Wie soll man den Holocaust erinnern - und sind die Rituale des Erinnerns noch zeitgemäß? Einige Gedanken zum vieldiskutierten Essay von Dirk Moses.

  • Neil Gregor

    Neil Gregor ist Professor für Moderne Europäische Geschichte an der University of Southampton, UK. Er hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte Deutschland im 20. Jh. veröffentlicht, darunter zuletzt als Mitherausgeber „Dreams of Germany. Musical Imaginaries from the Concert Hall to the Dance Floor” (New York, 2019). Er war Herausgeber der Zeitschrift German History und ist derzeit Mitherausgeber der Reihe „Studies in German History“ bei Oxford University Press.

In einem geist­rei­chen, aber auch provo­ka­tiven Essay kriti­sierte Dirk Moses hier auf Geschichte der Gegen­wart vor ein paar Tagen die „Hohe­priester“ der deut­schen Erin­ne­rungs­kultur dafür, dass sie ein Bild perp­etu­ieren, das er für über­holt hält, ein Bild von der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vergan­gen­heit, ihrem Platz in der deut­schen und euro­päi­schen Geschichte und ihrem Stel­len­wert im Geschichts­be­wusst­sein der Bundes­re­pu­blik. Für Moses sind es nament­lich die folgenden Behaup­tungen, die sich zu einen regel­rechten „Kate­chismus“ summieren:

  1. Der Holo­caust war einzig­artig aufgrund der spezi­fi­schen Rolle, die die Ideo­logie dabei spielte;
  2. er stellte einen Zivi­li­sa­ti­ons­bruch dar;
  3. Deutsch­land hat daher eine beson­dere Verant­wor­tung sowohl gegen­über Juden in Deutsch­land als auch gegen­über dem Staat Israel;
  4. Anti­se­mi­tismus ist eine beson­dere Art von Vorur­teil, ein spezi­fisch deut­sches noch dazu, und unter­scheidet sich von anderen Rassismen;
  5. Anti­zio­nismus ist Antisemitismus.

Zusammen bilden diese Über­zeu­gungen also, so Moses, eine Glau­bens­lehre. Sie erscheinen als funda­men­tale und unum­stöß­liche Wahr­heiten, die der Jugend einge­prägt werden sollen, damit sie ein festes, uner­schüt­ter­li­ches Verständnis davon bekommt, was es heißt, in einer Welt nach Ausch­witz Deut­scher zu sein, und welche Verpflich­tungen sich daraus ergeben. Dass diese Anschau­ungen sowohl von direkten Nach­kommen der Täter­ge­nera­tion in vierter oder fünfter Gene­ra­tion als auch von Neubür­gern aus Syrien oder Afgha­ni­stan verin­ner­licht werden müssen, mache ihren Charakter als Zivil­re­li­gion aus. Ihre Funk­tion liegt darin, für alle Bürge­rinnen und Bürger unge­achtet ihrer sons­tigen Unter­schiede zu bestimmen, was es heißt, als Deut­sche ein demo­kra­ti­sches Subjekt zu sein.

Die zentrale These von Dirk Moses lautet, dass die endlose Wieder­ho­lung dieses Kate­chismus durch seine „Hohe­priester“ den neuen Einsichten und Erkennt­nissen zuwi­der­läuft, wie sie die neuere Forschung laufend und in wach­sendem Masse hervor­bringt, und die solche dogma­ti­schen Behaup­tungen unhaltbar machen. Der Kate­chismus habe einen Punkt erreicht, an dem er eher als Hindernis denn als Anreiz für kriti­sches Denkens wirkt, von dem doch sowohl die Vita­lität der Demo­kratie als auch eine Kultur der Achtung der globalen Menschen­rechte in der Gegen­wart abhängen. Darüber hinaus sei die demo­gra­phi­sche Verän­de­rung der Bevöl­ke­rung, die sich in Bezug auf Europas kolo­niale Vergan­gen­heit anders posi­tio­niert als die histo­ri­sche weiße Mehr­heit, jetzt ein mäch­tiger Kata­ly­sator für eine über­fäl­lige Neuver­hand­lung der Art und Weise, wie ein (bisher kaum proble­ma­ti­siertes) deut­sches und euro­päi­sches ‚Wir‘ sich die mora­li­schen Lasten und pädago­gi­schen Verpflich­tungen vorstellt, die ‚unsere‘ vielen kolo­nialen und geno­zi­dalen Vergan­gen­heiten hinter­lassen haben. 

Der euro­päi­sche Kontext

Weiße Europäer:innen müssten daher jetzt aner­kennen (und sollten es wollen), dass das bislang unpro­ble­ma­ti­sierte ‚Wir‘ der euro­päi­schen Imagi­na­tion zu einem weitaus komple­xeren, hete­ro­ge­neren ‚Wir‘ geworden ist, dessen sehr unter­schied­liche Geschichten auch eine Viel­zahl von Erfah­rungen mit dem von Deut­schen und anderen Euro­päern glei­cher­maßen zu verant­wor­tenden Kolo­nia­lismus, ja mit Gewalt und Völker­mord einschließen. Das aber erfor­dere ein Über­denken sowohl der Ethik, der unsere Bezie­hung zur Geschichte zugrunde liegt, als auch unseres Verhält­nisses zu den Menschen­rechts­krisen in der Gegen­wart. Der Kate­chismus, so Moses, steht dem im Weg – und der pole­mi­sche Ton seines Essays macht deut­lich, dass er drin­gend aufge­geben werden sollte.

Ich sympa­thi­siere in Vielem mit Moses’ Perspek­tive auf die Geschichte, und auch sehr mit seiner ethi­schen Stoß­rich­tung. Ich habe an anderer Stelle ähnlich argu­men­tiert, wenn auch etwas mehr en passant. Seit langer Zeit hat die Geschichte des Natio­nal­so­zia­lismus für mich viel mehr Sinn gemacht, wenn man sie ebenso als euro­päi­sche wie als deut­sche Geschichte versteht. Ich hielt es immer für wichtig, sie inner­halb des euro­päi­schen Kolo­nia­lismus und der inter­na­tional verbrei­teten Rassen­kunde zu verorten und ihre ideo­lo­gi­schen Antriebe im Kontext eines allge­mei­neren Natio­na­lismus, Mili­ta­rismus und anti­de­mo­kra­ti­schen Denkens zu lesen. Ich habe sie immer als eine von mäch­tigen Tendenzen nicht nur der deut­schen, sondern der euro­päi­schen Geschichte seit dem 19. Jahr­hun­dert ausge­brü­tete verstanden. Die Idee, dass der Natio­nal­so­zia­lismus einen Moment des „Bruchs“ mit der euro­päi­schen „Zivi­li­sa­tion“ darstelle, schien mir immer auf einer Reihe von eher zwei­fel­haften Vorstel­lungen darüber zu beruhen, worin die euro­päi­sche Geschichte vor 1933 bestand: Weit davon entfernt, einen Bruch mit dieser Geschichte darzu­stellen, schien er mir viel­mehr immer ein macht­volles Destillat einiger ihrer unan­ge­nehmsten Tradi­tionen zu sein.  (Wenn uns die endlosen Fußnoten der wissen­schaft­li­chen Ausgabe von Hitlers Mein Kampf von 2015 irgend­etwas gelehrt haben, dann war es das). Die Tatsache, dass viele von uns in Insti­tu­tionen arbeiten, die vormals mit dazu beigetragen haben, genau diese Ideen auszu­brüten, macht es umso wich­tiger, diese Geschichte anzuerkennen.

Fran­zö­si­sche Frei­wil­lige 1942 auf dem Weg nach Polen, wo sie in die Waffen-SS inte­griert wurden; Quelle: spiegel.de

Es geht im Übrigen nicht darum, die allge­meine Last unseres gemein­samen Erbes – d.h. ein Fundus von häss­li­chen Ideen –, die ‚wir‘ als Euro­päer zu tragen haben, einer spezi­el­leren Last für die Nach­kommen der deut­schen Täter der zweiten, dritten, vierten Gene­ra­tion gegen­über­zu­stellen, die ich vorhin erwähnt habe, so verständ­lich diese Argu­men­ta­tion auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Dass es nicht um eine Gegen­über­stel­lung von euro­päi­schem Denken und deut­schem Handeln geht, zeigt die sehr große Menge an Arbeiten zum Thema Kolla­bo­ra­tion im Holo­caust – von Frank­reich bis zur Ukraine: Von der fran­zö­si­schen Miliz bis zu den ukrai­ni­schen Hilfs­truppen lebten die Kolla­bo­ra­teure die anti­se­mi­ti­schen Impulse, die die deut­schen Täter antrieben, mit der glei­chen komplexen, viel­fäl­tigen, aber rekon­stru­ier­baren Mischung aus Enga­ge­ment, Enthu­si­asmus, Routine und situa­tiven Erfor­der­nissen aus, die Historiker:innen in den letzten drei Jahr­zehnten im Fall Deutsch­lands erforscht und heraus­ge­ar­beitet haben.

Die Frage „Warum Deutsch­land?“ wird durch all dies nicht weger­klärt, noch weniger wird sie beant­wortet. Eine Darstel­lung des Holo­causts in den von Moses vorge­schla­genen Kontexten zu situ­ieren, bedeutet nicht, die Notwen­dig­keit zu über­sehen, über die Belas­tungen einer insta­bilen, sich dyna­misch verän­dernden, vor disrup­tiven demo­kra­ti­schen Ener­gien bers­tenden, dabei aber auto­ri­tären Gesell­schaft nach­zu­denken. Es bedeutet nicht, die tief­grei­fenden, multi­di­men­sio­nalen Krisen zu über­sehen, die der Erste Welt­krieg und seine Nach­wir­kungen in Deutsch­land hervor­ge­bracht hatten, bezie­hungs­weise die Bedeu­tung, die viele Deut­sche diesen Krisen und ihren Auswir­kungen beimaßen; oder die Art und Weise zu über­sehen, wie diese kultu­rellen und ideo­lo­gi­schen Reak­tionen – die sich auf die oben erwähnten brei­teren euro­päi­schen Erbschaften stützten – die Entschei­dungen prägten, die die Deut­schen (oder genü­gend von ihnen) 1933, 1939 oder 1941 fällten. Moses behauptet auch gar nicht, dass man dies tun soll. Sein Beharren darauf, dass der den Natio­nal­so­zia­lismus beherr­schende anti­se­mi­ti­sche Geist mehr Sinn macht, wenn man ihn vor dem Hinter­grund einer brei­teren Geschichte der Verfol­gung imagi­närer „Sicher­heits­be­dro­hungen“ und deren Vernich­tung liest, als wenn man ihn einfach als einen weiteren Ausdruck des – angeb­lich spezi­fisch deut­schen – „längsten Hasses“ beschreibt, scheint mir ein Punkt zu sein, über den es sich lohnt, nach­zu­denken, obwohl es sicher­lich keinen Grund gibt, dies als Null­sum­men­spiel zu sehen.

„Hohe­priester“

Gene­rell bleibe ich aller­dings unsi­cher, was die Antwort auf die Frage „Warum Deutsch­land?“ angeht, und das Gefühl, dass sich der Rahmen, in dem wir denken müssen, um sie zu beant­worten, im Moment ziem­lich tief­grei­fend verschiebt (in genau der Art und Weise, die Moses beschreibt), macht mich noch weniger sicher als ich es eine Zeit­lang war. Diese Unsi­cher­heit wurde durch die syste­ma­ti­sche Lektüre der modernen fran­zö­si­schen Geschichte während des letzten Jahres und durch die Verla­ge­rung des Schwer­punkts meiner Lektüre und meines Unter­richts auf verglei­chende Arbeiten (zum Beispiel über die Geschichte der euro­päi­schen extremen Rechten) noch verstärkt. Die ober­fläch­lichste Durch­sicht der Arbeiten von Kolleg:innen, die sich auf die fran­zö­si­sche Geschichte spezia­li­siert haben, um die Geschichte des fran­zö­si­schen Faschismus sowie die spezi­fi­schen Formen des fran­zö­si­schen Über­le­gen­heits­ge­fühls (nati­vism) und Auto­ri­ta­rismus zu rekon­stru­ieren, hinter­lässt den Eindruck, dass Frank­reich zwar nicht seinen eigenen Hitler hervor­ge­bracht hat, es aber sehr wohl dazu in der Lage gewesen wäre (und wie ein Freund aus diesem Gebiet mich oft erin­nert, hat Frank­reich nicht einen produ­ziert – sondern mehrere). Wenn man den Rahmen weiter fasst und das Wieder­auf­leben der extremen Rechten in ganz Europa in den letzten zehn bis zwanzig Jahren betrachtet, ist in ähnli­cher Weise auffällig, wie wenig Fort­schritte man bei der Defi­ni­tion eines allge­meinen Kerns für diese oft dispa­raten Bewe­gungen macht, wenn man nicht nach ihrer gemein­samen Genea­logie im euro­päi­schen Kolo­nia­lismus des späten 19. Jahr­hun­derts fragt.

In dem Maße, wie Dirk Moses’ grund­sätz­li­ches Argu­ment über Europa als einen Rahmen von Kontexten für den Natio­nal­so­zia­lismus zutref­fend ist, ist dies auch seine Beob­ach­tung einer gewissen Abwehr­hal­tung, ja von regel­recht neur­al­gi­schen Punkten, die man nur auf eigene Gefahr berührt, wenn man auf diese Weise vor einem deut­schen Publikum argu­men­tiert. Auch ich habe die frus­trie­rende Erfah­rung machen müssen, bei öffent­li­chen Podi­ums­dis­kus­sionen in Deutsch­land, auf denen ich für die Notwen­dig­keit argu­men­tierte, die Geschichte des Natio­nal­so­zia­lismus in den brei­teren Kontext der euro­päi­schen Gewalt­ge­schichte zu stellen, die Antwort zu erhalten, dass ich bloß die Ansichten von Ernst Nolte wieder­hole oder dem konser­va­tiven Revi­sio­nismus der 1980er Jahre Vorschub leiste – als ob all jene, die über den Natio­nal­so­zia­lismus in diesen brei­teren Kontexten denken wollen, so einge­stellt sein müssten! Mein persön­li­cher Tief­punkt ereig­nete sich vor ein paar Jahren auf einem öffent­li­chen Podium, als ein hoch­ran­giger deut­scher Professor und eine etablierte öffent­liche Stimme – einer von denen, die Moses wohl im Sinn hat, wenn er von „Hohe­pries­tern“ spricht – auf meinen Vorschlag hin, dass wir kosmo­po­li­ti­schere Erin­ne­rungs­kul­turen entwi­ckeln müssen, das Mikro­phon ergriff und „Quatsch“ hineinbrummte.

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Unter­schätze Erinnerungskultur

Was mich jedoch von Moses trennt, ist der etwas respekt­lose Ton gegen­über der Authen­ti­zität des poli­ti­schen und emotio­nalen Enga­ge­ments derer, die er kriti­siert. Eine der Schwä­chen seines Essays ist, dass nicht ganz klar wird, wo struk­tu­rell das Problem zu liegen scheint.  Moses’ „Hohe­priester“ werden verschie­dent­lich als „68er“ und/oder „Eliten“ bezeichnet.  Beide Begriffe verde­cken so viel, wie sie offen­baren, und über­gehen die Meinungs­viel­falt derje­nigen, für die „68er“ oder „Elite“ brauch­bare Abkür­zungen sein könnten. Wenn man aber davon ausgeht, dass Moses die breite Gene­ra­tion von Wissenschaftler:innen, von in Gedenk­stätten Enga­gierten und anderen Aktivist:innen der Erin­ne­rungs­ar­beit im Blick hat, die von den 1960er Jahren bis zur Jahr­hun­dert­wende daran gear­beitet haben, das Bewusst­sein und die Akzep­tanz der Tatsäch­lich­keit der NS-Verbrechen in den Mittel­punkt der poli­ti­schen Kultur der Bundes­re­pu­blik zu stellen, dann muss man sich schon ein wenig unwohl fühlen, wie ihre Bemü­hungen hier beschrieben werden. Dieses breite Meinungs­spek­trum als reak­tio­näres Nach­hut­ge­fecht gegen die unum­stöß­liche neue Wahr­heit zu charak­te­ri­sieren, das mit den Mitteln der Zensur „Ketzerei“ unter­drückt, scheint mir sowohl die Leis­tungen als auch die Moti­va­tionen der Menschen, um die es hier geht, in einer Weise zu verkürzen, die nicht geeignet ist, das notwen­dige Gespräch zu fördern.

Man vergisst leicht, welch enormer Anstren­gungen es in der alten Bundes­re­pu­blik und nach 1990 bedurfte, dieses Wissen zu etablieren, und man unter­schätzt damit auch leicht die sehr starken struk­tu­rellen Wider­stände, auf die dieses gemein­same Projekt stieß. Der verzwei­felt hier­ar­chi­sche, patri­zi­sche, pater­na­lis­ti­sche und klien­te­lis­ti­sche Charakter der deut­schen Wissen­schaft – und nicht zuletzt das mitent­schei­dende Mitspra­che­recht des Minis­te­riums bei der Beset­zung von akade­mi­schen Führungs­po­si­tionen – bedeu­tete, dass die Karriere bei der Verfol­gung bestimmter Forschungs­pro­jekte auf dem Spiel stand. Noch in den 1990er Jahren war die Beschäf­ti­gung mit der Rolle von Insti­tu­tionen wie nament­lich den Univer­si­täten in der Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus weit mehr als das übliche Nach­geben gegen­über dem alten ödipalen Impuls, seinen eigenen wissen­schaft­li­chen „Vater“ zu töten – hier ging es darum, die eigenen, unmit­tel­baren (und mäch­tigen) akade­mi­schen Vorgänger für deren Rolle als intel­lek­tu­elle Wegbe­reiter des Massen­mordes heraus­zu­for­dern und anzu­klagen. Über Anwälte, Richter, Ärzte, Poli­zisten oder Lehrer in der Nazi­zeit zu schreiben, bedeu­tete, über die eigenen Eltern, Tanten oder Onkel zu schreiben: Auch hier waren die poli­ti­schen, ethi­schen und emotio­nalen Einsätze wie auch die poten­zi­ellen persön­li­chen Kosten hoch.

Betrachtet man die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akteure, die aus den Gras­wur­zel­be­we­gungen der Geschichts­werk­stätten in den 1970er und 1980er Jahren hervor­gingen, wird der Punkt noch deut­li­cher: Die Ausein­an­der­set­zung mit der Geschichte, an der Eltern und Groß­el­tern mitschuldig waren, war ein Akt, der oft mit viel Schmerz verbunden war. Was Moses mit unver­kenn­barem Sarkasmus als „heiliges Trauma“ beschreibt – und so der Versu­chung nachgab, die Reli­gi­ons­ana­logie ein Stück zu weit zu treiben –, war etwas, das von Mitglie­dern einer Gene­ra­tion, die mit einem sehr tiefen Gefühl persön­li­cher Belas­tung aufwuchsen, bitter und eindring­lich empfunden wurde. Es war diese Belas­tung, die sich in den Kämpfen um Finan­zie­rung, Räume oder insti­tu­tio­nelle Unter­stüt­zung für verschie­dene Erin­ne­rungs­pro­jekte verdich­tete – ausge­fochten gegen den oft massiven Wider­stand von poli­ti­schen Kräften, die auf eine Wähler­schaft schielten, die einfach nichts mehr von dieser Vergan­gen­heit hören wollte.

Das Enga­ge­ment einer Generation

Die poli­ti­schen Verpflich­tungen und Enga­ge­ments dieser Gene­ra­tion von Akti­visten können natür­lich jetzt unter­sucht werden, zum Beispiel mit emoti­ons­ge­schicht­li­chen Methoden. Zudem ist schon viel inter­es­sante, reflek­tierte Forschung zur Frage entstanden, wie sehr dieses erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Commit­ment die demo­kra­ti­schen Selbst­ent­würfen und Subjek­ti­vi­täten der Deut­schen in den 1980er und 1990er Jahren prägte. Es ist in der Tat inter­es­sant, über die Sozia­li­sa­tion jener Gene­ra­tion von leitenden Akade­mi­kern, Muse­ums­ku­ra­toren und Verwal­tern nach­zu­denken, die heute den wich­tigen Insti­tu­tionen der Erin­ne­rungs­ar­beit vorstehen. Aber während der Wunsch dieser Gene­ra­tion, eine Art Wieder­gut­ma­chung zu leisten, wie unzu­rei­chend auch immer, für eine Analyse mit den Werk­zeugen der Psycho­ana­lyse zur Verfü­gung stehen mag, erscheint es mir einfach zu zynisch, ihre Arbeit in solch pole­mi­schen Begriffen als das Streben nach „natio­naler Erlö­sung“ zu beschreiben. Mein Eindruck war immer, dass solche Menschen durch eine Viel­zahl von mora­li­schen Verpflich­tungen moti­viert sind, die man im Großen und Ganzen unter den Begriffen demo­kra­ti­scher Akti­vismus und Stär­kung der Zivil­ge­sell­schaft zusam­men­fassen könnte, und dass solche Bemü­hungen Respekt gebieten. Während solche Projekte oft ihre Grenzen haben und für das, was sie nicht tun, kriti­siert werden können, haben wir keinen Grund, die Bemü­hungen derje­nigen zu diffa­mieren, die immerhin dafür verant­wort­lich waren, uns auf die Dinge aufmerksam zu machen, über die wir heute auch versu­chen, kritisch nachzudenken.

Die „Hohe­priester“ gehen in den Ruhe­stand, und es ist kaum über­ra­schend, dass sie das Bedürfnis haben, das Erreichte zu schützen, nicht zuletzt ange­sichts des Wieder­auf­le­bens von Formen rechts­extremen Denkens in der heutigen Welt. Aber wenn wir dieje­nigen, die die histo­ri­sche Vergan­gen­heit, ihre Hinter­las­sen­schaften und Impli­ka­tionen anders sehen als wir, in ein sinn­volles Gespräch über die zukünf­tige Rich­tung der Erin­ne­rungs­ar­beit und ihre Impli­ka­tionen für die Ausein­an­der­set­zungen um die heutigen Menschen­rechte einbinden wollen, müssen wir einen Ton finden, der Respekt sowohl für die begrün­deten Ansichten als auch für die emotio­nalen Verpflich­tungen derje­nigen vermit­telt, auf deren Errun­gen­schaften wir aufbauen dürfen. 

Über­set­zung: Philipp Sarasin

 

Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog von Neil Gregor und ist jetzt auch auf dem New Fascism Syllabus doku­men­tiert, wo die Diskus­sion über den Text von Dirk Moses im angel­säch­si­schen Raum geführt wird.