu fragen, wie und woraus seine Romane eigentlich gemacht sind.
Alte Meister
Gerade im deutschsprachigen Raum, wo die Rückkehr des Erzählens mit besonderer Verve gefeiert wurde, sind Franzens Bücher regelmäßig Gegenstand euphorischer Kritiken. Dass sich die Begeisterung gerade an Franzen entzündet hat, lässt sich damit erklären, dass seine Prosa auf der Ebene der Erzählkonstruktion, der Figurenpsychologie, aber auch der Thematik und der Sprache eingängig und vertraut daherkommt – was in den Kritiken immer wieder erwähnt wird –, sich aber gleichzeitig durch den radikal gesellschaftskritischen Ton und das düstere Menschenbild in eine Traditionslinie der sogenannten Hochliteratur einschreibt. Im Übertitel der Trilogie, „A Key to all Mythologies“, als deren erster Band sein aktueller Roman Crossroads erschienen ist, zitiert Franzen George Elliots Middlemarch (1871); in Interviews bezieht sich der Autor selbst auf Thomas Manns Buddenbrooks und Dostoevskijs Die Brüder Karamasow als Inspirationsquellen, gern wird er als „Meister aus vergangenen Zeiten“, als einer, der es mit den großen realistischen Romanciers aufnehmen kann, beschrieben. Mit der Literatur des 19. Jahrhunderts hat das, was Franzen macht, aber nicht viel zu tun. Michail Bachtin hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, dass gerade Dostojevskij das Erzählen des 19. Jahrhunderts mit seiner Polyphonie revolutionierte, wobei auch der Erzähler nur eine von vielen Stimmen war. Dabei blieben die Charaktere oft widersprüchlich und unabgeschlossen. Franzen wechselt zwar in jedem Kapitel die Perspektive und erzählt aus der Sicht verschiedener Familienmitglieder, doch die Widersprüche und Ambivalenzen sind nicht in der Struktur des Textes angelegt; vielmehr werden sie einzig auf die Figuren selbst projiziert. Der Vater Hildebrandt, der sich als Pfarrer auf die Fahne schreibt, in Schwarzen Communities und mit den Navajo gegen soziale Ungleichheit und Rassismus zu kämpfen, gibt sich seiner sexuellen Obsession für eine attraktive Witwe in seiner Gemeinde hin; einer der Söhne, der intelligenteste, dröhnt sich mit Drogen zu, der Älteste geht freiwillig nach Vietnam, die Tochter wirft sich einem Provinzrockmusiker in die Arme und die Mutter Marion kämpft mit Unglück und Übergewicht. Das Problem ist nicht einmal so sehr, wie klischeehaft die Figuren angelegt sind. Daraus ließe sich gerade im Genre der Familiensaga etwas machen, denn die Spannung zwischen bekannten Versatzstücken und überraschender Kombinatorik derselben lässt eine Vielzahl von Lektüren zu. Doch das Netz aus Verbindungen, das beim Lesen von Franzens Texten entsteht, bezieht sich vor allem darauf, dass die Figuren viel mehr über die Lügen der anderen wissen, als jene denken. Das führt dazu, dass man Marion, je länger man liest, recht geben möchte, wenn sie zu ihrer Psychiaterin sagt:
’It’s not just me, by the way,’ Marion said. ‘I think everyone is bad. I think badness is the fundamental condition of humanity.’
Die Figuren mögen in sich zerrissen sein, doch immer auf dieselbe Weise. Unter einer angepassten Oberfläche wütet die destruktive, egoistische menschliche „Natur“. Franzen ist deshalb kein „Meister“ aus dem 19. Jahrhundert, weil seine Romane trotz multiperspektivischer Anlage niemals vielstimmig sind, sondern die Komplexität der Erzählkonstruktion nur nutzen, um zu einer Erkenntnis zu gelangen: dass alle Menschen schlecht sind, Gefangene ihrer Begierden. Und dies egal ob sie, wie der Pfarrer, dem Stereotyp des alten weißen Mannes entsprechen oder, wie die Tochter Becky, das Klischee der beliebten Cheerleader-Prinzessin bedienen.
Franzen ist aber auch kein Unterhaltungsautor. Er operiert zwar mit Genres, und zwar ganz ähnlich, wie er mit den Erzählverfahren des realistischen Romans arbeitet. Er verwendet den Familienroman, und, in Crossroads, auch den Coming-of-Age-Roman als Folie, um mit wenigen Pinselstrichen ein Bild von einer Familie zu entwerfen, auf das sich die Leser:innen aufgrund ihrer Erfahrung mit Literatur, Film und TV-Serien beziehen können. Doch während Genreliteratur die Bruchstellen, Ungereimtheiten und Widersprüche, die bei der Arbeit mit Wiederholung und Variation notwendigerweise entstehen, herausstellt, um so Offenheit und Vieldeutigkeit zu schaffen, schließt Franzen seine Erzählungen so dicht ab, als hätte er einen Lötkolben in der Hand, um ihn bei jedem losen Faden zum Einsatz zu bringen.
Das Erfolgsgeheimnis von Franzen besteht womöglich darin, dass er weder ein neuer alter Meister noch ein Genreautor ist. Der Literaturwissenschaftler und Pop-Experte Moritz Baßler reiht ihn in die literarische Tendenz des „Midcult“ ein. Darunter versteht er eine Form populärrealistischen Erzählens, die ihre Leser:innen in die Story eintauchen lässt − mit verständlicher Sprache, nachvollziehbaren Handlungen und Identifikationsfiguren. Der Anspruch, bedeutende Literatur zu sein, mache sich nicht an der Sprache fest, sondern an der expliziten Thematisierung ethisch-sozial bedeutsamer Themen.
Die Marke Franzen
Man könnte aus der Sicht der Forschung zur Genre-Literatur auch schlichtweg feststellen, dass Franzen im Grunde ein ganz anderes Genre bedient und für Intellektuelle adaptiert, nämlich das sogenannte Problembuch. Damit sind eigentlich Romane für ein jugendliches Publikum gemeint, die bewusst medial gehypte Themen wie Essstörungen, Mobbing oder Sucht aufgreifen, die Jugendlichen und vor allem Mädchen zugeschrieben werden, um eine schematische, mit popularisiertem psychologischem Wissen angereicherte Geschichte einer Heilung zu erzählen. Franzens Problembüchern muss man attestieren, dass sie sehr kunstvoll gemacht sind, auch weil es ihnen gelingt, einen für eine Spielart der Realität zu interessieren, die es wohl vor allem im psychologischen Roman gibt. Vor allem aber dreht er den Spieß um für seine erwachsene Leserschaft, indem alles, was er auf hunderten von Seiten erzählt, immer auf die Unzulänglichkeit des Menschen zuläuft.
Bei Franzen können kritische Zeitgenoss:innen das übel beleumundete Genre der Familiensaga auf diese Weise genießen, können guten Gewissens in die detailreich ausgemalten zwischenmenschlichen Abgründe eintauchen, ohne sich Zeitverschwendung durch pure Unterhaltung vorwerfen zu müssen. Bei so viel ätzender Gesellschaftskritik, wie sie Franzens Figuren verkörpern, muss sich niemand vorwerfen, sich in naive, weil unrealistische Erzählungen einlullen zu lassen.
Obwohl die Romane durchaus einen Sog entwickeln, sind die endlosen, aus dem populärpsychologischen Diskurs vertrauten Selbsthinterfragungen der Figuren stets etwas öde. Gerade wenn die Selbstzerfleischung beim Sex stattfindet, was bei Franzen aus Prinzip geschieht. Der bewährte erzähltechnische Kniff, auf diese Weise die Erzählzeit zu dehnen, dient ihm vor allem dazu, die „menschliche“ und die „animalische“ Seite des Menschen auseinanderklaffen zu lassen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Szene, in der Clem, der älteste Sohn der Hildebrandts, mit seiner Freundin Sharon schläft, nachdem er sich freiwillig zum Kriegsdienst in Vietnam gemeldet hat. Während Sharon unter ihm stöhnt, denkt er über die Konsequenzen seiner Entscheidung nach, über die Angst, es könnte das letzte Mal sein, dass er mit einer Frau schläft, aber auch über die Befreiung von familiären Konflikten, die das Soldatenleben mit sich bringen würde. Seine Gedanken lösen sich sofort in einer hormonellen Welle auf, als Sharon ihm sagt, dass sie ihn liebt:
A wave of masculine well-being was sweeping through his body. The knowlegde that he fully possessed this person, the thrill of that conquest, and something more savage, the sudden enhancement of his capacity to inflict pain on her: it was hitting him like a full-bore shot of testosterone.
Machohafte Gewalt scheint gemäß dem Erzähler der Passage automatisch überhand zu nehmen, wenn Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf körperlicher Ebene ausgehandelt werden. Nun kann man immer sagen, dass der Erzähler ja auch nichts dafür könne, wenn die Figuren solchen Blödsinn denken, doch bei Franzen lässt sich diese Tendenz zu einer Naturalisierung von sexualisierter Gewalt immer wieder beobachten. Darin wird deutlich, dass wir es bei Franzens radikaler Abrechnung mit der Spezies Mensch mit einem hochgradig anthropozentrischen Projekt zu tun haben.
Wenn man das Drumherum der Romane – den sogenannten Peritext – betrachtet, erscheint diese Beobachtung zunächst paradox – denn Franzen tritt als Umweltaktivist und Ornithologie auf. Doch er publiziert regelmäßig Essays, die nahelegen, sie als Kommentare zu seinen Romanen zu lesen; und auch hier ist die Botschaft klar, manchmal sogar schon im Titel: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können. Eine Geschichte der Gegenwart ist das, was Franzen in seinen Romanen erzählt, nicht; viel eher ist sie ein Konzentrat all der Erzählungen, die wir uns davon erzählen, dass es sowieso keinen Sinn hat. Doch es ist, frei nach Donna Haraway, nicht egal, mit welchen Geschichten wir unsere Geschichten erzählen.
Bei allem Anschein der Gesellschaftskritik schreibt Jonathan Franzen letztlich konservative Romane, welche die Strukturen der Ungleichheit nicht infrage stellen. Denn indem er im Stil des Problembuchs alles aufgreift, was in einem Leben schieflaufen kann, um es in höllischen Familienkonstellationen zu verdichten, zu denen es in seinen Weltentwürfen keine Alternativen gibt, schreibt er die Mystifizierung der heteronormativen Kernfamilie letztlich fort. Die Figuren, so der Zirkelschluss, können nicht anders, als sich in Familien zu organisieren, und doch sind sie an ihrem Unglück selbst schuld. Gerade weil sie in Gestalt von Gesellschaftskritik daherkommt, scheint diese konservative Haltung Wohlfühleffekte für die bildungsbürgerliche Leserschaft zu produzieren.