In einem geistreichen, aber auch provokativen Essay kritisierte Dirk Moses hier auf Geschichte der Gegenwart vor ein paar Tagen die „Hohepriester“ der deutschen Erinnerungskultur dafür, dass sie ein Bild perpetuieren, das er für überholt hält, ein Bild von der nationalsozialistischen Vergangenheit, ihrem Platz in der deutschen und europäischen Geschichte und ihrem Stellenwert im Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik. Für Moses sind es namentlich die folgenden Behauptungen, die sich zu einen regelrechten „Katechismus“ summieren:
- Der Holocaust war einzigartig aufgrund der spezifischen Rolle, die die Ideologie dabei spielte;
- er stellte einen Zivilisationsbruch dar;
- Deutschland hat daher eine besondere Verantwortung sowohl gegenüber Juden in Deutschland als auch gegenüber dem Staat Israel;
- Antisemitismus ist eine besondere Art von Vorurteil, ein spezifisch deutsches noch dazu, und unterscheidet sich von anderen Rassismen;
- Antizionismus ist Antisemitismus.
Zusammen bilden diese Überzeugungen also, so Moses, eine Glaubenslehre. Sie erscheinen als fundamentale und unumstößliche Wahrheiten, die der Jugend eingeprägt werden sollen, damit sie ein festes, unerschütterliches Verständnis davon bekommt, was es heißt, in einer Welt nach Auschwitz Deutscher zu sein, und welche Verpflichtungen sich daraus ergeben. Dass diese Anschauungen sowohl von direkten Nachkommen der Tätergeneration in vierter oder fünfter Generation als auch von Neubürgern aus Syrien oder Afghanistan verinnerlicht werden müssen, mache ihren Charakter als Zivilreligion aus. Ihre Funktion liegt darin, für alle Bürgerinnen und Bürger ungeachtet ihrer sonstigen Unterschiede zu bestimmen, was es heißt, als Deutsche ein demokratisches Subjekt zu sein.
Die zentrale These von Dirk Moses lautet, dass die endlose Wiederholung dieses Katechismus durch seine „Hohepriester“ den neuen Einsichten und Erkenntnissen zuwiderläuft, wie sie die neuere Forschung laufend und in wachsendem Masse hervorbringt, und die solche dogmatischen Behauptungen unhaltbar machen. Der Katechismus habe einen Punkt erreicht, an dem er eher als Hindernis denn als Anreiz für kritisches Denkens wirkt, von dem doch sowohl die Vitalität der Demokratie als auch eine Kultur der Achtung der globalen Menschenrechte in der Gegenwart abhängen. Darüber hinaus sei die demographische Veränderung der Bevölkerung, die sich in Bezug auf Europas koloniale Vergangenheit anders positioniert als die historische weiße Mehrheit, jetzt ein mächtiger Katalysator für eine überfällige Neuverhandlung der Art und Weise, wie ein (bisher kaum problematisiertes) deutsches und europäisches ‚Wir‘ sich die moralischen Lasten und pädagogischen Verpflichtungen vorstellt, die ‚unsere‘ vielen kolonialen und genozidalen Vergangenheiten hinterlassen haben.
Der europäische Kontext
Weiße Europäer:innen müssten daher jetzt anerkennen (und sollten es wollen), dass das bislang unproblematisierte ‚Wir‘ der europäischen Imagination zu einem weitaus komplexeren, heterogeneren ‚Wir‘ geworden ist, dessen sehr unterschiedliche Geschichten auch eine Vielzahl von Erfahrungen mit dem von Deutschen und anderen Europäern gleichermaßen zu verantwortenden Kolonialismus, ja mit Gewalt und Völkermord einschließen. Das aber erfordere ein Überdenken sowohl der Ethik, der unsere Beziehung zur Geschichte zugrunde liegt, als auch unseres Verhältnisses zu den Menschenrechtskrisen in der Gegenwart. Der Katechismus, so Moses, steht dem im Weg – und der polemische Ton seines Essays macht deutlich, dass er dringend aufgegeben werden sollte.
Ich sympathisiere in Vielem mit Moses’ Perspektive auf die Geschichte, und auch sehr mit seiner ethischen Stoßrichtung. Ich habe an anderer Stelle ähnlich argumentiert, wenn auch etwas mehr en passant. Seit langer Zeit hat die Geschichte des Nationalsozialismus für mich viel mehr Sinn gemacht, wenn man sie ebenso als europäische wie als deutsche Geschichte versteht. Ich hielt es immer für wichtig, sie innerhalb des europäischen Kolonialismus und der international verbreiteten Rassenkunde zu verorten und ihre ideologischen Antriebe im Kontext eines allgemeineren Nationalismus, Militarismus und antidemokratischen Denkens zu lesen. Ich habe sie immer als eine von mächtigen Tendenzen nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert ausgebrütete verstanden. Die Idee, dass der Nationalsozialismus einen Moment des „Bruchs“ mit der europäischen „Zivilisation“ darstelle, schien mir immer auf einer Reihe von eher zweifelhaften Vorstellungen darüber zu beruhen, worin die europäische Geschichte vor 1933 bestand: Weit davon entfernt, einen Bruch mit dieser Geschichte darzustellen, schien er mir vielmehr immer ein machtvolles Destillat einiger ihrer unangenehmsten Traditionen zu sein. (Wenn uns die endlosen Fußnoten der wissenschaftlichen Ausgabe von Hitlers Mein Kampf von 2015 irgendetwas gelehrt haben, dann war es das). Die Tatsache, dass viele von uns in Institutionen arbeiten, die vormals mit dazu beigetragen haben, genau diese Ideen auszubrüten, macht es umso wichtiger, diese Geschichte anzuerkennen.

Französische Freiwillige 1942 auf dem Weg nach Polen, wo sie in die Waffen-SS integriert wurden; Quelle: spiegel.de
Es geht im Übrigen nicht darum, die allgemeine Last unseres gemeinsamen Erbes – d.h. ein Fundus von hässlichen Ideen –, die ‚wir‘ als Europäer zu tragen haben, einer spezielleren Last für die Nachkommen der deutschen Täter der zweiten, dritten, vierten Generation gegenüberzustellen, die ich vorhin erwähnt habe, so verständlich diese Argumentation auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Dass es nicht um eine Gegenüberstellung von europäischem Denken und deutschem Handeln geht, zeigt die sehr große Menge an Arbeiten zum Thema Kollaboration im Holocaust – von Frankreich bis zur Ukraine: Von der französischen Miliz bis zu den ukrainischen Hilfstruppen lebten die Kollaborateure die antisemitischen Impulse, die die deutschen Täter antrieben, mit der gleichen komplexen, vielfältigen, aber rekonstruierbaren Mischung aus Engagement, Enthusiasmus, Routine und situativen Erfordernissen aus, die Historiker:innen in den letzten drei Jahrzehnten im Fall Deutschlands erforscht und herausgearbeitet haben.
Die Frage „Warum Deutschland?“ wird durch all dies nicht wegerklärt, noch weniger wird sie beantwortet. Eine Darstellung des Holocausts in den von Moses vorgeschlagenen Kontexten zu situieren, bedeutet nicht, die Notwendigkeit zu übersehen, über die Belastungen einer instabilen, sich dynamisch verändernden, vor disruptiven demokratischen Energien berstenden, dabei aber autoritären Gesellschaft nachzudenken. Es bedeutet nicht, die tiefgreifenden, multidimensionalen Krisen zu übersehen, die der Erste Weltkrieg und seine Nachwirkungen in Deutschland hervorgebracht hatten, beziehungsweise die Bedeutung, die viele Deutsche diesen Krisen und ihren Auswirkungen beimaßen; oder die Art und Weise zu übersehen, wie diese kulturellen und ideologischen Reaktionen – die sich auf die oben erwähnten breiteren europäischen Erbschaften stützten – die Entscheidungen prägten, die die Deutschen (oder genügend von ihnen) 1933, 1939 oder 1941 fällten. Moses behauptet auch gar nicht, dass man dies tun soll. Sein Beharren darauf, dass der den Nationalsozialismus beherrschende antisemitische Geist mehr Sinn macht, wenn man ihn vor dem Hintergrund einer breiteren Geschichte der Verfolgung imaginärer „Sicherheitsbedrohungen“ und deren Vernichtung liest, als wenn man ihn einfach als einen weiteren Ausdruck des – angeblich spezifisch deutschen – „längsten Hasses“ beschreibt, scheint mir ein Punkt zu sein, über den es sich lohnt, nachzudenken, obwohl es sicherlich keinen Grund gibt, dies als Nullsummenspiel zu sehen.
„Hohepriester“
Generell bleibe ich allerdings unsicher, was die Antwort auf die Frage „Warum Deutschland?“ angeht, und das Gefühl, dass sich der Rahmen, in dem wir denken müssen, um sie zu beantworten, im Moment ziemlich tiefgreifend verschiebt (in genau der Art und Weise, die Moses beschreibt), macht mich noch weniger sicher als ich es eine Zeitlang war. Diese Unsicherheit wurde durch die systematische Lektüre der modernen französischen Geschichte während des letzten Jahres und durch die Verlagerung des Schwerpunkts meiner Lektüre und meines Unterrichts auf vergleichende Arbeiten (zum Beispiel über die Geschichte der europäischen extremen Rechten) noch verstärkt. Die oberflächlichste Durchsicht der Arbeiten von Kolleg:innen, die sich auf die französische Geschichte spezialisiert haben, um die Geschichte des französischen Faschismus sowie die spezifischen Formen des französischen Überlegenheitsgefühls (nativism) und Autoritarismus zu rekonstruieren, hinterlässt den Eindruck, dass Frankreich zwar nicht seinen eigenen Hitler hervorgebracht hat, es aber sehr wohl dazu in der Lage gewesen wäre (und wie ein Freund aus diesem Gebiet mich oft erinnert, hat Frankreich nicht einen produziert – sondern mehrere). Wenn man den Rahmen weiter fasst und das Wiederaufleben der extremen Rechten in ganz Europa in den letzten zehn bis zwanzig Jahren betrachtet, ist in ähnlicher Weise auffällig, wie wenig Fortschritte man bei der Definition eines allgemeinen Kerns für diese oft disparaten Bewegungen macht, wenn man nicht nach ihrer gemeinsamen Genealogie im europäischen Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts fragt.
In dem Maße, wie Dirk Moses’ grundsätzliches Argument über Europa als einen Rahmen von Kontexten für den Nationalsozialismus zutreffend ist, ist dies auch seine Beobachtung einer gewissen Abwehrhaltung, ja von regelrecht neuralgischen Punkten, die man nur auf eigene Gefahr berührt, wenn man auf diese Weise vor einem deutschen Publikum argumentiert. Auch ich habe die frustrierende Erfahrung machen müssen, bei öffentlichen Podiumsdiskussionen in Deutschland, auf denen ich für die Notwendigkeit argumentierte, die Geschichte des Nationalsozialismus in den breiteren Kontext der europäischen Gewaltgeschichte zu stellen, die Antwort zu erhalten, dass ich bloß die Ansichten von Ernst Nolte wiederhole oder dem konservativen Revisionismus der 1980er Jahre Vorschub leiste – als ob all jene, die über den Nationalsozialismus in diesen breiteren Kontexten denken wollen, so eingestellt sein müssten! Mein persönlicher Tiefpunkt ereignete sich vor ein paar Jahren auf einem öffentlichen Podium, als ein hochrangiger deutscher Professor und eine etablierte öffentliche Stimme – einer von denen, die Moses wohl im Sinn hat, wenn er von „Hohepriestern“ spricht – auf meinen Vorschlag hin, dass wir kosmopolitischere Erinnerungskulturen entwickeln müssen, das Mikrophon ergriff und „Quatsch“ hineinbrummte.
Unterschätze Erinnerungskultur
Was mich jedoch von Moses trennt, ist der etwas respektlose Ton gegenüber der Authentizität des politischen und emotionalen Engagements derer, die er kritisiert. Eine der Schwächen seines Essays ist, dass nicht ganz klar wird, wo strukturell das Problem zu liegen scheint. Moses’ „Hohepriester“ werden verschiedentlich als „68er“ und/oder „Eliten“ bezeichnet. Beide Begriffe verdecken so viel, wie sie offenbaren, und übergehen die Meinungsvielfalt derjenigen, für die „68er“ oder „Elite“ brauchbare Abkürzungen sein könnten. Wenn man aber davon ausgeht, dass Moses die breite Generation von Wissenschaftler:innen, von in Gedenkstätten Engagierten und anderen Aktivist:innen der Erinnerungsarbeit im Blick hat, die von den 1960er Jahren bis zur Jahrhundertwende daran gearbeitet haben, das Bewusstsein und die Akzeptanz der Tatsächlichkeit der NS-Verbrechen in den Mittelpunkt der politischen Kultur der Bundesrepublik zu stellen, dann muss man sich schon ein wenig unwohl fühlen, wie ihre Bemühungen hier beschrieben werden. Dieses breite Meinungsspektrum als reaktionäres Nachhutgefecht gegen die unumstößliche neue Wahrheit zu charakterisieren, das mit den Mitteln der Zensur „Ketzerei“ unterdrückt, scheint mir sowohl die Leistungen als auch die Motivationen der Menschen, um die es hier geht, in einer Weise zu verkürzen, die nicht geeignet ist, das notwendige Gespräch zu fördern.
Man vergisst leicht, welch enormer Anstrengungen es in der alten Bundesrepublik und nach 1990 bedurfte, dieses Wissen zu etablieren, und man unterschätzt damit auch leicht die sehr starken strukturellen Widerstände, auf die dieses gemeinsame Projekt stieß. Der verzweifelt hierarchische, patrizische, paternalistische und klientelistische Charakter der deutschen Wissenschaft – und nicht zuletzt das mitentscheidende Mitspracherecht des Ministeriums bei der Besetzung von akademischen Führungspositionen – bedeutete, dass die Karriere bei der Verfolgung bestimmter Forschungsprojekte auf dem Spiel stand. Noch in den 1990er Jahren war die Beschäftigung mit der Rolle von Institutionen wie namentlich den Universitäten in der Zeit des Nationalsozialismus weit mehr als das übliche Nachgeben gegenüber dem alten ödipalen Impuls, seinen eigenen wissenschaftlichen „Vater“ zu töten – hier ging es darum, die eigenen, unmittelbaren (und mächtigen) akademischen Vorgänger für deren Rolle als intellektuelle Wegbereiter des Massenmordes herauszufordern und anzuklagen. Über Anwälte, Richter, Ärzte, Polizisten oder Lehrer in der Nazizeit zu schreiben, bedeutete, über die eigenen Eltern, Tanten oder Onkel zu schreiben: Auch hier waren die politischen, ethischen und emotionalen Einsätze wie auch die potenziellen persönlichen Kosten hoch.
Betrachtet man die zivilgesellschaftlichen Akteure, die aus den Graswurzelbewegungen der Geschichtswerkstätten in den 1970er und 1980er Jahren hervorgingen, wird der Punkt noch deutlicher: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte, an der Eltern und Großeltern mitschuldig waren, war ein Akt, der oft mit viel Schmerz verbunden war. Was Moses mit unverkennbarem Sarkasmus als „heiliges Trauma“ beschreibt – und so der Versuchung nachgab, die Religionsanalogie ein Stück zu weit zu treiben –, war etwas, das von Mitgliedern einer Generation, die mit einem sehr tiefen Gefühl persönlicher Belastung aufwuchsen, bitter und eindringlich empfunden wurde. Es war diese Belastung, die sich in den Kämpfen um Finanzierung, Räume oder institutionelle Unterstützung für verschiedene Erinnerungsprojekte verdichtete – ausgefochten gegen den oft massiven Widerstand von politischen Kräften, die auf eine Wählerschaft schielten, die einfach nichts mehr von dieser Vergangenheit hören wollte.
Das Engagement einer Generation
Die politischen Verpflichtungen und Engagements dieser Generation von Aktivisten können natürlich jetzt untersucht werden, zum Beispiel mit emotionsgeschichtlichen Methoden. Zudem ist schon viel interessante, reflektierte Forschung zur Frage entstanden, wie sehr dieses erinnerungspolitische Commitment die demokratischen Selbstentwürfen und Subjektivitäten der Deutschen in den 1980er und 1990er Jahren prägte. Es ist in der Tat interessant, über die Sozialisation jener Generation von leitenden Akademikern, Museumskuratoren und Verwaltern nachzudenken, die heute den wichtigen Institutionen der Erinnerungsarbeit vorstehen. Aber während der Wunsch dieser Generation, eine Art Wiedergutmachung zu leisten, wie unzureichend auch immer, für eine Analyse mit den Werkzeugen der Psychoanalyse zur Verfügung stehen mag, erscheint es mir einfach zu zynisch, ihre Arbeit in solch polemischen Begriffen als das Streben nach „nationaler Erlösung“ zu beschreiben. Mein Eindruck war immer, dass solche Menschen durch eine Vielzahl von moralischen Verpflichtungen motiviert sind, die man im Großen und Ganzen unter den Begriffen demokratischer Aktivismus und Stärkung der Zivilgesellschaft zusammenfassen könnte, und dass solche Bemühungen Respekt gebieten. Während solche Projekte oft ihre Grenzen haben und für das, was sie nicht tun, kritisiert werden können, haben wir keinen Grund, die Bemühungen derjenigen zu diffamieren, die immerhin dafür verantwortlich waren, uns auf die Dinge aufmerksam zu machen, über die wir heute auch versuchen, kritisch nachzudenken.
Die „Hohepriester“ gehen in den Ruhestand, und es ist kaum überraschend, dass sie das Bedürfnis haben, das Erreichte zu schützen, nicht zuletzt angesichts des Wiederauflebens von Formen rechtsextremen Denkens in der heutigen Welt. Aber wenn wir diejenigen, die die historische Vergangenheit, ihre Hinterlassenschaften und Implikationen anders sehen als wir, in ein sinnvolles Gespräch über die zukünftige Richtung der Erinnerungsarbeit und ihre Implikationen für die Auseinandersetzungen um die heutigen Menschenrechte einbinden wollen, müssen wir einen Ton finden, der Respekt sowohl für die begründeten Ansichten als auch für die emotionalen Verpflichtungen derjenigen vermittelt, auf deren Errungenschaften wir aufbauen dürfen.
Übersetzung: Philipp Sarasin