Die Debatte um den „Katechismus der Deutschen“ ist heftig und zuweilen auch scharf. In ihr geht es nicht zuletzt – und das löste den Text von Dirk Moses aus – um das deutsche Feuilleton und den „Schnellroda-Chic“, der von rechts her in den Mainstream drängt.

  • Johannes von Moltke

    Johannes von Moltke lehrt als Professor für Film, Fernsehen und Medien sowie für German Studies an der University of Michigan, wo er zu Filmgeschichte, kritischer Theorie und neuen Medien forscht. Von 2019-2021 war er Präsident der German Studies Association.

Der Essay von Dirk Moses auf Geschichte der Gegen­wart hat einen Nerv getroffen – was Pole­miken übli­cher­weise auch tun. Kaum vorstellbar, dass eine Neuschrei­bung von Kleists poli­ti­scher Kampf­schrift „Kate­chismus der Deut­schen“ (1809) mit einem Fünf-Punkte-Programm für einen „öffent­li­chen Exor­zismus“ nicht in erster Linie als Provo­ka­tion gedacht war und mit eben­jener „mora­li­schen Hybris“ koket­tiert, die Moses der offi­zi­ellen Erin­ne­rungs­kultur der Bundes­re­pu­blik vorwirft. Indem er sich stark an die Sprache der Reli­gion und der Häresie anlehnt, stattet er seinen neuen „Deut­schen Kate­chismus“ mit der Macht kleri­kaler Dogmen aus, die von den „Hohe­pries­tern“ eines erlö­senden Philo­se­mi­tismus verkündet werden. Mit Hilfe ihrer „pries­ter­li­chen Zensoren“ halten diese Hüter der Unver­gleich­bar­keit die deut­sche Bevöl­ke­rung bei der Stange, indem sie das „heilige Trauma“ des Holo­causts vor der Konta­mi­na­tion durch andere Erin­ne­rungen schützen.

Das alles klingt eini­ger­maßen dysto­pisch und ziem­lich über­zogen, was den Histo­riker Volker Weiß dazu veran­lasst, in Moses’ Text nichts weiter als einen „ressen­ti­ment­ge­la­denen Wust“ zu sehen, dem die Kenntnis der einschlä­gigen Debatten fehle. Damit greift er zwar zu kurz, was ihm nicht zuletzt ein Blick auf Moses‘ Publi­ka­tionen und eigenen Debat­ten­bei­träge gezeigt hätte; doch weiß Weiß besser als andere, was auf dem Spiel steht: Die Rede vom Gedenk­ka­te­chismus liest sich auf den ersten Blick allzu leicht wie eine Dekli­na­tion neurechter Posi­tionen zum „Schuld­kult“ in der Bundes­re­pu­blik. Ist Moses also als ein „Sieferle von links“ einzu­ordnen, wie Patrick Bahners auf Twitter witzelte?

Eine heftige Debatte

Zwar lenkt auch diese flotte Analogie, wie noch zu zeigen sein wird, vom Kern der Debatte ab, doch sie steht im Raum und bean­sprucht Aufmerk­sam­keit. An anderer Stelle hat Helmut Walser Smith die Impli­ka­tionen der offen­sicht­li­chen Anklänge zwischen Moses’ reli­giöser Rhetorik und der reak­tio­nären Kritik des „Auschwitz-Mythos“ (Sieferles Begriff und Anfüh­rungs­zei­chen) detail­liert darge­legt; auch Martin Walsers ähnlich berüch­tigte Etiket­tie­rung von Ausch­witz als „Moral­keule“ klingt an. Unge­achtet der diver­gie­renden poli­ti­schen Ausrich­tungen, die ihnen zugrunde liegen, riskieren diese Reso­nanzen, Moses in eine bedenk­liche Nähe zum intel­lek­tu­ellen Diskurs der deut­schen extremen Rechten zu rücken.

Und so griff diese ihrer­seits Bahners’ Sieferle-Tweet scha­den­froh auf, um damit auf dem haus­ei­genen Blog zu punkten. So kommt es, dass in der rechten Sezes­sion der Führer der öster­rei­chi­schen Iden­ti­tären Bewe­gung eine Glosse über einen Artikel schreibt, den ein in den USA lebender austra­li­scher Deutsch­land­his­to­riker in der Schweizer Online-Zeitschrift Geschichte der Gegen­wart veröf­fent­licht hat. Auf diese kuriose kultur-politische Konstel­la­tion werde ich weiter unten zurück­kommen, aber zunächst möchte ich eine Bestands­auf­nahme machen – nicht nur zum aktu­ellen Stand der Debatte, sondern auch zu einigen bislang unter­be­lich­teten Aspekten, die meines Erach­tens aber für das Verständnis der hier verhan­delten poli­ti­schen Bruch­li­nien wesent­lich sind.

Neben schnellen und scharfen Reak­tionen hat Moses’ „Katechismus“-Text auch diverse wohl- oder besser­mei­nende Kritiker gefunden, die meisten von ihnen auf dem Blog des New Fascism Syllabus. Einige seiner erklärten Absichten aner­ken­nend plädieren sie für mehr Ausge­wo­gen­heit und scheinen alle zu einer gewissen Mäßi­gung und zu größerer Diffe­ren­zie­rung aufzu­rufen (allein, wie führt man eine gemä­ßigte Polemik…?). Bislang handelt es sich dabei – bis auf die Sozio­lo­ginnen Zoé Samudzi und Paula Villa Bras­lavsky – ausschließ­lich um Histo­riker, die darum bemüht scheinen, den Zeit­dia­gnos­tiker Moses wieder an die Regeln der Zunft zu erin­nern. Indem sie ihn auffor­dern, die deut­sche Erin­ne­rungs­ge­schichte sorg­fäl­tiger zu betrachten, verweisen sie den Kollegen in die diszi­pli­nären Schranken.

Der „Histo­ri­ker­streit 2.0“

Das hat alles durchaus seine Berech­ti­gung. Die Kritiken der Fach­kol­legen und die verschie­denen histo­ri­schen Perspek­tiven, die sie einbringen, sind selbst­ver­ständ­lich ebenso will­kommen wie die Debatte selbst – solange wir darüber nicht auch deren andere, mögli­cher­weise näher­lie­gende Anlässe und Ursa­chen aus dem Blick verlieren. Schließ­lich wurde Moses’ Inter­ven­tion explizit als Reak­tion auf die Mbembe-Affäre im letzten Jahr verfasst wie auch auf die giftigen Bosheiten, die Anfang dieses Jahres in den Feuil­le­tons der deut­schen Über­set­zung von Michael Roth­bergs Buch Multi­di­rec­tional Memory entge­gen­ge­schleu­dert wurden. Wie in diesen Debatten deut­lich wurde – einem „Histo­ri­ker­streit 2.0“, der nun auf neue poli­ti­sche Pola­ri­täten ausge­richtet ist –, trat die Geschichte, und in der Tat auch die Geschichts­wis­sen­schaft, zuweilen weit hinter Meinungs­mache und poli­ti­sches Impo­nier­ge­habe zurück. Zudem ging und geht es bei der Frage nach dem Gedenken auch deswegen nur zweit­rangig um ein histo­ri­sches Verständnis der Vergan­gen­heit, als die Erin­ne­rung als öffent­li­cher Akt immer in der Gegen­wart statt­findet. Deren poli­ti­sche Ausrich­tung und Verein­nah­mung sind es, die auf dem Spiel stehen.

Das alles soll nicht heißen, dass die in der Diskus­sion um den Text von Dirk Moses vorge­brachten histo­ri­schen Korrek­turen unwe­sent­lich oder gar unan­ge­bracht wären. Aber es soll uns daran erin­nern, dass, zumin­dest im Fall von Roth­berg, die Begriffe in dieser Debatte nicht in erster Linie durch histo­ri­sche, sondern durch lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Forschungen zum Verhältnis von fiktio­naler Lite­ratur und Gedächtnis bestimmt wurden. Diese Tatsache wurde in den Reak­tionen auf die Über­set­zung von Multi­di­rec­tional Memory frei­lich allzu oft ausge­blendet – Roth­berg musste seine Kritiker immer wieder daran erin­nern, dass er von Haus aus Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler und Kompa­ra­tist und kein Histo­riker ist (was Habermas übri­gens auch nicht war). Und er musste sich mehr als einmal bizar­rer­weise dafür vertei­digen, dass er die Arbeit eines Geis­tes­wis­sen­schaft­lers macht: Dass er Fragen so stellt und beant­wortet, wie sie ihm in der Lite­ratur, in der Malerei und im Film entge­gen­treten – in ästhe­ti­schen Formen und Medien mithin, in denen sie oft am prägnan­testen zur Darstel­lung kommen. Aus den lite­ra­ri­schen Analysen, die Roth­bergs Buch ausma­chen, ging das „multi­di­rek­tio­nale Gedächtnis“ sowohl als ein theo­re­ti­sches Para­digma als auch als empi­ri­scher Befund zur kultu­rellen Produk­tion der Nach­kriegs­zeit hervor.

Die meisten von Roth­bergs deut­schen Kriti­kern weigerten sich, diese Prämissen zu akzep­tieren, geschweige denn Roth­bergs lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­cher Argu­men­ta­tion zu folgen, obwohl sie zur Sicher­heit das Multi­di­rek­tio­nale Gedächtnis gleich zusammen mit dem Histo­riker Jürgen Zimmerer unter den Bus warfen. Einige haben nach­weis­lich die entspre­chenden Bücher nicht sorg­fältig oder nicht zu Ende gelesen, andere haben böswillig aus dem Zusam­men­hang gerissen zitiert, wieder andere haben einfach die falschen Zitate ihrer Kolleg*innen weiter verwurstet. Ein in dieser Hinsicht beson­ders markanter Seri­en­täter war Thomas Schmid. In seinem ersten Beitrag für die Welt beschei­nigte er Roth­berg „denkerische[n] Auto­ri­ta­rismus“ und verspot­tete ihn als „derzeitige[n] Guru eines von NGOs und Links­li­be­ralen getra­genen Kultur­mi­lieus“, ein Begriff, der deut­lich an die rechts­extreme Rede von einem „links-grün versifften Milieu“ erin­nert. Die Einsichten von Roth­bergs Multi­di­rek­tio­nalem Gedächtnis, die sich, so Schmid, bloß auf Erfah­rungen stützen, die „auf Papier, auf Gemälden und auf Film­rollen“ gemacht wurden, würden auf wenig mehr als „sozi­al­ar­bei­te­ri­sche Plattitüde[n]“ hinauslaufen.

Damit nicht genug, wieder­holte und verstärkte Schmid seine Behaup­tungen in einer Antwort auf einen Artikel von Zimmerer und Roth­berg in der ZEIT. Obwohl es schwierig war, die Thesen Letz­terer in Schmids Darstel­lung zu erkennen, warf er ihnen vor, in der Shoah „nur ein[en] Spezi­al­fall des Kolo­nia­lismus“ zu sehen. Beide haben explizit gegen eine solche Verqui­ckung argu­men­tiert. Roth­berg und Zimmerer spielten, so Schmid weiter, mit ihrer verglei­chenden Betrach­tungs­weise mit dem Feuer. Ausge­rechnet zwei Holocaust-Forschern warf er vor, sie nährten das Vorur­teil, dass der Holo­caust über­be­wertet werde – oder ihn zu verharm­losen, je nachdem: „Mancher­orts in den USA“ (man möchte wissen: wo?) „gilt es als ausge­macht, dass der Holo­caust einfach nur ein ‚white on white crime‘ war, also so wichtig nun auch wieder nicht.“

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Schmids Sicht­weise und einige seiner falschen Zuschrei­bungen wurden später auf der anderen Seite des Feuil­le­ton­spek­trums von Tania Martini über­nommen. In der taz beklagte auch sie die gefähr­li­chen Auswir­kungen der Post­co­lo­nial Studies, jenes schäd­li­chen akade­mi­schen Imports aus den USA. Kurio­ser­weise und kontrain­tuitiv bringt Martini zuerst Roth­berg mit diesem Import in Verbin­dung, um dann den Post­ko­lo­nia­lismus zu beschul­digen, einen Wett­be­werb um die Opfer­rolle zu führen – mit anderen Worten: genau die Art von kompe­ti­tiver Erin­ne­rungs­po­litik, gegen die Roth­berg vor über einem Jahr­zehnt Multi­di­rec­tional Memory geschrieben hat. Und ganz nebenbei diskre­di­tiert auch Martini die Arbeit von Literaturwissenschaftler*innen, die „von histo­ri­schen Spezi­fika ab[sehen] und Narra­tiven mehr Aufmerk­sam­keit schenk[en] als realer Geschichte oder poli­ti­schen Prozessen“. Andere Kritiken – von Clau­dius Seidl in der FAZ und Tobias Rapp im Spiegel – waren etwas nuan­cierter, obwohl auch ersterer Zimmerer falsch zitiert und Multi­di­rec­tional Memory dezi­diert gegen den Strich liest, wenn er mit einem Hauch von Genug­tuung schließt, dass „der Ameri­kaner Roth­berg“ uns „nicht von unserer deut­schen Verant­wor­tung entlasten“ wird.

Der Einfall der Barbaren

Wenn ich nur einige der eher extremen Beispiele heraus­ge­griffen habe, um daran zu erin­nern, wie das deut­sche Feuil­leton quer durch das poli­ti­sche Spek­trum als Reak­tion auf Roth­bergs Buch hyper­ven­ti­lierte, so deshalb, um Moses’ Stand­punkt zu unter­strei­chen. Arbeitet dieser mit dem Mittel der Über­trei­bung, so wird seine Rhetorik doch lesbar als Antwort auf die Über­trei­bungen und die unmiss­ver­ständ­liche Polemik der Debatte, auf die Moses reagiert. Diese mit dem Verweis auf einen zugrun­de­lie­genden Kate­chismus auf den Begriff zu bringen, ist das Verdienst seines Beitrags. Die Vehe­menz und Ausfäl­lig­keit einzelner Posi­tionen macht er dadurch als Ausdruck und Symptom einer gemein­samen Doxa kennt­lich, die es offenbar zu vertei­digen gilt. Offen bleibt für mich dabei die Frage, ob dieses Meinungs­kor­sett genau durch die fünf Punkte, die Moses aufzählt, erfasst wird, und ob es sich in diesen erschöpft. Viel­mehr denke ich, dass er auch einige andere Glau­bens­ar­tikel umfasst, die den Reak­tionen auf Mbembe, Roth­berg und Zimmerer zugrunde liegen. Wenn man die Kontro­verse neu bewertet, könnte man anfangen zu fragen, was in der Furore des deut­schen Feuil­le­tons wirk­lich auf dem Spiel stand.

Denn die Kritik ging zwei­fellos über die Beteue­rung der Singu­la­rität des Holo­causts hinaus, die im Mittel­punkt der Debatte zu stehen scheint, die aber weder Roth­berg noch Zimmerer jemals wirk­lich bestritten haben. Und so finden wir unter dem nicht immer ganz so edlen Furnier des gedie­genen Feuil­le­tons andere gemein­same Gründe für das Hände­ringen: post­ko­lo­niale Studien, Iden­ti­täts­po­litik und angeb­lich herab­ge­min­derte akade­mi­sche Stan­dards, die sich statt der hehren Wissen­schaft dem „Zeit­geist“ und dem „Akti­vismus“ verschrieben haben. Gemeinsam haben diese Gespenster, die da an die Wand gemalt werden, vor allem eines: ihre angeb­li­chen US-amerikanischen Ursprünge. Es ist hier nicht der Ort, um die Abwehr­re­ak­tionen zu entschlüs­seln (darunter jene von Wolf­gang Thierse und Horst Brede­kamp, aber auch einen latenten Anti-Amerikanismus, der diese Reak­tionen mit ähnli­chen Entwick­lungen in Frank­reich verbindet), die diese Begriffe in den aktu­ellen Debatten auslösen. Aber es ist zwei­fellos dieser gesamte Komplex, den Moses im Sinn hat, wenn er fest­stellt, dass „die alternde 68er-Generation den Einfluss der Post­co­lo­nial Studies als Einfall der Barbaren in Rom erlebt.“ Abhilfe ist nur zu erwarten von Formen der Nost­algie bis zur poli­ti­schen Reak­tion. Man braucht nur die ersten Zeilenvon Schmids böser Kritik zu lesen – wo er in einer Mischung aus Spott und entwaff­nender Selbst­ironie nost­al­gisch an die Allge­gen­wart des „Sarotti-Mohrs“ erin­nert –, um zu erkennen, wie sehr die Reak­tion von dem Wunsch getrieben ist, zu einem Status quo ante der „jungen Bundes­re­pu­blik“ zurück­zu­kehren, in der Schmid offenbar aufge­wachsen ist. Zwar räumt er ein, dass der Kolo­nia­lismus ein blinder Fleck in der deut­schen Erin­ne­rungs­land­schaft bleibt, aber die unter­schwel­lige Andeu­tung ist so offen­sicht­lich, als hätte er seinen Text mit ein paar Zeilen über den demo­gra­fi­schen Wandel ange­sichts der verstärkten Migra­tion eröffnet.

„Sieferle von links“ – rechts gelesen

Womit wir wieder bei der Sezes­sion wären, wo Martin Sellner den „Sieferle von links“-Tweet von Patrick Bahners aufge­griffen hat. Unter dem Titel „Post­ko­lo­niale Angriffe auf den ‚Auschwitz-Mythos‘“ greift Sellner die reli­giöse Symbolik von Dirk Moses auf, um den „rechten“ Weg zur Über­win­dung des vom neuen Kate­chismus einge­schärften „Schuld­kult zu weisen. Die Sezes­sion, so sollte man viel­leicht anmerken, ist nur ein Tentakel des „meta­po­li­ti­schen“ Projekts, das seit fast 20 Jahren vom kleinen Dorf Schnell­roda aus operiert, der Heimat des neurechten Vorzei­ge­paars Götz Kubit­schek und Ellen Kositza. Neben der Zeit­schrift mitsamt Blog gehören ein Verlag (Antaios), ein YouTube-Kanal, Podcasts sowie halb­jähr­lich statt­fin­dende „Akade­mien“ dazu, die von einem als „Institut für Staats­po­litik“ firmie­renden Think Tank orga­ni­siert werden, der nach wie vor vom Verfas­sungs­schutz über­wacht wird. Nichts­des­to­trotz haben Kubit­schek, Kositza, Sellner und Co. konti­nu­ier­lich versucht, ihren diskur­siven Fußab­druck zu vergrö­ßern, indem sie das vertraten, was manche einen „Gramscia­nismus der Rechten“ (pace Antonio Gramsci) genannt haben, und sogar ihren eigenen„konservativen Kate­chismus“ auf den Seiten der Sezes­sion verkün­deten. In diesem Kontext muss sich die Konstel­la­tion von Autoren, Argu­menten und Publi­ka­ti­ons­orten, die ich oben kurz skiz­ziert habe, für jemanden wie Sellner als unwi­der­steh­lich erwiesen haben. Und so kommt es, dass wir uns gewis­ser­maßen an der Schnitt­stelle von progres­siven und reak­tio­nären Debatten befinden, in jenem selt­samen Raum eines Mengen­dia­gramms, in dem sich die Leser­schaft von Geschichte der Gegen­wart mit der von Sezes­sion zu über­schneiden scheint.

Sellner applau­diert Moses’ „scharfer Analyse“, da er und seines­glei­chen dessen „klar formu­lierte These“ über die Zentra­lität der Holocaust-Erinnerung für die mora­li­schen Grund­lagen der Bundes­re­pu­blik teilen. Ebenso zitiert Sellner zustim­mend aus Roth­bergs und Zimme­rers Artikel in DIE ZEIT, wo sie die „Entta­bui­sie­rung des Vergleichs“ fordern und die „ritua­li­sierten Postu­late“ einer provin­zia­li­sierten deut­schen Erin­ne­rungs­kultur kriti­sieren. Viel Raum, mehrere Sieferle-Zitate und ein Adorno-Zitat widmet Sellner auch der weiteren Unter­maue­rung des reli­giösen Charak­ters der deut­schen „Schuld-Erzählung“, wozu er auch genüss­lich auf Moses‘ Rede vom „heiligen Trauma“ zurückgreift.

Doch gerade im Hinblick auf die Analogie, die Moses mit der Wahl seiner Meta­phern zwei­fellos gelie­fert hat, muss man fest­halten, dass die Paral­lelen genau hier enden. Denn wo Moses den Kate­chismus im Namen größerer Diffe­ren­zie­rung kriti­siert, wo Roth­berg und Zimmerer zu mehr Multi­di­rek­tio­na­lität und Vergleich aufrufen, plädieren die Rechts­extremen für seine völlige Abschaf­fung als der einzigen Möglich­keit, die Deut­schen von der Last der Schuld zu befreien. Für sie liegt das Problem weder in der Singu­la­ri­täts­these noch in der Ritua­li­sie­rung der Holocaust-Erinnerung an sich, sondern in deren „psycho­lo­gi­schen und poli­ti­schen Auswir­kungen auf das deut­sche Volk.“ Das Ziel der Kritik ist folg­lich nicht Inklu­sion, Aner­ken­nung oder Soli­da­rität über mehrere Iden­ti­täts­gruppen hinweg, sondern ethno­na­tio­na­lis­ti­sche Eingren­zung. Sellner stimmt auf den ersten Blick mit der These eines Kate­chismus überein, der das Leben der Deut­schen regle, windet sich aber zu Schluss­fol­ge­rungen durch, die sowohl dem Buch­staben als auch dem Geist von Moses’ Inter­ven­tion diame­tral entge­gen­stehen. Denn während für Moses der Kate­chismus es erfor­der­lich macht, diesem ein „inklu­sives Denken“ entge­gen­zu­setzen, so versteht ihn Sellner nur hinsicht­lich seiner angeb­lich „unaus­weich­li­chen Konse­quenzen“, nämlich „den Austausch der Bevöl­ke­rung durch Ersatz­mi­gra­tion sowie die routi­ne­mä­ßige, gezielte Trau­ma­ti­sie­rung der einhei­mi­schen Jugend“ (womit er vermut­lich „Biodeut­sche“ meint). Moses, Roth­berg und Zimmerer wollen eine andere Erin­ne­rungs­kultur, Sieferle und Sellner wollen keine.

Der Schnellroda-Chic

Was Letz­tere aber anstreben, ist eben das, was Roth­bergs und Zimme­rers Kritiker letzt­lich forderten: weniger Multi­kul­tu­ra­lismus, keine Post­co­lo­nial Studies, und lasst uns bitte mit eurer Iden­ti­täts­po­litik in Ruhe (wir haben unsere eigene). In Sell­ners kaum verhüllter völki­scher Sprache gehen diese Tendenzen Hand in Hand mit der Vorstel­lung eines pauschalen Schuld­nar­ra­tivs als dem eigent­li­chen Verhängnis des „Volkes“ (er nennt das „Ethno­ma­so­chismus“). Demge­gen­über versucht er, einen „iden­ti­tären Umgang mit Anti­se­mi­tismus, Holo­caust, Shoah und Kolo­nia­lismus“ heraus­zu­ar­beiten. Während Moses ihm dafür einige Begriffe gelie­fert haben mag, ist Sell­ners ideo­lo­gi­sche Ausrich­tung letzt­lich, wenn auch kontrain­tuitiv, auf einer Linie mit eben­jenen „Pries­tern“, die Moses wegen ihrer Kontroll­funk­tion heraus­ge­for­dert hatte.

Wie Fabian Wolff in seinem langen, nach­denk­li­chen Essay für Die Zeit fest­stellte, ist das Muster nicht neu, auch wenn einige der Begriffe es sind. „Diese weiße Mehr­heits­ge­sell­schaft ist nämlich schon seit Jahren damit beschäf­tigt, rechtes, ja völki­sches Gedan­kengut in die Mitte zu holen, auf links zu zeigen, um über rechts zu schweigen, und sich lieber von Schnellroda-Chic anfixen zu lassen, statt ihn zu bekämpfen.“ Es ist das Verdienst von Dirk Moses, dass er genau auf diese Mitte hinweist, dass er offen­legt, wie sehr der Schnellroda-Chic bereits einige Ecken des Feuil­le­tons färbt, und dass er uns zwingt, uns zu fragen, wann selbst ernannte libe­rale Kritik in das völkisch-identitäre Gefasel der Sezes­sion über­geht.

 

Über­set­zung: Philipp Sarasin
Dieser für die Über­set­zung etwas gekürzte und vom Autor noch leicht über­ar­bei­tete Text erschien zuerst auf dem New Fascism Syllabus, wo die Diskus­sion über den Essay von A. Dirk Moses im angel­säch­si­schen Raum geführt wird.