Der „Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ hat Achille Mbembe vorgeworfen, er relativiere den Holocaust und stelle das Existenzrecht Israels in Frage. Ist der renommierte Denker gar ein Antisemit? Die Antwort auf diese Frage kann sich nicht in einer simplen Entscheidung zwischen Daumen nach oben oder nach unten erschöpfen. Vielmehr soll es hier um Aspekte dieser Debatte gehen, die über sie hinausweisen: Erstens um die Frage nach dem Verhältnis der postkolonialen Studien zum Judentum, zweitens um die fragwürdige Analogie des Kolonialismus mit dem Staat Israel.
In seiner Verteidigung gegen die Antisemitismusvorwürfe in der ZEIT behauptet Mbembe, dass seine „Utopie einer Weltreparatur“ sich „zu einem großen Teil bestimmten Traditionen des jüdischen Denkens“ verdankt. Überraschenderweise nennt er zweimal Franz Rosenzweig – ein zutiefst konservativer Philosoph der jüdischen Erneuerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Referenz wirft die Frage auf, inwiefern Mbembe, aber auch andere postkoloniale Theoretiker die „Traditionen des jüdischen Denkens“ in Anspruch nehmen. Um diese Frage zu beantworten sowie Mbembes Gleichstellung der israelischen Politik mit „kolonialer Besetzung“ besser nachvollziehen zu können, hilft ein Ausblick auf das postkoloniale Verständnis von Exil und Nationalstaat. Dieses hat sich immer in einem bestimmten Verhältnis zu jüdischen Traditionen und Denkfiguren entwickelt. Denn die europäischen Jüdinnen und Juden galten lange als die Minderheit; ihr legaler Status war seit der Französischen Revolution in Debatten über nationalstaatliche Bürgerrechte durchgehend Gegenstand engagierter Auseinandersetzungen. Zudem war allgemeiner Rassismus immer auch mit spezifischer Judenfeindlichkeit verbunden.
Volk des Exils
In einem kurzen Text von 1998 spricht Homi K. Bhabha vom Judentum als exemplarischer Gruppe einer selbstkritischen Minorität, die sich innerhalb kultureller Ambivalenz bewege, ja diese Ambivalenz sogar zu einer Art Markenzeichen mache (so etwa im berühmten ‚jüdischen Witz‘). Eine solche idealisierte Sicht auf das Judentum als ‚Minorität‘, die selbstkritisch und ironisch mit ihrem Status umgehe und Ambivalenzen ausspiele, anstatt sie zu negieren, prägt das Denken der postkolonialen Studien. Auf der Suche nach Figuren der Anerkennung kultureller Differenz wird vor allem auf Denkerinnen und Denker eingegangen, die eine säkularisierte jüdische Identität vertreten: Walter Benjamin, Sigmund Freud, Hannah Arendt, Georg Lukács oder Theodor W. Adorno. Ausschlaggebend sind Stichworte wie Marginalität, Heimatlosigkeit, Exil und Diaspora.

Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (Buchcover der Erstpublikation von 1921), Quelle: orka.bibliothek.uni-kassel.de
Es ist deshalb erstaunlich, dass Mbembe ausgerechnet Franz Rosenzweig und explizit dessen Phänomenologie des Gebets anführt aus dem dritten Teil seines Hauptwerks Der Stern der Erlösung (1921). Dort zeichnet Rosenzweig einen Gegenentwurf zum bürgerlichen Judentum der ‚Assimilation‘, aber auch zum zionistischen Verständnis des Judentums als Volk. Rosenzweig geht von christlichen Völkern aus, die ihre Erlösung in der Ewigkeit erwarten. Das Judentum dagegen verkörpert für Rosenzweig das Ewige bereits in der Zeit, es stehe jenseits von säkularem Gesetz oder moderner Staatlichkeit. Diesem Ewigen Volk werde die Hoffnung auf Erlösung durch das kollektive Gebet vermittelt. Man kann nur darüber spekulieren, inwiefern diese Theologie mit Mbembes ziemlich wolkigen Ausführungen zur Weltreparatur zusammenhängt. Neben dem Pathos der Erlösung mag eine andere Idee ausschlaggebend gewesen sein: Für Rosenzweig, der 1929 starb und die Gründung des Staates Israel nicht erlebte, ist das Judentum essentiell ein Volk des Exils, das nie mit dem Boden eines Territoriums verbunden sein kann.
Diaspora als Praxis
Die jüdische Tradition beinhaltet seit der hellenistischen Diaspora in Alexandria im dritten Jahrhundert die Idee des Exils als politischer Praxis. Diese erschien für postkoloniale Theoretiker immer attraktiv, weil sie nicht in modernen Ordnungskategorien wie ‚Volk‘ oder Religion aufgeht. Allerdings beinhaltet das jüdische Konzept der Diaspora auch die Idee des Ursprungs. An diese Idee konnte der Zionismus mit seinem Normalisierungsprojekt einer territorialen Rückkehr anschliessen. Die Frage, wie man sich dazu verhalten sollte, hat im postkolonialen Denken zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Ein Beispiel für einen emotional und politisch aufgeladenen Bruch mit dem jüdischen Diasporadenken stellt Stuart Halls Aufsatz „Cultural Identity and Diaspora“ (1990) dar. Hall unterscheidet zwischen einem (negativen) essentialistischen und imperialistischen Konzept von Identität und einem (positiven) Konzept, das auf Brüchen und Unabgeschlossenheit, einer konstitutiven Hybridität beruht. Diese idealisierte und ästhetisierte Form von kulturellem Selbstverständnis hat ein Diasporakonzept zur Folge, das sich beträchtlich von demjenigen der jüdischen Tradition unterscheidet – und auch unterscheiden will, vor allem was die Negierung des Ursprungsdenkens betrifft.

Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness (Buchcover), Quelle: literariness.org
Einen eher anlehnenden Bezug zur jüdischen Geschichte stellt hingegen Paul Gilroys Buch The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness (1993) her. Gilroy geht von einem ähnlichen multikulturellen Diasporabegriff wie Hall aus, hält dabei aber an der Bedeutung der jüdischen Erfahrung fest. „Black Atlantic“ nennt Gilroy die politische und kulturelle Formation, die sich aus dem transatlantischen Sklavenhandel mit der Verschleppung von Millionen Menschen nach Amerika ergeben habe, wobei sich eine zentrumslose, zerstreute und durch eine gemeinsame Katastrophengeschichte verbundene Gemeinschaft konstituiert habe. Diese zeichne sich nicht einfach durch Machtlosigkeit aus, sie habe vielmehr auch selbstbewusste politische Strategien hervorgebracht.
In der jüdischen Moderne sieht Gilroy diese ambivalenten Erfahrungen vorgezeichnet. Hinsichtlich der Verbindung von jüdischem und afrikanischem Diasporabewusstsein hält er drei Punkte fest: Erstens die mythische und politische Idee einer Rückkehr zu einem Ursprungsort; zweitens die Wahrnehmung des Exils; drittens die messianische Vorstellung, dass das Leiden zu einer Erlösung führen könne, und zwar für die gesamte Menschheit. Aus diesen Parallelen zieht Gilroy nicht nur historische oder kulturwissenschaftliche Schlüsse, sondern auch politische. Aus der Perspektive unterschiedlicher Katastrophengeschichten ergibt sich ein gemeinsames Potential, um Strategien zur Anerkennung von Diversität zu formulieren.
Panafrikanismus, Zionismus, Idealismus
Mbembes Hauptwerk Kritik der schwarzen Vernunft (Critique de la raison nègre, 2013) knüpft implizit an solche Überlegungen an. In der Analyse der historischen Entstehung von Rassismus bezieht Mbembe sich auf Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955). Die von Arendt beschriebene Verbindung von „Rasse“ und Bürokratie ist für seine Argumentation zentral, weil sie auf das „Rassesubjekt“ hinweist, den „unter dem Zeichen des Negers“ zur menschlichen Ware degradierten Sklaven. Dabei meint der Begriff „nègre“ für Mbembe mehr als nur die historische Analyse des rechtlosen Lebens im Sklavenhandel. Er soll „das Schicksal aller subalternen Menschengruppen“ bezeichnen – explizit auch in der Gegenwart.

Achille Mbembe: Critique de la raison nègre (Buchcover), Quelle: goodreads.com
Mbembe sieht in der globalisierten Wirtschaft eine „Universalisierung der conditia nigra“ am Werk. Mittels „Schaffung von Zonen“ würden ethnisch markierte Menschen zu „Negern“ degradiert. Die vom Staat Israel seit 1967 beherrschten Gebiete der West Bank stellen für Mbembe ebenfalls solche „Zonen“ dar, die Politik Israels bezüglich dieser Gebiete einen Kolonialismus – eine Einschätzung, die freilich in einer langen linken Tradition steht, wobei Mbembe an keiner Stelle auf die politischen Prozesse oder die rechtsstaatlichen Auseinandersetzungen eingeht, die im Staat Israel, aber auch in anderen westlichen Demokratien gerade über Fragen von Gewalt, sozialer Exklusion oder über die Reaktion auf terroristische Gewalt geführt werden. In der ZEIT hält Mbembe fest, das Existenzrecht Israels sei „grundlegend für das Gleichgewicht der Welt“. Dass es eventuell auch grundlegend für viele in diesem Staat lebenden Menschen sein könnte, liegt außerhalb dieses Denkens, das in der Traditionslinie des Postkolonialismus Nationalstaaten kritisch beurteilen muss, da diese immer einer kolonialistischen Logik folgen. Entsprechend findet das Judentum auch nur in der romantisierten Form einer diasporischen Minderheit Anerkennung.
Auf den letzten Seiten seiner Kritik spricht Mbembe von der „Herstellung universeller Gerechtigkeit“, die sich neben Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit konkret durch Reparationszahlungen und Restitution herstellen ließen, ohne allerdings konkrete Hinweise zur Ausgestaltung zu geben. Auch der moderne Staat ist für Mbembe wohl letztlich durch die Gewaltgeschichte delegitimiert. Denn es sei
ganz vergeblich, Grenzen zu ziehen, Mauern und Einfriedungen zu bauen, zu zergliedern, zu klassifizieren, zu hierarchisieren oder solche von der Menschheit auszugrenzen, die man abwerten möchte, die man verachtet, die uns nicht ähnlich sind oder mit denen wir uns, wie wir meinen, niemals verstehen werden.
Diese Passage lässt sich im Licht der aktuellen Debatte durchaus als gegen die israelische Politik gerichtet verstehen. Sie folgt einer Rhetorik der maximalen Ungenauigkeit, denn dass jede Grenze oder Einfriedung mit einer Hierarchisierung oder mit Verachtung einhergeht, leuchtet Überlebenden oder Nachfahren von Überlebenden eines Völkermordes, der mit robusten militärischen Mitteln zu verhindern gewesen wäre, nicht unmittelbar ein. Im Grunde weiß Mbembe um diese Problematik, so schreibt er auch, dass gerade die intensive Erfahrung von Ausgrenzung ein Verlangen nach Unterscheidungen nach sich ziehe.
Diese Passagen entfalten ihren Sinn allerdings primär innerhalb von Mbembes Ausführungen zur Kolonialgeschichte. In ausgesprochen faszinierenden Lektüren analysiert seine Kritik der schwarzen Vernunft auch die historischen Strategien afrikanischer und afro-amerikanischer Denker gegen die conditio nigra. Negativ beurteilt er dabei die Bewegungen des Panafrikanismus sowie die Strömung der sogenannten Négritude, die seit dem 19. Jahrhundert ein spezifisch ‚schwarzes Bewusstsein‘ und eine spezifisch ‚schwarze Kultur‘ schaffen wollten, sich aber ebenfalls „innerhalb eines Rassenparadigmas“ entwickelt hätten. Der Panafrikanismus sei als „Diskurs der Umkehrung“ zu verstehen, die rassistischen Dichotomien, die er bekämpft, würden bloß verkehrt. Als Heilung für die „zerstreute Existenz“ der Schwarzen propagieren Négritude und Panafrikanismus die kulturelle oder auch reale Heimkehr nach Afrika, das als Ursprungsmythos beschworen wird.
Man müsste in solchen Passagen das Wort ‚Afrika‘ nur durch ‚Israel‘ und die Bezeichnung ‚schwarz‘ durch ‚jüdisch‘ ersetzen – Mbembes Formulierungen könnten sich direkt auf kulturzionistische Diskurse um 1900 beziehen. Auch diese arbeiteten oft mit einer radikalen Umkehr antisemitischer Dichotomien, ohne sie zu ersetzen, und beschworen eine glorreiche jüdische Vergangenheit (in biblischen Zeiten), die es nun wiederzubeleben galt, wobei die schwächlichen und verachteten Diasporajuden zu stolzen Bauern und Soldaten werden sollten.
Deshalb bezieht sich Mbembe in seinem Argument auf ‚jüdisches Denken‘, aber eben nicht auf diejenigen Aspekte dieses Denkens, die etwas essentiell ‚Jüdisches‘ konzipieren (solche Aspekte finden sich auch bei Rosenzweig, der beispielsweise von der jüdischen ‚Blutsgemeinschaft‘ spricht), sondern auf die universalistischen Aspekte. Denn für Mbembe sind divergierende Identitäten auch Hindernisse auf dem Weg zu der gemeinsamen Welt. Er stellt fest:
Für jene, welche die Kolonialherrschaft ertragen haben oder denen ihr Anteil an der Menschlichkeit irgendwann in der Geschichte geraubt worden ist, erfolgt die Wiedererlangung dieses Anteils an der Menschlichkeit oft über die Proklamation der Differenz.
Diese Proklamation könne jedoch nur der erste Schritt hin zu einer kommenden Welt ohne Rassismus sein. So ehrbar dieses Ideal auch erscheinen mag, so problematisch ist es. Denn der Idealismus immunisiert gleichsam gegen jegliche Kritik. Mbembes Argumente können in seiner Perspektive keinerlei Antisemitismus enthalten, denn sie sind ja auf das Ideal der allgemeinen Versöhnung ausgerichtet. Konsequent blendet eine solche Sicht aber diejenigen aus, die im Alltag an pragmatischen und lebenswerten Alternativen arbeiten. Das Markieren von Differenzen und konfrontative Auseinandersetzungen gehören zu diesem Alltag. Vielleicht geht es politisch ja nicht immer gleich darum, die ganze Welt zu reparieren und die universelle Versöhnung anzustreben. Ganz am Schluss des Stern der Erlösung spricht Rosenzweig von der simplen Moral, die sich im Spruch „Recht tun und von Herzen gut sein“ erschöpfe und mit der jedes ethische Handeln beginnen soll, doch: „Wie schwer ist aller Anfang!“