
Christine Lötscher: Wir staunen begeistert über Feuerwerk, Zaubertricks, Special Effects und empört über narzisstische Selbstdarsteller auf Social Media. Gleichzeitig erscheint uns der Blick des unvoreingenommen staunenden Kindes diesseits des Inszenierten und Medialen höchst erstrebenswert, um die Welt eigentlicher, schöner und intensiver erleben zu können. Dazu gehört auch der Gemeinplatz, das Staunen stehe am Anfang der Philosophie.
Nicola, welchen Stellenwert hat das Staunen in der Gegenwart?
Nicola Gess: Das Staunen ist auf eine ganz bestimmte Weise omnipräsent. In den Sozialen Medien und in der Werbung dreht sich alles um den sogenannten Wow-Effekt. Jede und jeder will «OMG!!» unter den eigenen Posts stehen haben. Das ist das eine. Auf der anderen Seite lässt sich etwas beobachten, das ich die Esoterik der Wiederverzauberung nenne. Hier artikuliert sich die Sehnsucht nach dem Ausstieg aus einer Entfremdungserfahrung. Ich denke an Formeln, die wir alle kennen und auf die du bereits angespielt hast: «wieder werden wie ein Kind» oder «die Welt mit staunenden Augen betrachten». Es handelt sich dabei aber längst um Marketingklischees, um Marketingversprechen, die sich mit bestimmten Produkten verbinden.
ChL: Was interessiert Dich als Literaturwissenschaftlerin daran?
Nicola Gess: Die erwähnte Art des Staunens ist eine stark reduzierte Schrumpfform, ein Staunen, das seinen kritischen Stachel verloren hat. Wenn man historisch etwas weiter zurückgeht, sieht das ganz anders aus. In unserem Forschungsprojekt «The Power of Wonder», das an den Universitäten Basel und Zürich angesiedelt ist, untersuchen wir, welche Rolle das Staunen für Ästhetik und Poetik vom Mittelalter bis heute spielt; ich persönlich habe mich in meinem Buch «Poetik des Staunens» vor allem mit dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert beschäftigt. Die sinnliche Dimension des Staunens, die für den Wow-Effekt und den Wiederverzauberungskitsch zentral ist, spielt da zwar auch eine grosse Rolle. Aber in Kombination mit einer kognitiven Dimension des Staunens, die sich eher mit Irritation, mit Zweifel, mit Unsicherheit verbindet und auch durchaus mit einer gewissen Form von Negativität, wenn man zum Beispiel an die Rolle des Staunens in Ästhetiken des Erhabenen denkt. Dieser anderen Dimension lohnt es sich nachzugehen.
ChL: Wie manipulierbar sind wir denn durch unsere Affinität zum Staunen?
Nicola Gess: Sehr – das zeigen ja schon die gezielt eingesetzten Knall- oder Wow-Effekte, mit denen Aufmerksamkeit erzeugt und Staunen oder Bewunderung getriggert werden sollen. Das folgt allerdings einer Überbietungslogik, die sich auch recht schnell totläuft.
ChL: In diesem Zusammenhang fallen mir die Streamingdienste ein, die mit immer neuen Serien versuchen, solche Wow-Effekte zu reproduzieren. Viele der gross angekündigten Events erweisen sich dann aber im Grunde nur als Neuauflagen von etwas, das wir längst kennen – nur ein bisschen lauter, bunter, schneller. Durchlaufen wir hier eine Art Regression in Sachen Staunen?
Nicola Gess: Also, ein neues Problem ist das jedenfalls nicht. Schon Friedrich Schlegel hat über die Reizspirale des Neuen, die Du ansprichst, nachgedacht und beschrieben, wie auf einen Reiz ein noch stärkerer Reiz folgen muss und dann ein noch stärkerer und so weiter. Irgendwann verpufft der Effekt und es bleibt eine Leere, ein Gefühl von Ekel und Abstumpfung. Das Problem einer Ästhetik, die auf den immer stärkeren Sinnenreiz setzt, stellt sich also nicht erst, seit es Netflix gibt. Sie wurde bereits vor zweihundert Jahren diskutiert.
ChL: Machen wir einen kleinen Sprung. Du hast eben das 18. Jahrhundert erwähnt. Warum wurde da denn so viel über das Staunen nachgedacht?
Nicola Gess: Das hat damit zu tun, dass man sich zu der Zeit erstmals für die sinnliche Erkenntnis zu interessieren beginnt und das Staunen in diesem Zusammenhang eine neue Wertschätzung erfährt, als Brückenschlag zwischen sinnlicher Wahrnehmung und rationaler Erkenntnis. Staunen wird im 18. Jahrhundert außerdem als eine kontemplativ-reflektierende Haltung wertgeschätzt, die man im Umgang mit Kunst erlernen kann und die auch etwas mit Selbstreflexion und mit dem Hinterfragen eigener Vorurteile zu tun hat – z.B. bei dem Zürcher Dichtungstheoretiker Johann Jakob Bodmer. Und über das Staunen wird auch in diätetischen Kontexten nachgedacht, zum Beispiel wenn es um das Training der Nerven geht, die vor einer tödlichen Langeweile bewahrt werden müssen. Und nicht zuletzt spielt Staunen im 18. Jahrhundert auch in dichtungstheoretischen Reflexionen eine wichtige Rolle, ob als affektiver Antrieb zur Wissensaneignung, der sich im Zeitalter der Aufklärung die Literatur verpflichtet weiß, oder etwas später als Motor der Einbildungskraft: Staunen regt zum Träumen an.
ChL: Heute ist das ja ein bisschen anders, oder? Verglichen mit anderen Affekten scheint das Staunen etwas unterbelichtet zu sein. Woran könnte das liegen?
Nicola Gess: Beim Staunen handelt es sich um einen relativ komplexen Affekt, der für die psychologischen und neurophysiologischen Ansätze, die heute die Emotionsforschung dominieren, schwer greifbar ist. Er lässt sich physiologisch weniger eindeutig nachweisen als etwa Angst oder Ekel. Auch seine Wertigkeit ist nicht so klar, ist sie positiv, negativ oder neutral? Dazu kommt, dass Staunen sozusagen zwei- oder sogar dreidimensional ist. Es hat eine starke sinnliche, aber auch eine starke kognitive und manchmal sogar spirituelle Dimension. Und nicht zuletzt wird Staunen von kritischen Geistern heute eben zu Unrecht häufig im Bereich von Kitsch und Spektakel verortet. Das sind ein paar Gründe, die dazu führen, dass das Staunen heute einerseits unterforscht bleibt und andererseits unterschätzt wird.
ChL: Du hast erwähnt, dass die sich ins Endlose schraubende Reizspirale schon seit zweihundert Jahren ein Thema ist. Eigentlich erstaunlich, dass diese Ästhetik der Überbietung funktioniert, obwohl jeder und jede diese Leere kennt, die Du ansprichst. Woran liegt das?
Nicola Gess: Wenn man zum Feuerwerk geht, erwartet man den Knall und das Spektakel; trotzdem funktioniert es immer wieder. Das hat viel mit dem unmittelbaren sinnlichen Reiz zu tun, mit der körperlichen Reaktion auf Lärm und Licht.
ChL: Im Gegensatz zum Staunen, das zwar in der Sprache präsent ist, aber meist unreflektiert verwendet wird, wird durchaus kontrovers und kritisch über Aufmerksamkeit diskutiert. Hängen die beiden Begriffe zusammen?
Nicola Gess: Man staunt über etwas, und das ruft dann Aufmerksamkeit dafür hervor. Insofern hängen die beiden zusammen, ja.
ChL: Es gibt ja noch einen anderen verwandten Begriff: Achtsamkeit. Für die einen ist eine achtsame Haltung der Schlüssel zu einem erfüllten Leben, für andere purer Kitsch. Wie hängt denn Achtsamkeit mit Staunen zusammen?
Nicola Gess: Darauf gibt es zwei Antworten, glaube ich, je nachdem, ob man Staunen eher als spontane Reaktion oder als kultivierbare Praktik denkt. Wenn man Achtsamkeit als eine besondere Form von Aufmerksamkeit verstehen will, dann geht ihr die spontane Form des Staunens immer voraus. In diesem Sinne ist Staunen nicht identisch mit einer achtsamen Aufmerksamkeit, sondern ihr Trigger. Wenn man Staunen aber im Sinne einer kontemplativen oder meditativen Praktik denkt, wie das in bestimmten philosophischen, religiösen und ästhetischen Kontexten immer wieder unternommen wurde, dann ist die Affinität zur Achtsamkeit deutlich grösser. Aber es gibt trotzdem noch einen Unterschied. Und der besteht darin, dass in diesen Konzeptionen das Staunen niemals nur auf die sinnliche Erfahrung, sei es der Umwelt oder des eigenen Körpers, beschränkt ist, sondern Wahrnehmung und Erkenntnis immer schon ineinandergreifen. Darum meint dieses Staunen auch nie nur die intensive Erfahrung einer Gegenwart, dieses ganz in der Gegenwart sein, sondern kann auch in Zerstreutheit und Träumerei übergehen und so aus der konkreten Situation herausführen.
ChL: Siehst Du den Achtsamkeitstrend klar im Zusammenhang mit der Esoterik der Wiederverzauberung?
Nicola Gess: Ein wenig schon, ja. Aus dem Achtsamkeitstrend spricht sicherlich eine Entfremdungserfahrung, sei es die Entfremdung vom eigenen Fühlen oder von den Dingen um uns herum. Problematisch finde ich aber, wenn Achtsamkeit dann zu einer Art Wiederverzauberungstechnik erklärt wird, à la «Du musst nur mit mehr Ruhe und Liebe die Bäume betrachten, und dann ist die Welt wieder gut»…
ChL: Es gibt aber eine Art Poetik der Achtsamkeit in der Gegenwartsliteratur, und zwar im Nature Writing. Siehst Du hier eine Verbindung zum Staunen?
Nicola Gess: Ja, durchaus. Was ich daran interessant finde, lässt sich am Beispiel von Raoul Schrott aufzeigen, der eine Poetik des Staunens in der Tradition des Erhabenen entwirft. Das tut er aber gerade nicht mit dem Versuch, ein vorwissenschaftliches Naturverständnis zu artikulieren. Vielmehr versucht er über die Dichtung naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu veranschaulichen, die dann bei den Leser:innen ein Staunen hervorrufen – sowohl über diese Erkenntnisse als auch über die Naturphänomene, die sie neu zu sehen geben. Bei Schrott ist dieses Verfahren mit einem ethischen Anspruch verbunden: Staunen als Verpflichtung, sich dem Gewissheiten Erschütternden, auch schwer Erklärbaren auszusetzen. Aber Schrott ist nur ein Beispiel. Man kann schon sagen, dass Nature Writing dezidiert keine instrumentelle, sondern eine Art staunende Haltung zur Natur einnimmt, die nicht auf Verwertung aus ist, sondern auf eine Art Innehalten, auf eine aufmerksame Betrachtung der Naturphänomene, auch auf die eigene Erfahrung dieser Natur. Ich denke etwa an Esther Kinski, deren Naturgedichte sehr genaue Beschreibungen von Details und kleinen Dingen sind, die man oft übersieht; bei ihr hat das immer auch mit Betrachtungen über Tod und Vergänglichkeit zu tun. Insofern gehen diese Texte über die Aufmerksamkeit für Naturphänomene hinaus. Da steckt immer schon mehr drin als die Betrachtung eines einzelnen Blattes, und gleichzeitig geht es auch nicht ohne die Betrachtung dieses einzelnen Blattes.
ChL: Viele Nature Writing-Texte arbeiten sich an der Überwindung der anthropozentrischen Perspektive ab und möchten die menschliche Subjektivität hinter sich lassen. Kann das gut gehen?
Nicola Gess: Man kann nicht hinter das zurück, was wir sind. Es gibt auch kein Zurück hinter ein wissenschaftliches Naturverständnis. Die Natur ist ja immer schon durch den Menschen geprägt, Natur ist Kultur in unserer Welt. Es scheint mir notwendig, dass Nature Writing diese Voraussetzungen mitreflektiert. Aber ja, diese Vorstellung, nicht mehr Subjekt zu sein und die Unmöglichkeit dessen ist auch eine Erfahrung von Negativität. Manchmal zielt Nature Writing, wie der Achtsamkeitskult auch, darauf, dass ich mich gut fühle. Doch wenn man die Vorstellung, nicht mehr Subjekt zu sein, ernst nähme, hat sie gar nichts mehr mit Wellness zu tun. Wenn man sich fragt, was das für eine andere Erfahrung ist, die ich imaginiere, ohne sie aber realisieren oder auch nur ausdrücken zu können, hat das mehr mit Irritation und Orientierungslosigkeit zu tun. Und das würde ich von Nature Writing erwarten.
ChL: In der gleichzeitigen Imagination und Reflexion des Unmöglichen bekommt Staunen eine politische Dimension.
Nicola Gess: Ich würde sagen: Staunen kann aus dem Denken der Alternativlosigkeit herausführen. Zum einen im Sinne des Innehaltens, Unterbrechens, aus der Situation Heraustretens. Das wäre ein Staunen, wie man es bei Walter Benjamin oder bei Bertolt Brecht findet. Oder im Sinne des utopischen Denkens, im Sinne einer Eröffnung von Möglichkeitsräumen, wie sie z.B. Ernst Bloch mit dem Staunen verbindet. Diese kritisch-staunende Haltung steht in einer Spannung zum rein affirmativen Staunen, sei es nun der Wow-Effekt oder die esoterische Wiederverzauberung. Diese Spannung gilt es auszuhalten.
ChL: Du erwähnst Benjamin und Bloch; ist diese Distanz auch schon im 18. Jahrhundert präsent?
Nicola Gess: Was man dort jedenfalls auch finden kann, ist, dass Staunen als eine nicht-instrumentelle Haltung zu den Dingen kultiviert wird. Also Staunen als ein Zurücktreten aus dem Selbstverständlichen, ein intellektuelles Abenteuer, ein Abenteuer des Zweifelns, auch des Selbstzweifelns.
ChL: Was heisst das nun für unsere Gegenwart; in welche Richtung müssten wir unsere Staunensfähigkeit weiterentwickeln?
Nicola Gess: Das ist eine schwierige Frage. Die Idee der Kultivierung stammt aus dem 18. Jahrhundert und ist auch nicht unproblematisch. Erstens haftet ihr etwas extrem Oberlehrerhaftes an. Und zweitens finde ich persönlich die spontane Reaktion auf ein Feuerwerk wunderbar. Die Rezeption von Kunst hat ja auch etwas mit Lust zu tun, deshalb habe ich überhaupt nichts gegen das hedonistische Moment im Staunen, im Gegenteil. Das Grossartige am Staunen als Untersuchungsgegenstand ist ja genau, dass es beides beinhaltet – das Sinnliche und das Reflexive. Die Lust am sinnlichen Effekt ist das eine, und das – unter Umständen ebenfalls lustvolle – Reflektieren über das, was er uns aufschliesst, das andere.