Was passiert, wenn Populismus an die Macht kommt, liess sich im Spätsommer 2017 nirgendwo besser ablesen als jenseits des Atlantiks, in den USA und in Venezuela. In Charlottesville kam es im August zu blutigen Ausschreitungen zwischen Rechtsradikalen und Gegendemonstranten. Donald Trump konnte sich nur undifferenziert von einer Gewalt „auf vielen Seiten“ distanzieren und hat damit die aufmarschierten Nationalisten und Rassisten exkulpiert – eine Reaktion, die prompt von Letzteren gefeiert wurde. In Caracas nahm eine regierungstreue verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit auf, um das von der Opposition dominierte Parlament auszuhebeln. Beide Gesellschaften erscheinen tiefer gespalten denn je, und die Machthaber schlichten nicht, sondern schaffen und vertiefen konsequent die Gegensätze zwischen den politischen Lagern. In Polen, der Türkei oder Ungarn lassen sich dieselben populistischen und illiberalen Mechanismen nachweisen, bei welchen die Spaltung der Gesellschaft zum Machtkalkül zählt.
In vielerlei Hinsicht ist das Modell des Populismus an der Macht jedoch noch weiter im Osten zu suchen und in Putins Russland zu finden. Vladimir Putin ist zwar nicht als Populist an die Macht gekommen, sondern zunächst durch seinen Vorgänger Boris Jelzin in die Politik auf Landesebene gehievt worden. Er betrat die politische Bühne aber mit einem populistischen Gestus, versprach eine harte Hand gegen Terroristen und entfesselte den zweiten Tschetschenienkrieg – Gesten, die nur ein Für oder Wider zulassen. Putin versprach eine „Diktatur des Gesetzes“, räumte zumindest vordergründig mit der Vorherrschaft der Oligarchen auf und vermochte es, einen bereits unter Jelzin aufgekommenen Wirtschaftsaufschwung zu konsolidieren. Aussenpolitisch gelobte er, Russland zu alter Stärke zurückzuführen und sich vom Westen weiter zu emanzipieren. Heute hat sich unter Vladimir Putin ein Herrschaftssystem entwickelt, zu dem es keine Alternative zu geben scheint, und obwohl er viele seiner gemachten Versprechungen bis heute nicht gehalten hat, erfreut er sich breiter Zustimmung in der Wählerschaft. Das ist kein Zufall: Es gehört zur Logik des Populismus an der Macht, auf Forderungen nicht einzugehen und Versprechen nicht einzulösen, sondern den politischen Raum konsequent und nachhaltig in zwei Lager zu teilen, die sich antagonistisch und damit konstitutiv gegenüberstehen. Auf diese Weise sichern sich populistische Systeme Gefolgschaft; der Populismus an der Macht lebt von der Perpetuierung des Gegensatzes „Volk vs. Establishment“.
Populismus als Oppositionsbewegung
Der prominenteste Analytiker des Populismus ist der 2015 verstorbene Philosoph Ernesto Laclau. Laclau war zutiefst skeptisch gegenüber dem neoliberalen Konsens und dem „Dritten Weg“ der Sozialdemokratie in Westeuropa, analysierte soziale Proteste und machte sich stark für einen Populismus von links. Der Populismusbegriff von Laclau unterscheidet sich von dem, was man gemeinhin unter Populismus versteht, in mindestens zwei Punkten: Zum einen ist gemäss Laclau Populismus keine politische Ideologie. Populismus sei zum einen eine politische Form und bezeichne keinen bestimmten politischen Inhalt. Zum anderen appelliere Populismus nicht einfach an das Volk in einem ethnischen oder nationalen Sinne. Das „Volk“ sei dem Populismus nicht vorgängig, sondern werde erst im Populismus als diskursive und kontingente Verbindung unerfüllter „demokratischer“ Forderungen hervorgebracht.

Ernesto Laclau, „On Populist Reason“ (2007): Quelle: amazon.com
Zudem bringt der Populismus im Verständnis von Laclau kollektive Symbole und einen populistischen Anführer hervor, der alle populistischen Forderungen verkörpern kann und dessen Name allein Mittel zur Repräsentation des populistischen Diskurses insgesamt wird. Populismus sei also, so Laclau, ein produktiver Diskurs, der „Volk“ und „Führer“ hervorbringt – und nicht, umgekehrt, von ihnen hergestellt werde.
Eine Schwierigkeit des Populismus-Begriffs von Laclau ist, dass er Populismus zwar als inhaltsleer theoretisiert hat, aber ihn implizit als eine progressive, oppositionelle Kraft gegen den neoliberalen Konsens gedacht hat. In der Vision von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entsteht eine „radikale Demokratie“, die eine Wahrung des „Agonalen“ und „Pluralen“ sichern soll: Die beiden Seiten ringen um grundsätzliche Fragen der gesellschaftspolitischen Ordnung und debattieren nicht routinemässig Details einer konsensuellen Verwaltung des Status quo; gleichzeitig aber, so die Vorstellung Chantal Mouffes, nehmen sich die Lager als respektable Gegner wahr und nicht als zu vernichtende Feinde. Ein überparteilicher Konsens soll aber doch vermieden werden. Laclau argumentierte zwar, dass es keinen Widerspruch zwischen Demokratie und Populismus geben müsse. Aber es sei ein Irrtum anzunehmen, „dass die europäischen Formen liberaler Demokratie ein allgemeingültiges Paradigma sind, dem sich alle Gesellschaften annähern sollten“.
Populismus an der Macht
Die Probleme der Populismustheorie Laclaus werden besonders deutlich, wenn man einen emanzipatorischen Populismus als Bewegung gegen Unterdrückung unterscheidet von einem repressiven Populismus an der Macht, unabhängig davon, wie er an die Macht gekommen ist. Putins Russland und Trumps USA zeigen, dass der Populismus an der Macht die Spaltung des politischen Raums fortsetzt und vertieft. Er benötigt diese Spaltung des politischen Raums zum eigenen Machterhalt. Die Spaltung des politischen Raumes und nicht die Erfüllung der Forderungen und Ansprüche der underdogs (Laclau) ist zum Lebenselixier des Systems geworden. Das zeigt sich nicht zuletzt in Russland, und deswegen ist das „System Putin“ auch so lehrreich für die Einordnung anderer Populismen an der Macht.

Putin als Jäger; Quelle: matome.naver.jp
In Russland ist „Putin“ schon längst ein „leerer Signifikant“ (Laclau) für unerfüllte Forderungen verschiedener Lager. Der russische Populismus appelliert immer wieder an das „russische Volk“ und changiert geschickt zwischen staatsbürgerlichen und ethnischen Definitionen, was Putin sowohl Unterstützung durch das nationalistische wie durch das liberale Lager verschafft. Immer wieder inszeniert er einen Präsidenten, der die Regierungsmannschaft massregelt und lokale Missstände behebt. Um seine für den populistischen Diskurs repräsentative Funktion zu erfüllen, muss Putin als ein politischer Anführer erscheinen, der ausserhalb der politischen Ordnung steht, sich immer wieder von dem politischen Establishment absetzt, obwohl er in dessen Zentrum steht. Die Retraditionalisierung im Inneren und der Anspruch Russlands, Global Player zu sein, suggerieren unerreichbare Begehrlichkeiten nach einer reinen Gemeinschaft im Inneren und Supermacht-Phantasien im Äusseren. Das System Putin erlaubt aber auch einen Blick in die mögliche Zukunft anderer Populismen.
Zum einen in die politische Zukunft: Wie der streitbare Philosoph Slavoj Žižek erkannte, kommt Populismus weder ohne Führerfiguren noch ohne Feindbilder aus – dabei geht es aber nicht um politische Gegner, sondern um regelrecht zu beseitigende Tabufiguren, die der Realisierung der mythischen Einheit „des Volkes“ angeblich im Wege stehen. In Russland sind dies vor allem die „Liberalen“: Während oppositionelle Nationalisten leicht kooptiert werden, weil der populistische Diskurs selbst nationalistisch ist, ist „Liberalismus“ zur Sammelbezeichnung für die meisten politischen Gegner geworden. Andere Feinde Russlands finden sich im Äusseren: Spätestens nach Putins Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ist der Westen wieder zum geopolitischen Feind geworden. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit ihm kooperieren, werden als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt. Nicht zufällig ist auch der Zweite Weltkrieg zum Gründungsmythos des post-sowjetischen Russlands geworden, und damit das immer wieder neu erinnerungspolitisch aktualisierte Szenario eines existenziellen Kampfes, der den politischen Raum zweiteilt. Die russische Erfahrung zeigt auch, dass die populistischen Systeme mit der Zeit immer repressiver und illiberaler werden, Minderheitenrechte und Freiheiten abbauen und schliesslich politische Alternativen abschaffen: von Internetzensur über die Gängelung Oppositioneller bis hin zur Verfolgung und Ermordung von Journalisten und Regimekritikern. Populismus schafft und fördert ein Klima der Gewalt.

Putin als Poser für Selfies auf dem Roten Platz
Zum anderen der Blick in die ökonomische Zukunft: Zwar ist auch Putin wie viele andere Populisten mit dem Versprechen angetreten, den Neoliberalismus zu zügeln, seinen Exzessen Einhalt zu gebieten und mehr Gerechtigkeit für „den kleinen Mann“ zu schaffen. Russland bleibt dennoch von starken ökonomischen Gegensätzen geprägt, und zu mehr als zu effekthaschenden Aktionen gegen Oligarchen hat es Putin kaum gebracht. Letztlich wurde die „Oligarchie“ keineswegs abgeschafft, sondern konzentriert und in das System integriert. Gleichzeitig ist der Fortbestand dieser Schicht auch Voraussetzung für den Fortbestand des populistischen Systems, weil dadurch politische Lager gegeneinander ausgespielt werden können.
Meanwhile in the United States of America
Allen historischen, politischen und kulturellen Spezifika zum Trotz zeichnen sich in den USA ganz ähnliche Politikmuster ab, die Putins Russland zum Schreckgespenst insbesondere des liberalen Amerika gemacht haben. Im Zentrum des amerikanischen Populismus steht Trump als Person, aber auch als Symbol für unterschiedlichste Belange und Forderungen. „Trump“ hält diese unterschiedlichsten Ansprüche zusammen: nach weniger Immigration, weniger Freihandel, weniger Staat, weniger politischem Liberalismus und weniger „political correctness“ sowie nach wirtschaftlichem Aufschwung – und schliesslich offen rassistische und nationalistische Forderungen. Es ist diese Allianz von Forderungen, welche Donald Trump an die politische Spitze der USA katapultiert hat und nur durch Trump und durch die Spaltung des politischen Raumes zusammengehalten wird. Deswegen ist es für Trump und jeden Populismus an der Macht weniger wichtig, bestimmte Forderungen zu erfüllen und damit bestimmte underdogs zu bedienen, sondern viel bedeutsamer, die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager aufrechtzuerhalten und selbst eine kontroverse Figur zu bleiben, welche die Schuld für das Nichteinlösen der Versprechen auf „das System“, das – auch innerparteiliche – „Establishment“ oder den politischen Feind schieben kann.
Der grosse Unterschied zu Russland ist, dass es in den USA ein etabliertes System von Checks and Balances und einen liberalen Rechtsstaat gibt, die dem Populismus Trumps entgegenwirken können. Sollte er sich allerdings an der Macht halten, lehrt das russische Beispiel, dass die Repression in den USA zunehmen und die politischen Freiheiten und der Rechtsstaat Schaden nehmen werden. Der Justizminister Jeff Sessions hat bereits Direktiven erlassen, die von der Einschränkung der LGBT-Rechte über das Zurückfahren der Affirmative Action an Hochschulen bis hin zu einer restriktiveren Immigrationspolitik reichen. Und während Trump großspurig ein Ende der Freihandelspolitik fordert, werden bestehende Abkommen de facto bestenfalls neu verhandelt. Insofern gibt der Populismus an der Macht oft nur vor, die Sorgen des „kleinen Mannes“ zu bedienen, setzt aber jene Praktiken fort, die zu der Verarmung dieser Wahlklientel beigetragen haben, und verfestigt damit die Spaltung der Gesellschaft.

Trump-Rally in Phoenix, 22. August 2017; Quelle: abcnews.com
Die fortgesetzte Benachteiligung der underdogs wird damit paradoxerweise zum Erfolgsgaranten des Populismus an der Macht, weil sie die Spaltung des politischen Raumes in Establishment und „Volk“ zementiert. Damit kann das eigene politische Versagen auf das Establishment, auf die Republikanische Partei oder auf die „Feinde des Volkes“ im Inneren und Äusseren geschoben werden, auf „Mainstream-Medien“ und „Fake News“, auf Einwanderer, „bad hombres“, oder China. Insofern passt die Eskalation in Charlottesville in das Machtkalkül des Systems Trump: Sie ist Spiegel der Spaltung des politischen Raumes, und die Reaktion Trumps festigt sie. In Charlottesville gingen die Rechtsextremen vorgeblich auf die Strasse, um für den Erhalt eines Denkmals zu demonstrieren, tatsächlich aber verdichteten sich dort alle Forderungen des populistischen Diskurses nach einem „weissen Amerika“, das angeblich durch Linke und Liberale zerstört wurde, und Immigranten und Afroamerikanern zu viele Rechte eingeräumt habe. Die Beseitigung dieser Feinde erlaubt in der Logik des Populismus, eine mythische, verloren geglaubte Ordnung wiederherzustellen. Sollte dieses Ziel aber erreicht werden, würde die Spaltung des politischen Raumes enden und sich der Populismus selbst abschaffen. Das passt nicht in das Machtkalkül der Populisten in Moskau und Washington und zeigt, dass auch der Populismus an der Macht immer den Charakter einer Bewegung beibehält.