In der Schweizer Politik klaffen institutionelle und strategische Handlungslogiken zunehmend auseinander. Die auf Verhandlung und Kompromissen basierende Konkordanzdemokratie wird von der polarisierenden direkten Demokratie immer mehr ausgehebelt. Die Unberechenbarkeit der Politik bedroht die Reformfähigkeit der Schweiz.

  • Silja Häusermann

    Silja Häusermann ist Profes­sorin für Politik­wissen­schaft an der Uni­versi­tät Zürich. Ihre Forschungs­schwer­punkte liegen in der ver­glei­chen­den Wohl­fahrts­staaten­forschung, der Verglei­­chenden politi­schen Ökono­mie und der Forschung zu Parteien- und Verbände­systemen der Schweizer Politik.

Zwei Merk­male kenn­zeichnen das poli­ti­sche System der Schweiz im inter­na­tio­nalen Vergleich: die Konkor­danz und die direkte Demo­kratie. Inter­es­san­ter­weise beruhen diese beiden Spezi­fika auf gegen­sätz­li­chen Logiken der Entschei­dungs­fin­dung. Die Konkor­danz­de­mo­kratie äussert sich in ausge­prägter Macht­tei­lung und steter Verhand­lung: Die stabile grosse Regie­rungs­ko­ali­tion, das Proporz­system und der Inter­es­sens­aus­gleich mit Verbänden und Kantonen sind nur einige, beson­ders sicht­bare Elemente dieser Konkor­d­anz­logik. Die Entschei­dungs­pro­zesse sind lang und inklusiv und sie führen zu mode­raten, breit abge­stützten und austa­rierten Entscheidungen.

Die direkte Demo­kratie funk­tio­niert grund­le­gend anders: Eine kleine Minder­heit der Bevöl­ke­rung kann zwin­gende direkt­de­mo­kra­ti­sche Abstim­mungen verlangen, welche per einfa­cher Mehr­heit der Stim­menden (im Fall der Refe­renden) oder per Mehr­heits­ent­scheid der Stim­menden und der Kantone (im Fall von Volks­ab­stim­mungen) verbind­liche Entscheide fällen.

Ein wider­sprüch­li­ches poli­ti­sches System

Diese struk­tu­relle Wider­sprüch­lich­keit prägt das poli­ti­sche System der Schweiz latent seit dem späten 19. Jahr­hun­dert, als das fakul­ta­tive Geset­zes­re­fe­rendum (1874) und die Verfas­sungs­in­itia­tive (1891) einge­führt und eben­falls die erste Koali­ti­ons­re­gie­rung gebildet wurde: Auf der einen Seite funk­tio­niert die Konkor­danz nach dem Konsens­prinzip, und auf der anderen Seite die direkte Demo­kratie nach dem Mehr­heits­prinzip in Volks­ab­stim­mungen. Die Konkor­danz­de­mo­kratie bringt wenig spek­ta­ku­läre, aber bere­chen­bare und breit abge­stützte poli­ti­sche Entschei­dungen hervor, während die direkte Demo­kratie wohl muti­gere, aber auch weniger konsis­tente Entscheide begünstigt.

Bundes­haus, Bern, Vestibül 1. Stock; Quelle: wikipedia.com

Die Vorteile der Konkor­d­anz­logik liegen vor allem aus ökono­mi­scher Perspek­tive auf der Hand: Die Schweiz ist eine kleine, offene Volks­wirt­schaft, die auf Gedeih und Verderb von den inter­na­tio­nalen Märkten abhängt. Der Polit­ökonom Peter Katzen­stein hat schon 1985 gezeigt, dass solche „smopec“ (small open econo­mies) durchs Band ausge­prägt verhand­lungs­ba­sierte Entschei­dungs­pro­zesse kennen. Die Schweiz galt für Katzen­stein sogar als Extrem­fall dieser wirt­schafts­po­li­tisch bedingten Konkor­danz. Aus wirt­schaft­li­cher Sicht ist diese Bere­chen­bar­keit in „smopec“ zentral, weil diese Länder ökono­misch nur prospe­rieren können, wenn ihre Produ­zenten in der Lage sind, flexibel und prag­ma­tisch auf die Schwan­kungen der inter­na­tio­nalen Märkte zu reagieren, und wenn sie sicher sein können, in einem stabilen, bere­chen­baren poli­ti­schen Umfeld zu agieren.

Konkret bedeutet das, dass sie z.B. die Sozi­al­part­ner­schaft zwischen Gewerk­schaften und Arbeit­ge­bern benö­tigen, einen flexi­blen Arbeits­markt, eine stabile Geld­po­litik und Konti­nuität in der Regie­rungs­po­litik. Das Konkor­d­anz­system der Schweiz hat genau diese Erfor­der­nisse erfüllt. Alle grös­seren Parteien, Gewerk­schaften und Arbeit­ge­ber­ver­bände haben, in einem komplexen System der Austa­rie­rung von Inter­essen, poli­ti­sche Entscheide gemeinsam gefällt und getragen, auch gegen­über dem Volk. Inso­fern ist jedes zu Stande gekom­mene Refe­rendum, das eine Geset­zes­vor­lage des Parla­ments an die Urne bringt, und jede Volks­in­i­ta­tive, die ein Anliegen gegen die Entschei­dungs­träger aufbringt, ein Zeichen des Versa­gens dieser Verhandlungsdemokratie.

Die Bändi­gung der direkten Demo­kratie durch Verhandlung…

Sitzungs­zimmer der Bundes­prä­si­den­tenin, Bundes­haus, Bern; Quelle: admin.ch

Dieser Gedanke gilt auch im Umkehr­schluss: Wenn nur wenige Refe­renden und Initia­tiven ergriffen werden, ist das ein Zeichen für das gute Funk­tio­nieren der Konkor­danz­de­mo­kratie. Die Verhand­lungs­de­mo­kratie ist – oder zumin­dest war – denn auch fraglos ein Instru­ment der Vermei­dung direkt­de­mo­kra­ti­scher Mobi­li­sie­rung. Denn wenn ein Refe­rendum einmal zustande gekommen ist, ist der Ausgang der Abstim­mung höchst unge­wiss, weil die Karten neu gemischt werden: Es findet keine eigent­liche Deli­be­ra­tion (wie im Parla­ment) mehr statt, und es greifen neue Argu­mente und Entschei­dungs­lo­giken, wie etwa die Poli­tik­wis­sen­schaftler Pascal Scia­rini und Alex­ander Trechsel in ihrer Studie „Direct demo­cracy in switz­er­land: do elites matter?“ (1998) und Yannis Papado­poulos in seinem Buch Démo­cratie Directe (1998) zeigen. Inso­fern zeigt jedes ergrif­fene Refe­rendum, dass die Verhand­lungs­de­mo­kratie versagt hat: eine oder mehrere poli­ti­sche Parteien oder Verbände können oder wollen einen erzielten Kompro­miss nicht mittragen, oder es wurde gar kein Kompro­miss erzielt.  Ähnli­ches gilt für die Volks­in­itia­tive. Diese wäre eigent­lich als Instru­ment mino­ri­tärer, von der Verhand­lung ausge­schlos­sener Inter­essen zu verstehen, die punk­tuell – und quasi in Oppo­si­tion zu Bundesrat und Parla­ment – Anliegen in den poli­ti­schen Entschei­dungs­pro­zess einbringen können, der ihnen sonst verschlossen bleibt.

… funk­tio­niert nicht mehr

Von dieser eigent­li­chen Funk­tion sind Initia­tive und Refe­rendum heute aller­dings weit entfernt. Die Instru­mente der direkten Demo­kratie werden immer mehr von den glei­chen Akteuren benutzt, die bereits im Konkor­d­anz­system am Verhand­lungs­tisch sitzen und die eigent­lich viel­fäl­tige andere Kanäle hätten, ihre Inter­essen einzu­bringen und ihre Verhand­lungs­partner von ihren Anliegen zu über­zeugen. Am deut­lichsten ist dieser Funk­ti­ons­wandel der direkten Demo­kratie für den Fall der vier in einer grossen Koali­ti­tion vereinten Schweizer Regie­rungs­par­teien. Seit der Einfüh­rung der soge­nannten „Zauber­formel“ 1959, mit der die – mit nur geringen Schwan­kungen – bis heute gültige partei­pol­ti­sche Macht­tei­lung im Bundesrat bestimmt wird, hat sich der Gebrauch der Volks­in­itia­tive durch die Parteien drama­tisch verän­dert. In den 1960er, 70er und 80er Jahren wurden pro Jahr­zehnt jeweils nur gerade vier Initia­tiven von Regie­rungs­par­teien lanciert. In den 1990er Jahren waren es deren sieben – und zwischen 2000 und 2011 über 20, worauf der Poli­tik­wis­sen­schaftler Lucas Leemann 2015 hinwies.

Mediale Pola­ri­sie­rung: Roger Scha­winski im Streit mit dem rechts­na­tio­nalen Kaba­ret­tisten Andreas Thiel, 15.12.2014; Quelle: YouTube.com

Diese vermehrte Nutzung der direkten Demo­kratie ist ein Symptom für das zuneh­mende Versagen der Konkor­danz­de­mo­kratie. Worauf ist dieses Versagen zurück­zu­führen? Es ist das Resultat einer drama­tisch ange­stie­genen Partei­po­la­ri­sie­rung. Partei­po­la­ri­sie­rung meint die Distanz zwischen den Partei­po­si­tionen. Diese Distanz kann mittels verschie­dener Daten gemessen werden, z.B. anhand des Abstim­mungs­ver­hal­tens im Parla­ment, anhand von Partei­pro­grammen, Exper­ten­ein­schät­zungen oder anhand von Umfragen bei den Kandi­die­renden der Parteien selber.  Unab­hängig davon welche Daten­quelle benutzt wird, kommen alle Studien zu den glei­chen zwei Schlüssen : Erstens ist die Pola­ri­sie­rung der Parteien in der Schweiz in den letzten 30 Jahren sehr stark ange­stiegen, und zwei­tens gehört die Schweiz mitt­ler­weile zu den am stärksten pola­ri­sierten Partei­sys­temen in ganz Europa.

Die Schweizer Parteien stehen in einem scharfen und akuten Partei­wett­be­werb und sie benutzen die direkte Demo­kratie als Instru­ment in diesem Wett­be­werb. Deshalb benutzen mitt­ler­weile sogar alle Bundes­rats­par­teien die direkte Demo­kratie – ganz so, als ob sie in der Oppo­si­tion wären. Der Anteil an Volks­in­itia­tiven, zu denen alle vier Regie­rungs­par­teien die gleiche Abstim­mungs­emp­feh­lung abgeben, ist seit den 1970er Jahren von 80% auf heute 10% gesunken, wie der Poli­tik­wis­sen­schaftler Adrian Vatter in seinem Buch Das poli­ti­sche System der Schweiz (2014) nach­weist. Im Parla­ment hat sich nur schon seit den 90er Jahren die Chance halbiert, dass alle Regie­rungs­par­teien eine Vorlage gemeinsam tragen. Kurz : die Konkor­d­anz­re­gie­rung erfüllt ihren mässi­genden und prag­ma­ti­schen Zweck nicht mehr. Die stra­te­gi­sche Hand­lungs­logik der Parteien und die, so Adrian Vatter, „insti­tu­tio­nellen Konkor­d­anz­zwänge“ passen nicht mehr zusammen.

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Bedrohte Reform­fä­hig­keit

Die Folgen dieser Entwick­lung sind eine verstärkte Vola­ti­lität und Unbe­re­chen­bar­keit der Politik. Sie sind nicht nur aus volks­wirt­schaft­li­cher Sicht proble­ma­tisch – siehe die lang­same, noch immer umstrit­tene Umset­zung der Massen­ein­wan­de­rungs­in­itia­tive und die unge­wisse Zukunft der Bila­te­ralen Verträge mit der EU. Auch sozi­al­po­li­tisch leidet die Reform­fä­hig­keit unter der verstärkten Pola­ri­sie­rung. Die grosse Renten­re­form „Altersvorsorge2020“, über welche am 24. September abge­stimmt werden wird, ist zum eigent­li­chen Lehr­stück über den Zustand der Schweizer Politik geworden. Über drei Jahre lang haben sich Bundesrat und verschie­dene Verbands- und Partei­en­ver­treter – im Wissen um die Konkor­d­anz­zwänge des Systems – für eine breite Kompro­miss­lö­sung einge­setzt, und tatsäch­lich haben sich die ehemals diame­tral entge­gen­ge­setzten Posi­tionen des linken und rechten Lagers im Verlauf der Verhand­lungen deut­lich ange­nä­hert. Während z.B. die Linke zu Beginn der Vernehm­las­sung noch die Erhö­hung des Frau­en­ren­ten­al­ters auf 65 ablehnte, hat sie letzt­lich diesen Punkt wider­standslos geschluckt. In ähnli­cher Weise hat die Rechte über die Zeit akzep­tiert, dass Kürzungen in Pensi­ons­kas­sen­leis­tungen durch höhere Spar­gut­haben kompen­siert werden sollen.

Dennoch schei­terte eine eigent­liche Eini­gung auf den letzten Metern, und die Vorlage kam nur mit dem knappst-möglichen Mehr durch die Schluss­ab­stim­mung. In dieser pola­ri­sierten Lage ist der Ausgang der Volks­ab­stim­mung vom September komplett offen, weil für die Stim­menden keinerlei Eliten­kon­sens erkennbar ist. Somit ist es durchaus möglich, dass die Vorlage in der Volks­ab­stim­mung schei­tert, obwohl gut 85% der Stimm­bür­ge­rInnen Reformen in der Alters­vor­sorge für notwendig halten; und obwohl ein Schei­tern jede weitere Reform vor noch viel grös­sere Schwie­rig­keiten stellt, weil sich in der Alters­vor­sorge für jüngere Versi­cherte über die Zeit die Anreize verstärken, am status quo festzuhalten.

In dieser Span­nung zwischen insti­tu­tio­nellen Konsens­zwängen und stra­te­gi­schen Pola­ri­sie­rungs­ten­denzen leiden Bere­chen­bar­keit und Reform­fä­hig­keit der Politik. Die „Entzau­be­rung“ der Schweizer Politik ist Realität und ein Ende der Pola­ri­sie­rung nicht in Sicht.

Dieser Beitrag ist die revi­dierte Fassung eines Textes, welcher in der Zeit­schrift Die Volks­wirt­schaft (5/2015) erschienen ist.