Vor kurzem hat sich die an Europa interessierte Öffentlichkeit ungewöhnlich intensiv mit den Niederlanden beschäftigt. Die Parlamentswahlen vom 15. März wurden zur Entscheidung für oder gegen den Rechtspopulismus stilisiert und förderten gleichzeitig eine für Außenstehende verwirrende politische Vielfalt zu Tage. Internationale Beobachter versuchten, wie Politico Europe witzelte, die Abkürzungen obskurer Kleinparteien zu dechiffrieren und den Vornamen von Geert Wilders halbwegs korrekt auszusprechen.
Das Resultat wurde in der politischen Mitte mit Erleichterung aufgenommen, weil Wilders‘ rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid mit 13% der Stimmen die Grenzen ihres Wählerpotenzials erreicht zu haben scheint und die gemäßigten Kräfte obsiegten. Linke wiesen dagegen darauf hin, dass dieses Ergebnis gegenüber der letzten Parlamentswahl von 2012 einen Zuwachs von 3 % darstellt und dass nun auch das „Forum voor Democratie“ des nationalistischen Medienintellektuellen Thierry Baudet mit knapp 2 % der Stimmen ins Parlament eingezogen ist. Vor allem aber lasten sie der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie sowie dem Christen-Democratisch Appèl an, ihre guten Ergebnisse von über 21% respektive 12% durch die partielle Übernahme rechtspopulistischer Parolen erzielt zu haben.
Sowohl die erleichterte als auch die kritische Reaktion haben ihre Berechtigung. Doch nun, da sich die internationale Medienaufmerksamkeit wieder von den Niederlanden abgewandt hat und die nationale Politik mit den gewohnt langwierigen Koalitionsverhandlungen beschäftigt ist, lohnt ein etwas distanzierterer Rückblick auf die Parlamentswahlen. Denn deren Ergebnis wirft die Frage auf, wie sich die unbestreitbare politische Schwerpunktverschiebung nach rechts zur bekanntermaßen individualisierten niederländischen Gesellschaft verhält. Es handelt sich, so die These dieses Essays, weniger um einen Gegensatz als um ein neues Mischungsverhältnis, das sich – mangels Referenda, Mehrheitswahlrecht oder Fünfprozentklausel – relativ ungefiltert im parlamentarischen System niederschlägt. In den Niederlanden lässt sich beobachten, wie Anspruchsindividualismus und Individualismuskritik eine politische Kultur prägen.
Anspruchsindividualismus als politische Erwartungshaltung
Wenn es den Begriff des „Anspruchsindividualismus“ (Uwe Schimank) in der deutschen Soziologie nicht schon gäbe, man müsste ihn für die Niederlande erfinden. Denn dort ist die Erwartung besonders ausgeprägt, von Regierung und Verwaltung als Individuum ernstgenommen und entsprechend behandelt zu werden. Die Medien verstärken diese Erwartung und kommunizieren sie über die Figur des „bösen“, weil in seiner Entfaltung gebremsten Wählers an die Politik. Vor der Wahl warben fast alle Parteien mit dem Versprechen, den Individuen gerecht zu werden – wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise. Umgekehrt war sich eine deutliche Mehrheit der Wählerschaft bis kurz vor Schluss nicht sicher, welche Partei ihren Präferenzen am ehesten entspräche.

Plakatwald in den Niederlanden, Quelle: blick.ch
Im Fernsehen war zu beobachten, wie Politiker ohne Vorwarnung mit sehr spezifischen Wünschen konfrontiert wurden. Ein viel diskutiertes Beispiel betraf Alexander Pechtold, den Spitzenkandidaten von D’66. Die linksliberale Partei tritt neuerdings dafür ein, Menschen ab 75 auch dann ein selbstbestimmtes Sterben zu ermöglichen, wenn sie nicht unheilbar krank sind. Nun stellte ein 57-jähriger Mann die düstere Frage, weshalb er noch weitere 18 Jahre auf einen solchen staatlich sanktionierten Tod warten müsse. Pechtold verwies auf erheblichen gesellschaftlichen Widerstand, äußerte aber Empathie und versprach, sich für entsprechende Erweiterungen einzusetzen – was ihm die harsche Kritik der christlichen Parteien eintrug, aber dem Stimmenzuwachs der D’66 auf gut 12% keinen Abbruch tat.
Nachfrage nach Individualismuskritik
Doch auch ein Parteiensystem, das aus deutscher oder britischer Perspektive fragmentiert erscheint, kann der Vielfalt individualistischer Ansprüche nur begrenzt gerecht werden. Die Anforderungen an politische Repräsentation werden ferner dadurch erhöht, dass es gleichzeitig eine breite Nachfrage nach Gemeinsinn und nationaler Identität gibt. Sowohl der frühere sozialdemokratische Spitzenkandidat Diederik Samsom als auch der rechtsliberale Ministerpräsident Mark Rutte haben in den letzten Jahren beklagt, das „dicke Ich“ habe sich allenthalben breit gemacht und müsse endlich in seine Schranken gewiesen werden – und stritten sich dann darüber, ob dieses Etikett auf raffgierige Bankiers oder auf Sozialhilfebetrüger passe. Vor der Wahl konnte man sich nicht nur überlegen, welche Partei den jeweiligen individuellen Ansprüchen am ehesten gerecht würde, sondern sich auch zwischen rechten oder linken und christ- oder sozialdemokratischen Versionen der Individualismuskritik entscheiden. Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn es läuft auf eine Nachfrage nach politischen Erzählungen hinaus, die den eigenen Status als legitimes Individuum bestätigen und ideell überhöhen, anderen dagegen denselben Status absprechen. Selbst der Christen-Democratisch Appèl, der sich derzeit deutlich als konservative Partei profiliert, kritisierte in seinem Programm zwar „die Ich-Gesellschaft von heute“, nicht aber die „niederländischen Freiheiten“, die seinen Wählern längst selbstverständlich geworden sind.
Die Nachfrage nach einer Synthese von Anspruchsindividualismus und Individualismuskritik zu bedienen, ist Rutte und seiner VVD einmal mehr besonders gut gelungen. Das rechtsliberale Wahlprogramm wurde – „door en door Nederlands“ – von einem nationalen Selbstbild untermauert, in dem Individualität eine zentrale Stellung einnahm. Die Geschichte der Niederlande, so hieß es dort, sei durch den Freiheitsdrang, den Leistungswillen und das Verantwortungsbewusstsein seiner so optimistischen wie nüchternen Bürger geprägt – die auf dieser gemeinsamen Basis andere Präferenzen respektierten und „entspannt mit Unterschieden umgehen“ könnten. Dass VVD-Wähler überdurchschnittlich gut verdienen und dennoch Ansprüche auf staatliche Unterstützung erheben – etwa in der diskreten Formen der Eigenheimförderung – blieb unausgesprochen. Der individualistisch-tolerante Lebensstil „der“ Niederländer verdiene, so das Wahlprogramm weiter, staatlichen Schutz – vor Terroristen, Schwerverbrechern, Jugendbanden und bedrohlich auftretenden Asylbewerbern.
Ethnisierung des Individuellen
Dass in der Aneinanderreihung von personalisierten Bedrohungsszenarien auch die Figur des betrunkenen Autobahnrasers auftauchte, kann kaum über den Zusammenhang zwischen individualistischem Selbstbild und ethnisierter Ausgrenzung hinwegtäuschen. Sowohl die ideologischen Feinde der individuellen Freiheit als auch diejenigen, die sie bis zur Asozialität überspitzen, werden von der VVD als nichtweiß konnotiert. Mark Ruttes im Zuge des Wahlkampfes veröffentlichter Brief an die Niederländer machte dies noch expliziter. Denn der Ministerpräsident forderte im Namen der „stillen Mehrheit“ diejenigen, die sich nicht „normal“ verhalten wollten, zum Wegzug auf.

Wahlplakate im südholländischen Leiden, Quelle: zeit.de
Offenkundig warb Rutte um Sympathisanten der Partij voor de Vrijheid, die sich eine Zeitlang anschickte, zur stärksten politischen Kraft des Landes zu werden. Die Schnittmenge ist jedoch noch größer, und sie hat viel mit dem individualistischen niederländischen Selbstverständnis zu tun: Geert Wilders, der seine Laufbahn als Rechtsliberaler begann, stilisiert sich immer aufs Neue zum Verteidiger sowohl der nationalen Identität als auch der persönlichen Freiheit gegen den Islam. Nicht bloß Vorsitzender, sondern, begünstigt durch eine Merkwürdigkeit des niederländischen Parteirechts, auch einziges Mitglied seiner PVV, betreibt er seit vielen Jahren eine politische One-Man Show. Er verlangt von den übrigen Mandatsträgern Unterordnung, erregt Daueraufmerksamkeit mit seinen Tweets und ist in den Medien mit regelmäßigen Interviews und gelegentlichen Homestories präsent – Letzteres mit der Besonderheit, dass er mit seiner Frau an verschiedenen geheimen Orten lebt und dadurch seinen existenziellen Einsatz unterstreicht.
Mit alledem sichert er sich den Respekt seiner Wähler, unter denen es neben genuin Abgehängten und überzeugten Verschwörungstheoretikern auch betont individualistische Niederländer gibt. Das zeigen die Gespräche, die der Politologe Koen Damhuis geführt hat, um den „Wegen naar Wilders“ nachzuspüren – unter anderem mit einem Kneipenbesitzer, der über hohe Steuern, Sozialmissbrauch und EU-Hilfen für Griechenland schimpft, und mit einem offen schwulen Unternehmensberater, der sich durch seine Betonung von Eigenverantwortlichkeit ebenso von volkstümlicheren Rechtspopulisten abgrenzt wie von „rückständigen“ Muslimen.
Niederländischer Glaube an die eigene Individualität
Das Problem geht jedoch über solche Überschneidungen zwischen Rechtsliberalismus und Rechtspopulismus hinaus. Denn der niederländische Glaube an die eigene Individualität lässt sich grundsätzlicher in Frage stellen. Bram Mellink konstatiert diesen Glauben bei vielen Linken ebenso wie bei Rechten und sieht ihn als eine zentrale Ursache von Wilders’ Einfluss auf den politischen Diskurs. Mellink, der einer neuen Generation kritischer HistorikerInnen angehört, zeichnet dessen Entstehung am Beispiel des Erziehungssystems nach. Er arbeitet heraus, wie Individualität zunehmend zum Kern der niederländischen Identität erhoben worden ist. Vor diesem Hintergrund verlangten die Einheimischen von Zugewanderten, so zu werden, wie sie es selbst zu sein glauben. Da sie das Tragen von Jeans im Unterschied zum Tragen des Kopftuchs für den Ausdruck einer individualistischen Haltung hielten, so Mellinks Argumentation, seien Niederländer gemeinhin für die eigenen Konformismen blind. Sie ignorierten, dass das Verhältnis zwischen Individualität und Kollektivität gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterliegt, und erschwerten damit neuen Bevölkerungsgruppen die gesellschaftliche Teilhabe.

Plkatawand vor den Wahlen, Quelle: fluter.de
Die Anspruchshaltung, so lassen sich diese Überlegungen zuspitzen, besteht darin, sich die eigene Individualität bestätigen und staatlich fördern zu lassen – in Abgrenzung von denjenigen Gruppen, die einem entweder zu kollektivistisch oder auf die verkehrte Weise individualistisch erscheinen. Sie ist in den Niederlanden zweifellos verbreitet, aber keineswegs konkurrenzlos. Dazu ist die Vielfalt an Strömungen und Parteien zu groß, von der liberalen D’66 bis zu GroenLinks, von DENK, einer an Wähler besonders türkischer und marokkanischer Herkunft gerichteten Bewegung, bis zur Partij voor de Dieren, die individuelle Rechte nicht länger auf Menschen begrenzen will. Was aus der Perspektive der auf knapp 6% eingebrochenen Sozialdemokratie als Desintegrationsgeschichte erscheinen mag, lässt sich auch anders interpretieren, nämlich als zukunftsoffene Pluralität von Individualitäts- und Kollektivitätsvorstellungen. Doch damit eine solche Sichtweise politisch wirksam werden kann, müssten die eigenen Ansprüche relativiert und die Ansprüche anderer als prinzipiell legitim anerkannt werden. Nur so lässt sich die viel beschworene niederländische Toleranz unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts neu erfinden – statt sie als mythische Tradition gegen vermeintliche Bedrohungen zu verteidigen.