Um den Philosophen Achille Mbembe tobt eine Debatte. Zur Diskussion stehen seine Äusserungen zur Politik Israels. Ein Blick auf das Verhältnis der postkolonialen Studien zum Judentum zeigt, dass dieses immer schon ambivalent war.

  • Caspar Battegay

    Caspar Battegay ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er leitet die Fachgruppe Kultur und Kommunikation an der Hochschule für Technik der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zudem unterrichtet er Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel. Seine Habilitation ist 2018 unter dem Titel „Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ‚jüdische Frage‘“ im Wallstein Verlag erschienen.

Der „Beauf­tragte der Bundes­re­gie­rung für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus“ hat Achille Mbembe vorge­worfen, er rela­ti­viere den Holo­caust und stelle das Exis­tenz­recht Israels in Frage. Ist der renom­mierte Denker gar ein Anti­semit? Die Antwort auf diese Frage kann sich nicht in einer simplen Entschei­dung zwischen Daumen nach oben oder nach unten erschöpfen. Viel­mehr soll es hier um Aspekte dieser Debatte gehen, die über sie hinaus­weisen: Erstens um die Frage nach dem Verhältnis der post­ko­lo­nialen Studien zum Judentum, zwei­tens um die frag­wür­dige Analogie des Kolo­nia­lismus mit dem Staat Israel.

In seiner Vertei­di­gung gegen die Anti­se­mi­tis­mus­vor­würfe in der ZEIT behauptet Mbembe, dass seine „Utopie einer Welt­re­pa­ratur“ sich „zu einem großen Teil bestimmten Tradi­tionen des jüdi­schen Denkens“ verdankt. Über­ra­schen­der­weise nennt er zweimal Franz Rosen­zweig – ein zutiefst konser­va­tiver Philo­soph der jüdi­schen Erneue­rung zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts. Diese Refe­renz wirft die Frage auf, inwie­fern Mbembe, aber auch andere post­ko­lo­niale Theo­re­tiker die „Tradi­tionen des jüdi­schen Denkens“ in Anspruch nehmen. Um diese Frage zu beant­worten sowie Mbembes Gleich­stel­lung der israe­li­schen Politik mit „kolo­nialer Beset­zung“ besser nach­voll­ziehen zu können, hilft ein Ausblick auf das post­ko­lo­niale Verständnis von Exil und Natio­nal­staat. Dieses hat sich immer in einem bestimmten Verhältnis zu jüdi­schen Tradi­tionen und Denk­fi­guren entwi­ckelt. Denn die euro­päi­schen Jüdinnen und Juden galten lange als die Minder­heit; ihr legaler Status war seit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion in Debatten über natio­nal­staat­liche Bürger­rechte durch­ge­hend Gegen­stand enga­gierter Ausein­an­der­set­zungen. Zudem war allge­meiner Rassismus immer auch mit spezi­fi­scher Juden­feind­lich­keit verbunden.

Volk des Exils

In einem kurzen Text von 1998 spricht Homi K. Bhabha vom Judentum als exem­pla­ri­scher Gruppe einer selbst­kri­ti­schen Mino­rität, die sich inner­halb kultu­reller Ambi­va­lenz bewege, ja diese Ambi­va­lenz sogar zu einer Art Marken­zei­chen mache (so etwa im berühmten ‚jüdi­schen Witz‘). Eine solche idea­li­sierte Sicht auf das Judentum als ‚Mino­rität‘, die selbst­kri­tisch und ironisch mit ihrem Status umgehe und Ambi­va­lenzen ausspiele, anstatt sie zu negieren, prägt das Denken der post­ko­lo­nialen Studien. Auf der Suche nach Figuren der Aner­ken­nung kultu­reller Diffe­renz wird vor allem auf Denke­rinnen und Denker einge­gangen, die eine säku­la­ri­sierte jüdi­sche Iden­tität vertreten: Walter Benjamin, Sigmund Freud, Hannah Arendt, Georg Lukács oder Theodor W. Adorno. Ausschlag­ge­bend sind Stich­worte wie Margi­na­lität, Heimat­lo­sig­keit, Exil und Diaspora.

Franz Rosen­zweig, Der Stern der Erlö­sung (Buch­cover der Erst­pu­bli­ka­tion von 1921), Quelle: orka.bibliothek.uni-kassel.de

Es ist deshalb erstaun­lich, dass Mbembe ausge­rechnet Franz Rosen­zweig und explizit dessen Phäno­me­no­logie des Gebets anführt aus dem dritten Teil seines Haupt­werks Der Stern der Erlö­sung (1921). Dort zeichnet Rosen­zweig einen Gegen­ent­wurf zum bürger­li­chen Judentum der ‚Assi­mi­la­tion‘, aber auch zum zionis­ti­schen Verständnis des Juden­tums als Volk. Rosen­zweig geht von christ­li­chen Völkern aus, die ihre Erlö­sung in der Ewig­keit erwarten. Das Judentum dagegen verkör­pert für Rosen­zweig das Ewige bereits in der Zeit, es stehe jenseits von säku­larem Gesetz oder moderner Staat­lich­keit. Diesem Ewigen Volk werde die Hoff­nung auf Erlö­sung durch das kollek­tive Gebet vermit­telt. Man kann nur darüber speku­lieren, inwie­fern diese Theo­logie mit Mbembes ziem­lich wolkigen Ausfüh­rungen zur Welt­re­pa­ratur zusam­men­hängt. Neben dem Pathos der Erlö­sung mag eine andere Idee ausschlag­ge­bend gewesen sein: Für Rosen­zweig, der 1929 starb und die Grün­dung des Staates Israel nicht erlebte, ist das Judentum essen­tiell ein Volk des Exils, das nie mit dem Boden eines Terri­to­riums verbunden sein kann.

Diaspora als Praxis

Die jüdi­sche Tradi­tion beinhaltet seit der helle­nis­ti­schen Diaspora in Alex­an­dria im dritten Jahr­hun­dert die Idee des Exils als poli­ti­scher Praxis. Diese erschien für post­ko­lo­niale Theo­re­tiker immer attraktiv, weil sie nicht in modernen Ordnungs­ka­te­go­rien wie ‚Volk‘ oder Reli­gion aufgeht. Aller­dings beinhaltet das jüdi­sche Konzept der Diaspora auch die Idee des Ursprungs. An diese Idee konnte der Zionismus mit seinem Norma­li­sie­rungs­pro­jekt einer terri­to­rialen Rück­kehr anschliessen. Die Frage, wie man sich dazu verhalten sollte, hat im post­ko­lo­nialen Denken zu unter­schied­li­chen Reak­tionen geführt. Ein Beispiel für einen emotional und poli­tisch aufge­la­denen Bruch mit dem jüdi­schen Diaspo­ra­denken stellt Stuart Halls Aufsatz „Cultural Iden­tity and Diaspora“ (1990) dar. Hall unter­scheidet zwischen einem (nega­tiven) essen­tia­lis­ti­schen und impe­ria­lis­ti­schen Konzept von Iden­tität und einem (posi­tiven) Konzept, das auf Brüchen und Unab­ge­schlos­sen­heit, einer konsti­tu­tiven Hybri­dität beruht. Diese idea­li­sierte und ästhe­ti­sierte Form von kultu­rellem Selbst­ver­ständnis hat ein Diaspora­kon­zept zur Folge, das sich beträcht­lich von demje­nigen der jüdi­schen Tradi­tion unter­scheidet – und auch unter­scheiden will, vor allem was die Negie­rung des Ursprungs­den­kens betrifft.

Paul Gilroy: The Black Atlantic. Moder­nity and Double Conscious­ness (Buch­cover), Quelle: literariness.org

Einen eher anleh­nenden Bezug zur jüdi­schen Geschichte stellt hingegen Paul Gilroys Buch The Black Atlantic. Moder­nity and Double Conscious­ness (1993) her. Gilroy geht von einem ähnli­chen multi­kul­tu­rellen Diasporabe­griff wie Hall aus, hält dabei aber an der Bedeu­tung der jüdi­schen Erfah­rung fest. „Black Atlantic“ nennt Gilroy die poli­ti­sche und kultu­relle Forma­tion, die sich aus dem trans­at­lan­ti­schen Skla­ven­handel mit der Verschlep­pung von Millionen Menschen nach Amerika ergeben habe, wobei sich eine zentrums­lose, zerstreute und durch eine gemein­same Kata­stro­phen­ge­schichte verbun­dene Gemein­schaft konsti­tu­iert habe. Diese zeichne sich nicht einfach durch Macht­lo­sig­keit aus, sie habe viel­mehr auch selbst­be­wusste poli­ti­sche Stra­te­gien hervorgebracht.

In der jüdi­schen Moderne sieht Gilroy diese ambi­va­lenten Erfah­rungen vorge­zeichnet. Hinsicht­lich der Verbin­dung von jüdi­schem und afri­ka­ni­schem Diasporabe­wusst­sein hält er drei Punkte fest: Erstens die mythi­sche und poli­ti­sche Idee einer Rück­kehr zu einem Ursprungsort; zwei­tens die Wahr­neh­mung des Exils; drit­tens die messia­ni­sche Vorstel­lung, dass das Leiden zu einer Erlö­sung führen könne, und zwar für die gesamte Mensch­heit. Aus diesen Paral­lelen zieht Gilroy nicht nur histo­ri­sche oder kultur­wis­sen­schaft­liche Schlüsse, sondern auch poli­ti­sche. Aus der Perspek­tive unter­schied­li­cher Kata­stro­phen­ge­schichten ergibt sich ein gemein­sames Poten­tial, um Stra­te­gien zur Aner­ken­nung von Diver­sität zu formulieren.

Panafri­ka­nismus, Zionismus, Idealismus

Mbembes Haupt­werk Kritik der schwarzen Vernunft (Critique de la raison nègre, 2013) knüpft implizit an solche Über­le­gungen an. In der Analyse der histo­ri­schen Entste­hung von Rassismus bezieht Mbembe sich auf Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herr­schaft (1955). Die von Arendt beschrie­bene Verbin­dung von „Rasse“ und Büro­kratie ist für seine Argu­men­ta­tion zentral, weil sie auf das „Rasse­sub­jekt“ hinweist, den „unter dem Zeichen des Negers“ zur mensch­li­chen Ware degra­dierten Sklaven. Dabei meint der Begriff „nègre“ für Mbembe mehr als nur die histo­ri­sche Analyse des recht­losen Lebens im Skla­ven­handel. Er soll „das Schicksal aller subal­ternen Menschen­gruppen“ bezeichnen – explizit auch in der Gegenwart.

Achille Mbembe: Critique de la raison nègre (Buch­cover), Quelle: goodreads.com

Mbembe sieht in der globa­li­sierten Wirt­schaft eine „Univer­sa­li­sie­rung der conditia nigra“ am Werk. Mittels „Schaf­fung von Zonen“ würden ethnisch markierte Menschen zu „Negern“ degra­diert. Die vom Staat Israel seit 1967 beherrschten Gebiete der West Bank stellen für Mbembe eben­falls solche „Zonen“ dar, die Politik Israels bezüg­lich dieser Gebiete einen Kolo­nia­lismus – eine Einschät­zung, die frei­lich in einer langen linken Tradi­tion steht, wobei Mbembe an keiner Stelle auf die poli­ti­schen Prozesse oder die rechts­staat­li­chen Ausein­an­der­set­zungen eingeht, die im Staat Israel, aber auch in anderen west­li­chen Demo­kra­tien gerade über Fragen von Gewalt, sozialer Exklu­sion oder über die Reak­tion auf terro­ris­ti­sche Gewalt geführt werden. In der ZEIT hält Mbembe fest, das Exis­tenz­recht Israels sei „grund­le­gend für das Gleich­ge­wicht der Welt“. Dass es even­tuell auch grund­le­gend für viele in diesem Staat lebenden Menschen sein könnte, liegt außer­halb dieses Denkens, das in der Tradi­ti­ons­linie des Post­ko­lo­nia­lismus Natio­nal­staaten kritisch beur­teilen muss, da diese immer einer kolo­nia­lis­ti­schen Logik folgen. Entspre­chend findet das Judentum auch nur in der roman­ti­sierten Form einer diaspo­ri­schen Minder­heit Anerkennung.

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Auf den letzten Seiten seiner Kritik spricht Mbembe von der „Herstel­lung univer­seller Gerech­tig­keit“, die sich neben Aner­ken­nung und Gemein­schaft­lich­keit konkret durch Repa­ra­ti­ons­zah­lungen und Resti­tu­tion herstellen ließen, ohne aller­dings konkrete Hinweise zur Ausge­stal­tung zu geben. Auch der moderne Staat ist für Mbembe wohl letzt­lich durch die Gewalt­ge­schichte dele­gi­ti­miert. Denn es sei

ganz vergeb­lich, Grenzen zu ziehen, Mauern und Einfrie­dungen zu bauen, zu zerglie­dern, zu klas­si­fi­zieren, zu hier­ar­chi­sieren oder solche von der Mensch­heit auszu­grenzen, die man abwerten möchte, die man verachtet, die uns nicht ähnlich sind oder mit denen wir uns, wie wir meinen, niemals verstehen werden.

Diese Passage lässt sich im Licht der aktu­ellen Debatte durchaus als gegen die israe­li­sche Politik gerichtet verstehen. Sie folgt einer Rhetorik der maxi­malen Unge­nau­ig­keit, denn dass jede Grenze oder Einfrie­dung mit einer Hier­ar­chi­sie­rung oder mit Verach­tung einher­geht, leuchtet Über­le­benden oder Nach­fahren von Über­le­benden eines Völker­mordes, der mit robusten mili­tä­ri­schen Mitteln zu verhin­dern gewesen wäre, nicht unmit­telbar ein. Im Grunde weiß Mbembe um diese Proble­matik, so schreibt er auch, dass gerade die inten­sive Erfah­rung von Ausgren­zung ein Verlangen nach Unter­schei­dungen nach sich ziehe.

Diese Passagen entfalten ihren Sinn aller­dings primär inner­halb von Mbembes Ausfüh­rungen zur Kolo­ni­al­ge­schichte. In ausge­spro­chen faszi­nie­renden Lektüren analy­siert seine Kritik der schwarzen Vernunft auch die histo­ri­schen Stra­te­gien afri­ka­ni­scher und afro-amerikanischer Denker gegen die conditio nigra. Negativ beur­teilt er dabei die Bewe­gungen des Panafri­ka­nismus sowie die Strö­mung der soge­nannten Négri­tude, die seit dem 19. Jahr­hun­dert ein spezi­fisch ‚schwarzes Bewusst­sein‘ und eine spezi­fisch ‚schwarze Kultur‘ schaffen wollten, sich aber eben­falls „inner­halb eines Rassen­pa­ra­digmas“ entwi­ckelt hätten. Der Panafri­ka­nismus sei als „Diskurs der Umkeh­rung“ zu verstehen, die rassis­ti­schen Dicho­to­mien, die er bekämpft, würden bloß verkehrt. Als Heilung für die „zerstreute Exis­tenz“ der Schwarzen propa­gieren Négri­tude und Panafri­ka­nismus die kultu­relle oder auch reale Heim­kehr nach Afrika, das als Ursprungs­my­thos beschworen wird.

Man müsste in solchen Passagen das Wort ‚Afrika‘ nur durch ‚Israel‘ und die Bezeich­nung ‚schwarz‘ durch ‚jüdisch‘ ersetzen – Mbembes Formu­lie­rungen könnten sich direkt auf kultur­zio­nis­ti­sche Diskurse um 1900 beziehen. Auch diese arbei­teten oft mit einer radi­kalen Umkehr anti­se­mi­ti­scher Dicho­to­mien, ohne sie zu ersetzen, und beschworen eine glor­reiche jüdi­sche Vergan­gen­heit (in bibli­schen Zeiten), die es nun wieder­zu­be­leben galt, wobei die schwäch­li­chen und verach­teten Diaspo­ra­juden zu stolzen Bauern und Soldaten werden sollten.

Deshalb bezieht sich Mbembe in seinem Argu­ment auf ‚jüdi­sches Denken‘, aber eben nicht auf dieje­nigen Aspekte dieses Denkens, die etwas essen­tiell ‚Jüdi­sches‘ konzi­pieren (solche Aspekte finden sich auch bei Rosen­zweig, der beispiels­weise von der jüdi­schen ‚Bluts­ge­mein­schaft‘ spricht), sondern auf die univer­sa­lis­ti­schen Aspekte. Denn für Mbembe sind diver­gie­rende Iden­ti­täten auch Hinder­nisse auf dem Weg zu der gemein­samen Welt. Er stellt fest:

Für jene, welche die Kolo­ni­al­herr­schaft ertragen haben oder denen ihr Anteil an der Mensch­lich­keit irgend­wann in der Geschichte geraubt worden ist, erfolgt die Wieder­erlan­gung dieses Anteils an der Mensch­lich­keit oft über die Prokla­ma­tion der Differenz.

Diese Prokla­ma­tion könne jedoch nur der erste Schritt hin zu einer kommenden Welt ohne Rassismus sein. So ehrbar dieses Ideal auch erscheinen mag, so proble­ma­tisch ist es. Denn der Idea­lismus immu­ni­siert gleichsam gegen jegliche Kritik. Mbembes Argu­mente können in seiner Perspek­tive keinerlei Anti­se­mi­tismus enthalten, denn sie sind ja auf das Ideal der allge­meinen Versöh­nung ausge­richtet. Konse­quent blendet eine solche Sicht aber dieje­nigen aus, die im Alltag an prag­ma­ti­schen und lebens­werten Alter­na­tiven arbeiten. Das Markieren von Diffe­renzen und konfron­ta­tive Ausein­an­der­set­zungen gehören zu diesem Alltag. Viel­leicht geht es poli­tisch ja nicht immer gleich darum, die ganze Welt zu repa­rieren und die univer­selle Versöh­nung anzu­streben. Ganz am Schluss des Stern der Erlö­sung spricht Rosen­zweig von der simplen Moral, die sich im Spruch „Recht tun und von Herzen gut sein“ erschöpfe und mit der jedes ethi­sche Handeln beginnen soll, doch: „Wie schwer ist aller Anfang!“