Die alte Befürchtung, dass die Pressefreiheit nur das Recht von 200 Reichen ist, ihre Meinung zu äussern, könnte jetzt in der Schweiz wahr werden. Der Presserat ist gefordert.

  • Roger Blum

    Roger Blum ist Ombudsmann für die SRG Deutschschweiz. Er lehrte Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern und war Präsident des Schweizer Presserates wie auch der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI).

Die beiden Anti­poden heissen Gerd Buce­rius und Markus Somm. Gerd Buce­rius, der erste und lang­jäh­rige Verleger der ZEIT, beschied einem Werbe­kunden, der über ihn Druck auf die Redak­tion ausüben wollte, er werde sein ganzes Leben lang nie mehr eine Anzeige von ihm annehmen. Markus Somm hingegen, der Verleger und Chef­re­daktor der Basler Zeitung, rief die Werbe­kunden dazu auf, keine Inse­rate in Zeitungen zu schalten, die kriti­sche Artikel über sie schreiben. Was für ein Gegen­satz, was für ein Unterschied!

Gerd Buce­rius machte unmiss­ver­ständ­lich die Trenn­wand zwischen Jour­na­lismus und Werbung deut­lich. Markus Somm aber will sie nieder­reissen, und zwar mit Hilfe der werbenden Wirt­schaft. Als eine Art fünfte Kolonne ermun­tert er zum Boykott der eigenen Branche und stellt damit infrage, was bisher zum Selbst­ver­ständnis sowohl der Medien als auch der Wirt­schaft gehörte: Die Medien üben eine Kritik- und Kontroll­funk­tion aus, auch gegen­über der Wirt­schaft. Die Wirt­schaft kauft sich umge­kehrt über Medien Reich­weite für ihre Werbe­bot­schaften. Dass die Medien auch jene jour­na­lis­tisch kriti­sieren, die bei ihnen werben, und dass die Unter­nehmen auch bei jenen werben, die sie kriti­sieren, stärkt die Glaub­wür­dig­keit beider. Und beide profitieren.

Natür­lich war diese Bezie­hung nie problem­frei. Es gab immer wieder offene und versteckte Boykott­dro­hungen, ja voll­zo­gene Boykotte von Unter­nehmen gegen Medien. Die Wirt­schaft kann nicht gezwungen werden, in bestimmten Medien zu werben. Und frei­lich war der Jour­na­lismus nie voll­kommen unab­hängig. Die Zeitungen des 17. Jahr­hun­derts waren vorwie­gend Staats­me­dien oder brauchten eine Lizenz der Regenten: Sie berich­teten nur, was obrig­keit­lich genehm war. Die Zeitungen vom 18. Jahr­hun­dert an waren meist Partei­me­dien: Sie betrach­teten die Welt aus einer ideo­lo­gi­schen Optik. Die im 19. Jahr­hun­dert aufge­kom­mene „penny press“, der Typus „Gene­ral­an­zeiger“, und die danach über viel­fäl­tige Kanäle verbrei­teten Massen­me­dien waren auf Werbung ange­wiesen, um sich zu finan­zieren: Sie nahmen hin und wieder auch Rück­sichten. Aber stets war klar: Es ist mora­lisch verwerf­lich, die Wirt­schafts­macht auszu­nützen, um die Medien gefügig zu machen. Selbst die Kartell­kom­mis­sion, die Vorläu­ferin der Wett­be­werbs­kom­mis­sion, hat 1981 dieses Prinzip bekräftigt.

Eigent­lich hat der Schweizer Pres­serat zum Boykott der Medien durch die werbende Wirt­schaft in seiner Stel­lung­nahme 10/94 alles Wesent­liche gesagt: Es gilt, jeden Boykott und jede Boykott­dro­hung sofort öffent­lich zu machen. Aber viel­leicht haben die beiden Frei­burger Kommu­ni­ka­ti­ons­for­scher Silke Fürst und Mike Meißner Recht, dass diese Grundsatz-Stellungnahme nicht genügt, sondern dass der Pres­serat daraus eine grif­fige Richt­linie formu­lieren sollte, wie medi­en­ethisch mit einem Werbe­boy­kott umzu­gehen ist.

Der Pres­serat ist jeden­falls so oder so gefor­dert, sich noch­mals grund­sätz­liche Gedanken zu machen. Wenn man nämlich den Aufruf Markus Somms zu Ende denkt, dann würden die Medien in Zukunft allen­falls noch die Politik kritisch beleuchten, sofern sie nicht mit der Wirt­schaft verban­delt ist – in jedem Fall aber nicht mehr die Wirt­schaft. Denn jene Unter­nehmen, die Werbung schalten, kriti­siert man nicht, weil sie „sich nicht blöde herun­ter­ma­chen lassen“ müssen, wie Somm formu­lierte. Und jene, die keine Werbung schalten, schont man, weil sie sonst nie zu Werbe­kunden werden. Die Medien aber, die weiter kritisch über die Wirt­schaft berichten, würden durch die betrof­fenen Unter­nehmen boykot­tiert. Dies würde die kriti­schen Medien schwä­chen und die parteiisch-bürgerlichen belohnen, wie auch Matthias Daum in der ZEIT  und Constantin Seibt im Tages-Anzeiger argu­men­tiert haben.

Und damit hätten wir eine Situa­tion, die der Publi­zist Paul Sethe 1965 in einem Leser­brief an den Spiegel so umschrieb: „Pres­se­frei­heit ist die Frei­heit von zwei­hun­dert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Dieser Satz stimmte damals nicht und er stimmt heute nicht. Aber Markus Somm will ihn wahr machen.

Wir wissen: Den Stein brachte Chris­toph Blocher ins Rollen, als er ankün­digte, die SVP werde in ihrem nächsten Abstim­mungs­kampf, jenem gegen das Asyl­ge­setz, in den Schweizer Print­me­dien keine Inse­rate schalten, da ja die Print­me­dien mit wenigen Ausnahmen ohnehin im anderen Lager stünden. Markus Somm, der als Chef­re­daktor auch Jour­na­list ist, leitete daraus eine allge­meine Regel ab – eine Regel gegen den Jour­na­lismus, gegen den eigenen Berufs­stand. Dieser Affront gegen­über der jour­na­lis­ti­schen Unab­hän­gig­keit muss den Schweizer Pres­serat heraus­for­dern. Es handelt sich um einen medi­en­ethi­schen Testfall.