Der Essay von Dirk Moses auf Geschichte der Gegenwart hat einen Nerv getroffen – was Polemiken üblicherweise auch tun. Kaum vorstellbar, dass eine Neuschreibung von Kleists politischer Kampfschrift „Katechismus der Deutschen“ (1809) mit einem Fünf-Punkte-Programm für einen „öffentlichen Exorzismus“ nicht in erster Linie als Provokation gedacht war und mit ebenjener „moralischen Hybris“ kokettiert, die Moses der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik vorwirft. Indem er sich stark an die Sprache der Religion und der Häresie anlehnt, stattet er seinen neuen „Deutschen Katechismus“ mit der Macht klerikaler Dogmen aus, die von den „Hohepriestern“ eines erlösenden Philosemitismus verkündet werden. Mit Hilfe ihrer „priesterlichen Zensoren“ halten diese Hüter der Unvergleichbarkeit die deutsche Bevölkerung bei der Stange, indem sie das „heilige Trauma“ des Holocausts vor der Kontamination durch andere Erinnerungen schützen.
Das alles klingt einigermaßen dystopisch und ziemlich überzogen, was den Historiker Volker Weiß dazu veranlasst, in Moses’ Text nichts weiter als einen „ressentimentgeladenen Wust“ zu sehen, dem die Kenntnis der einschlägigen Debatten fehle. Damit greift er zwar zu kurz, was ihm nicht zuletzt ein Blick auf Moses‘ Publikationen und eigenen Debattenbeiträge gezeigt hätte; doch weiß Weiß besser als andere, was auf dem Spiel steht: Die Rede vom Gedenkkatechismus liest sich auf den ersten Blick allzu leicht wie eine Deklination neurechter Positionen zum „Schuldkult“ in der Bundesrepublik. Ist Moses also als ein „Sieferle von links“ einzuordnen, wie Patrick Bahners auf Twitter witzelte?
Eine heftige Debatte
Zwar lenkt auch diese flotte Analogie, wie noch zu zeigen sein wird, vom Kern der Debatte ab, doch sie steht im Raum und beansprucht Aufmerksamkeit. An anderer Stelle hat Helmut Walser Smith die Implikationen der offensichtlichen Anklänge zwischen Moses’ religiöser Rhetorik und der reaktionären Kritik des „Auschwitz-Mythos“ (Sieferles Begriff und Anführungszeichen) detailliert dargelegt; auch Martin Walsers ähnlich berüchtigte Etikettierung von Auschwitz als „Moralkeule“ klingt an. Ungeachtet der divergierenden politischen Ausrichtungen, die ihnen zugrunde liegen, riskieren diese Resonanzen, Moses in eine bedenkliche Nähe zum intellektuellen Diskurs der deutschen extremen Rechten zu rücken.
Und so griff diese ihrerseits Bahners’ Sieferle-Tweet schadenfroh auf, um damit auf dem hauseigenen Blog zu punkten. So kommt es, dass in der rechten Sezession der Führer der österreichischen Identitären Bewegung eine Glosse über einen Artikel schreibt, den ein in den USA lebender australischer Deutschlandhistoriker in der Schweizer Online-Zeitschrift Geschichte der Gegenwart veröffentlicht hat. Auf diese kuriose kultur-politische Konstellation werde ich weiter unten zurückkommen, aber zunächst möchte ich eine Bestandsaufnahme machen – nicht nur zum aktuellen Stand der Debatte, sondern auch zu einigen bislang unterbelichteten Aspekten, die meines Erachtens aber für das Verständnis der hier verhandelten politischen Bruchlinien wesentlich sind.
Neben schnellen und scharfen Reaktionen hat Moses’ „Katechismus“-Text auch diverse wohl- oder bessermeinende Kritiker gefunden, die meisten von ihnen auf dem Blog des New Fascism Syllabus. Einige seiner erklärten Absichten anerkennend plädieren sie für mehr Ausgewogenheit und scheinen alle zu einer gewissen Mäßigung und zu größerer Differenzierung aufzurufen (allein, wie führt man eine gemäßigte Polemik…?). Bislang handelt es sich dabei – bis auf die Soziologinnen Zoé Samudzi und Paula Villa Braslavsky – ausschließlich um Historiker, die darum bemüht scheinen, den Zeitdiagnostiker Moses wieder an die Regeln der Zunft zu erinnern. Indem sie ihn auffordern, die deutsche Erinnerungsgeschichte sorgfältiger zu betrachten, verweisen sie den Kollegen in die disziplinären Schranken.
Der „Historikerstreit 2.0“
Das hat alles durchaus seine Berechtigung. Die Kritiken der Fachkollegen und die verschiedenen historischen Perspektiven, die sie einbringen, sind selbstverständlich ebenso willkommen wie die Debatte selbst – solange wir darüber nicht auch deren andere, möglicherweise näherliegende Anlässe und Ursachen aus dem Blick verlieren. Schließlich wurde Moses’ Intervention explizit als Reaktion auf die Mbembe-Affäre im letzten Jahr verfasst wie auch auf die giftigen Bosheiten, die Anfang dieses Jahres in den Feuilletons der deutschen Übersetzung von Michael Rothbergs Buch Multidirectional Memory entgegengeschleudert wurden. Wie in diesen Debatten deutlich wurde – einem „Historikerstreit 2.0“, der nun auf neue politische Polaritäten ausgerichtet ist –, trat die Geschichte, und in der Tat auch die Geschichtswissenschaft, zuweilen weit hinter Meinungsmache und politisches Imponiergehabe zurück. Zudem ging und geht es bei der Frage nach dem Gedenken auch deswegen nur zweitrangig um ein historisches Verständnis der Vergangenheit, als die Erinnerung als öffentlicher Akt immer in der Gegenwart stattfindet. Deren politische Ausrichtung und Vereinnahmung sind es, die auf dem Spiel stehen.
Das alles soll nicht heißen, dass die in der Diskussion um den Text von Dirk Moses vorgebrachten historischen Korrekturen unwesentlich oder gar unangebracht wären. Aber es soll uns daran erinnern, dass, zumindest im Fall von Rothberg, die Begriffe in dieser Debatte nicht in erster Linie durch historische, sondern durch literaturwissenschaftliche Forschungen zum Verhältnis von fiktionaler Literatur und Gedächtnis bestimmt wurden. Diese Tatsache wurde in den Reaktionen auf die Übersetzung von Multidirectional Memory freilich allzu oft ausgeblendet – Rothberg musste seine Kritiker immer wieder daran erinnern, dass er von Haus aus Literaturwissenschaftler und Komparatist und kein Historiker ist (was Habermas übrigens auch nicht war). Und er musste sich mehr als einmal bizarrerweise dafür verteidigen, dass er die Arbeit eines Geisteswissenschaftlers macht: Dass er Fragen so stellt und beantwortet, wie sie ihm in der Literatur, in der Malerei und im Film entgegentreten – in ästhetischen Formen und Medien mithin, in denen sie oft am prägnantesten zur Darstellung kommen. Aus den literarischen Analysen, die Rothbergs Buch ausmachen, ging das „multidirektionale Gedächtnis“ sowohl als ein theoretisches Paradigma als auch als empirischer Befund zur kulturellen Produktion der Nachkriegszeit hervor.
Die meisten von Rothbergs deutschen Kritikern weigerten sich, diese Prämissen zu akzeptieren, geschweige denn Rothbergs literaturwissenschaftlicher Argumentation zu folgen, obwohl sie zur Sicherheit das Multidirektionale Gedächtnis gleich zusammen mit dem Historiker Jürgen Zimmerer unter den Bus warfen. Einige haben nachweislich die entsprechenden Bücher nicht sorgfältig oder nicht zu Ende gelesen, andere haben böswillig aus dem Zusammenhang gerissen zitiert, wieder andere haben einfach die falschen Zitate ihrer Kolleg*innen weiter verwurstet. Ein in dieser Hinsicht besonders markanter Serientäter war Thomas Schmid. In seinem ersten Beitrag für die Welt bescheinigte er Rothberg „denkerische[n] Autoritarismus“ und verspottete ihn als „derzeitige[n] Guru eines von NGOs und Linksliberalen getragenen Kulturmilieus“, ein Begriff, der deutlich an die rechtsextreme Rede von einem „links-grün versifften Milieu“ erinnert. Die Einsichten von Rothbergs Multidirektionalem Gedächtnis, die sich, so Schmid, bloß auf Erfahrungen stützen, die „auf Papier, auf Gemälden und auf Filmrollen“ gemacht wurden, würden auf wenig mehr als „sozialarbeiterische Plattitüde[n]“ hinauslaufen.
Damit nicht genug, wiederholte und verstärkte Schmid seine Behauptungen in einer Antwort auf einen Artikel von Zimmerer und Rothberg in der ZEIT. Obwohl es schwierig war, die Thesen Letzterer in Schmids Darstellung zu erkennen, warf er ihnen vor, in der Shoah „nur ein[en] Spezialfall des Kolonialismus“ zu sehen. Beide haben explizit gegen eine solche Verquickung argumentiert. Rothberg und Zimmerer spielten, so Schmid weiter, mit ihrer vergleichenden Betrachtungsweise mit dem Feuer. Ausgerechnet zwei Holocaust-Forschern warf er vor, sie nährten das Vorurteil, dass der Holocaust überbewertet werde – oder ihn zu verharmlosen, je nachdem: „Mancherorts in den USA“ (man möchte wissen: wo?) „gilt es als ausgemacht, dass der Holocaust einfach nur ein ‚white on white crime‘ war, also so wichtig nun auch wieder nicht.“
Schmids Sichtweise und einige seiner falschen Zuschreibungen wurden später auf der anderen Seite des Feuilletonspektrums von Tania Martini übernommen. In der taz beklagte auch sie die gefährlichen Auswirkungen der Postcolonial Studies, jenes schädlichen akademischen Imports aus den USA. Kurioserweise und kontraintuitiv bringt Martini zuerst Rothberg mit diesem Import in Verbindung, um dann den Postkolonialismus zu beschuldigen, einen Wettbewerb um die Opferrolle zu führen – mit anderen Worten: genau die Art von kompetitiver Erinnerungspolitik, gegen die Rothberg vor über einem Jahrzehnt Multidirectional Memory geschrieben hat. Und ganz nebenbei diskreditiert auch Martini die Arbeit von Literaturwissenschaftler*innen, die „von historischen Spezifika ab[sehen] und Narrativen mehr Aufmerksamkeit schenk[en] als realer Geschichte oder politischen Prozessen“. Andere Kritiken – von Claudius Seidl in der FAZ und Tobias Rapp im Spiegel – waren etwas nuancierter, obwohl auch ersterer Zimmerer falsch zitiert und Multidirectional Memory dezidiert gegen den Strich liest, wenn er mit einem Hauch von Genugtuung schließt, dass „der Amerikaner Rothberg“ uns „nicht von unserer deutschen Verantwortung entlasten“ wird.
Der Einfall der Barbaren
Wenn ich nur einige der eher extremen Beispiele herausgegriffen habe, um daran zu erinnern, wie das deutsche Feuilleton quer durch das politische Spektrum als Reaktion auf Rothbergs Buch hyperventilierte, so deshalb, um Moses’ Standpunkt zu unterstreichen. Arbeitet dieser mit dem Mittel der Übertreibung, so wird seine Rhetorik doch lesbar als Antwort auf die Übertreibungen und die unmissverständliche Polemik der Debatte, auf die Moses reagiert. Diese mit dem Verweis auf einen zugrundeliegenden Katechismus auf den Begriff zu bringen, ist das Verdienst seines Beitrags. Die Vehemenz und Ausfälligkeit einzelner Positionen macht er dadurch als Ausdruck und Symptom einer gemeinsamen Doxa kenntlich, die es offenbar zu verteidigen gilt. Offen bleibt für mich dabei die Frage, ob dieses Meinungskorsett genau durch die fünf Punkte, die Moses aufzählt, erfasst wird, und ob es sich in diesen erschöpft. Vielmehr denke ich, dass er auch einige andere Glaubensartikel umfasst, die den Reaktionen auf Mbembe, Rothberg und Zimmerer zugrunde liegen. Wenn man die Kontroverse neu bewertet, könnte man anfangen zu fragen, was in der Furore des deutschen Feuilletons wirklich auf dem Spiel stand.
Denn die Kritik ging zweifellos über die Beteuerung der Singularität des Holocausts hinaus, die im Mittelpunkt der Debatte zu stehen scheint, die aber weder Rothberg noch Zimmerer jemals wirklich bestritten haben. Und so finden wir unter dem nicht immer ganz so edlen Furnier des gediegenen Feuilletons andere gemeinsame Gründe für das Händeringen: postkoloniale Studien, Identitätspolitik und angeblich herabgeminderte akademische Standards, die sich statt der hehren Wissenschaft dem „Zeitgeist“ und dem „Aktivismus“ verschrieben haben. Gemeinsam haben diese Gespenster, die da an die Wand gemalt werden, vor allem eines: ihre angeblichen US-amerikanischen Ursprünge. Es ist hier nicht der Ort, um die Abwehrreaktionen zu entschlüsseln (darunter jene von Wolfgang Thierse und Horst Bredekamp, aber auch einen latenten Anti-Amerikanismus, der diese Reaktionen mit ähnlichen Entwicklungen in Frankreich verbindet), die diese Begriffe in den aktuellen Debatten auslösen. Aber es ist zweifellos dieser gesamte Komplex, den Moses im Sinn hat, wenn er feststellt, dass „die alternde 68er-Generation den Einfluss der Postcolonial Studies als Einfall der Barbaren in Rom erlebt.“ Abhilfe ist nur zu erwarten von Formen der Nostalgie bis zur politischen Reaktion. Man braucht nur die ersten Zeilenvon Schmids böser Kritik zu lesen – wo er in einer Mischung aus Spott und entwaffnender Selbstironie nostalgisch an die Allgegenwart des „Sarotti-Mohrs“ erinnert –, um zu erkennen, wie sehr die Reaktion von dem Wunsch getrieben ist, zu einem Status quo ante der „jungen Bundesrepublik“ zurückzukehren, in der Schmid offenbar aufgewachsen ist. Zwar räumt er ein, dass der Kolonialismus ein blinder Fleck in der deutschen Erinnerungslandschaft bleibt, aber die unterschwellige Andeutung ist so offensichtlich, als hätte er seinen Text mit ein paar Zeilen über den demografischen Wandel angesichts der verstärkten Migration eröffnet.
„Sieferle von links“ – rechts gelesen
Womit wir wieder bei der Sezession wären, wo Martin Sellner den „Sieferle von links“-Tweet von Patrick Bahners aufgegriffen hat. Unter dem Titel „Postkoloniale Angriffe auf den ‚Auschwitz-Mythos‘“ greift Sellner die religiöse Symbolik von Dirk Moses auf, um den „rechten“ Weg zur Überwindung des vom neuen Katechismus eingeschärften „Schuldkult“ zu weisen. Die Sezession, so sollte man vielleicht anmerken, ist nur ein Tentakel des „metapolitischen“ Projekts, das seit fast 20 Jahren vom kleinen Dorf Schnellroda aus operiert, der Heimat des neurechten Vorzeigepaars Götz Kubitschek und Ellen Kositza. Neben der Zeitschrift mitsamt Blog gehören ein Verlag (Antaios), ein YouTube-Kanal, Podcasts sowie halbjährlich stattfindende „Akademien“ dazu, die von einem als „Institut für Staatspolitik“ firmierenden Think Tank organisiert werden, der nach wie vor vom Verfassungsschutz überwacht wird. Nichtsdestotrotz haben Kubitschek, Kositza, Sellner und Co. kontinuierlich versucht, ihren diskursiven Fußabdruck zu vergrößern, indem sie das vertraten, was manche einen „Gramscianismus der Rechten“ (pace Antonio Gramsci) genannt haben, und sogar ihren eigenen„konservativen Katechismus“ auf den Seiten der Sezession verkündeten. In diesem Kontext muss sich die Konstellation von Autoren, Argumenten und Publikationsorten, die ich oben kurz skizziert habe, für jemanden wie Sellner als unwiderstehlich erwiesen haben. Und so kommt es, dass wir uns gewissermaßen an der Schnittstelle von progressiven und reaktionären Debatten befinden, in jenem seltsamen Raum eines Mengendiagramms, in dem sich die Leserschaft von Geschichte der Gegenwart mit der von Sezession zu überschneiden scheint.
Sellner applaudiert Moses’ „scharfer Analyse“, da er und seinesgleichen dessen „klar formulierte These“ über die Zentralität der Holocaust-Erinnerung für die moralischen Grundlagen der Bundesrepublik teilen. Ebenso zitiert Sellner zustimmend aus Rothbergs und Zimmerers Artikel in DIE ZEIT, wo sie die „Enttabuisierung des Vergleichs“ fordern und die „ritualisierten Postulate“ einer provinzialisierten deutschen Erinnerungskultur kritisieren. Viel Raum, mehrere Sieferle-Zitate und ein Adorno-Zitat widmet Sellner auch der weiteren Untermauerung des religiösen Charakters der deutschen „Schuld-Erzählung“, wozu er auch genüsslich auf Moses‘ Rede vom „heiligen Trauma“ zurückgreift.
Doch gerade im Hinblick auf die Analogie, die Moses mit der Wahl seiner Metaphern zweifellos geliefert hat, muss man festhalten, dass die Parallelen genau hier enden. Denn wo Moses den Katechismus im Namen größerer Differenzierung kritisiert, wo Rothberg und Zimmerer zu mehr Multidirektionalität und Vergleich aufrufen, plädieren die Rechtsextremen für seine völlige Abschaffung als der einzigen Möglichkeit, die Deutschen von der Last der Schuld zu befreien. Für sie liegt das Problem weder in der Singularitätsthese noch in der Ritualisierung der Holocaust-Erinnerung an sich, sondern in deren „psychologischen und politischen Auswirkungen auf das deutsche Volk.“ Das Ziel der Kritik ist folglich nicht Inklusion, Anerkennung oder Solidarität über mehrere Identitätsgruppen hinweg, sondern ethnonationalistische Eingrenzung. Sellner stimmt auf den ersten Blick mit der These eines Katechismus überein, der das Leben der Deutschen regle, windet sich aber zu Schlussfolgerungen durch, die sowohl dem Buchstaben als auch dem Geist von Moses’ Intervention diametral entgegenstehen. Denn während für Moses der Katechismus es erforderlich macht, diesem ein „inklusives Denken“ entgegenzusetzen, so versteht ihn Sellner nur hinsichtlich seiner angeblich „unausweichlichen Konsequenzen“, nämlich „den Austausch der Bevölkerung durch Ersatzmigration sowie die routinemäßige, gezielte Traumatisierung der einheimischen Jugend“ (womit er vermutlich „Biodeutsche“ meint). Moses, Rothberg und Zimmerer wollen eine andere Erinnerungskultur, Sieferle und Sellner wollen keine.
Der Schnellroda-Chic
Was Letztere aber anstreben, ist eben das, was Rothbergs und Zimmerers Kritiker letztlich forderten: weniger Multikulturalismus, keine Postcolonial Studies, und lasst uns bitte mit eurer Identitätspolitik in Ruhe (wir haben unsere eigene). In Sellners kaum verhüllter völkischer Sprache gehen diese Tendenzen Hand in Hand mit der Vorstellung eines pauschalen Schuldnarrativs als dem eigentlichen Verhängnis des „Volkes“ (er nennt das „Ethnomasochismus“). Demgegenüber versucht er, einen „identitären Umgang mit Antisemitismus, Holocaust, Shoah und Kolonialismus“ herauszuarbeiten. Während Moses ihm dafür einige Begriffe geliefert haben mag, ist Sellners ideologische Ausrichtung letztlich, wenn auch kontraintuitiv, auf einer Linie mit ebenjenen „Priestern“, die Moses wegen ihrer Kontrollfunktion herausgefordert hatte.
Wie Fabian Wolff in seinem langen, nachdenklichen Essay für Die Zeit feststellte, ist das Muster nicht neu, auch wenn einige der Begriffe es sind. „Diese weiße Mehrheitsgesellschaft ist nämlich schon seit Jahren damit beschäftigt, rechtes, ja völkisches Gedankengut in die Mitte zu holen, auf links zu zeigen, um über rechts zu schweigen, und sich lieber von Schnellroda-Chic anfixen zu lassen, statt ihn zu bekämpfen.“ Es ist das Verdienst von Dirk Moses, dass er genau auf diese Mitte hinweist, dass er offenlegt, wie sehr der Schnellroda-Chic bereits einige Ecken des Feuilletons färbt, und dass er uns zwingt, uns zu fragen, wann selbst ernannte liberale Kritik in das völkisch-identitäre Gefasel der Sezession übergeht.
Übersetzung: Philipp Sarasin
Dieser für die Übersetzung etwas gekürzte und vom Autor noch leicht überarbeitete Text erschien zuerst auf dem New Fascism Syllabus, wo die Diskussion über den Essay von A. Dirk Moses im angelsächsischen Raum geführt wird.