Die gegenwärtige Medienkultur ist stark aufs Staunen, auf den schnellen Effekt hin angelegt. Doch der Begriff des Staunens selbst bleibt dabei unreflektiert. Was also ist «Staunen» – oder was könnte es sein? Hat das Staunen gar einen kritischen, ja politischen Stachel?

  • Nicola Gess

    Nicola Gess lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel und ist dort Leiterin des SNF-Forschungsprojekts „Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ‚postfaktischen Zeitalter‘“ sowie Co-Leiterin des SNF-Sinergia „The Power of Wonder“. Zuletzt erschienen: „Staunen. Eine Poetik“, Wallstein, 2019.
  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Poetik des Stau­nens. Ein Gespräch mit der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin Nicola Gess
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Chris­tine Lötscher: Wir staunen begeis­tert über Feuer­werk, Zauber­tricks, Special Effects und empört über narziss­ti­sche Selbst­dar­steller auf Social Media. Gleich­zeitig erscheint uns der Blick des unvor­ein­ge­nommen stau­nenden Kindes dies­seits des Insze­nierten und Medialen höchst erstre­bens­wert, um die Welt eigent­li­cher, schöner und inten­siver erleben zu können. Dazu gehört auch der Gemein­platz, das Staunen stehe am Anfang der Philosophie.

Nicola, welchen Stel­len­wert hat das Staunen in der Gegenwart?

Nicola Gess: Das Staunen ist auf eine ganz bestimmte Weise omni­prä­sent. In den Sozialen Medien und in der Werbung dreht sich alles um den soge­nannten Wow-Effekt. Jede und jeder will «OMG!!» unter den eigenen Posts stehen haben. Das ist das eine. Auf der anderen Seite lässt sich etwas beob­achten, das ich die Esoterik der Wieder­ver­zau­be­rung nenne. Hier arti­ku­liert sich die Sehn­sucht nach dem Ausstieg aus einer Entfrem­dungs­er­fah­rung. Ich denke an Formeln, die wir alle kennen und auf die du bereits ange­spielt hast: «wieder werden wie ein Kind» oder «die Welt mit stau­nenden Augen betrachten». Es handelt sich dabei aber längst um Marke­ting­kli­schees, um Marke­ting­ver­spre­chen, die sich mit bestimmten Produkten verbinden.

ChL: Was inter­es­siert Dich als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin daran?

Nicola Gess: Die erwähnte Art des Stau­nens ist eine stark redu­zierte Schrumpf­form, ein Staunen, das seinen kriti­schen Stachel verloren hat. Wenn man histo­risch etwas weiter zurück­geht, sieht das ganz anders aus. In unserem Forschungs­pro­jekt «The Power of Wonder», das an den Univer­si­täten Basel und Zürich ange­sie­delt ist, unter­su­chen wir, welche Rolle das Staunen für Ästhetik und Poetik vom Mittel­alter bis heute spielt; ich persön­lich habe mich in meinem Buch «Poetik des Stau­nens» vor allem mit dem 18. und dem frühen 20. Jahr­hun­dert beschäf­tigt. Die sinn­liche Dimen­sion des Stau­nens, die für den Wow-Effekt und den Wieder­ver­zau­be­rungs­kitsch zentral ist, spielt da zwar auch eine grosse Rolle. Aber in Kombi­na­tion mit einer kogni­tiven Dimen­sion des Stau­nens, die sich eher mit Irri­ta­tion, mit Zweifel, mit Unsi­cher­heit verbindet und auch durchaus mit einer gewissen Form von Nega­ti­vität, wenn man zum Beispiel an die Rolle des Stau­nens in Ästhe­tiken des Erha­benen denkt. Dieser anderen Dimen­sion lohnt es sich nachzugehen.

ChL: Wie mani­pu­lierbar sind wir denn durch unsere Affi­nität zum Staunen?

Nicola Gess: Sehr – das zeigen ja schon die gezielt einge­setzten Knall- oder Wow-Effekte, mit denen Aufmerk­sam­keit erzeugt und Staunen oder Bewun­de­rung getrig­gert werden sollen. Das folgt aller­dings einer Über­bie­tungs­logik, die sich auch recht schnell totläuft. 

ChL: In diesem Zusam­men­hang fallen mir die Strea­ming­dienste ein, die mit immer neuen Serien versu­chen, solche Wow-Effekte zu repro­du­zieren. Viele der gross ange­kün­digten Events erweisen sich dann aber im Grunde nur als Neuauf­lagen von etwas, das wir längst kennen – nur ein biss­chen lauter, bunter, schneller. Durch­laufen wir hier eine Art Regres­sion in Sachen Staunen?

Nicola Gess: Also, ein neues Problem ist das jeden­falls nicht. Schon Fried­rich Schlegel hat über die Reiz­spi­rale des Neuen, die Du ansprichst, nach­ge­dacht und beschrieben, wie auf einen Reiz ein noch stär­kerer Reiz folgen muss und dann ein noch stär­kerer und so weiter. Irgend­wann verpufft der Effekt und es bleibt eine Leere, ein Gefühl von Ekel und Abstump­fung. Das Problem einer Ästhetik, die auf den immer stär­keren Sinnen­reiz setzt, stellt sich also nicht erst, seit es Netflix gibt. Sie wurde bereits vor zwei­hun­dert Jahren diskutiert.

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ChL: Machen wir einen kleinen Sprung. Du hast eben das 18. Jahr­hun­dert erwähnt. Warum wurde da denn so viel über das Staunen nachgedacht?

Nicola Gess: Das hat damit zu tun, dass man sich zu der Zeit erst­mals für die sinn­liche Erkenntnis zu inter­es­sieren beginnt und das Staunen in diesem Zusam­men­hang eine neue Wert­schät­zung erfährt, als Brücken­schlag zwischen sinn­li­cher Wahr­neh­mung und ratio­naler Erkenntnis. Staunen wird im 18. Jahr­hun­dert außerdem als eine kontemplativ-reflektierende Haltung wert­ge­schätzt, die man im Umgang mit Kunst erlernen kann und die auch etwas mit Selbst­re­fle­xion und mit dem Hinter­fragen eigener Vorur­teile zu tun hat – z.B. bei dem Zürcher Dich­tungs­theo­re­tiker Johann Jakob Bodmer. Und über das Staunen wird auch in diäte­ti­schen Kontexten nach­ge­dacht, zum Beispiel wenn es um das Trai­ning der Nerven geht, die vor einer tödli­chen Lange­weile bewahrt werden müssen. Und nicht zuletzt spielt Staunen im 18. Jahr­hun­dert auch in dich­tungs­theo­re­ti­schen Refle­xionen eine wich­tige Rolle, ob als affek­tiver Antrieb zur Wissens­an­eig­nung, der sich im Zeit­alter der Aufklä­rung die Lite­ratur verpflichtet weiß, oder etwas später als Motor der Einbil­dungs­kraft: Staunen regt zum Träumen an.

ChL: Heute ist das ja ein biss­chen anders, oder? Vergli­chen mit anderen Affekten scheint das Staunen etwas unter­be­lichtet zu sein. Woran könnte das liegen?

Nicola Gess: Beim Staunen handelt es sich um einen relativ komplexen Affekt, der für die psycho­lo­gi­schen und neuro­phy­sio­lo­gi­schen Ansätze, die heute die Emoti­ons­for­schung domi­nieren, schwer greifbar ist. Er lässt sich physio­lo­gisch weniger eindeutig nach­weisen als etwa Angst oder Ekel. Auch seine Wertig­keit ist nicht so klar, ist sie positiv, negativ oder neutral? Dazu kommt, dass Staunen sozu­sagen zwei- oder sogar drei­di­men­sional ist. Es hat eine starke sinn­liche, aber auch eine starke kogni­tive und manchmal sogar spiri­tu­elle Dimen­sion. Und nicht zuletzt wird Staunen von kriti­schen Geis­tern heute eben zu Unrecht häufig im Bereich von Kitsch und Spek­takel verortet. Das sind ein paar Gründe, die dazu führen, dass das Staunen heute einer­seits unter­forscht bleibt und ande­rer­seits unter­schätzt wird.

ChL: Du hast erwähnt, dass die sich ins Endlose schrau­bende Reiz­spi­rale schon seit zwei­hun­dert Jahren ein Thema ist. Eigent­lich erstaun­lich, dass diese Ästhetik der Über­bie­tung funk­tio­niert, obwohl jeder und jede diese Leere kennt, die Du ansprichst. Woran liegt das?

Nicola Gess: Wenn man zum Feuer­werk geht, erwartet man den Knall und das Spek­takel; trotzdem funk­tio­niert es immer wieder. Das hat viel mit dem unmit­tel­baren sinn­li­chen Reiz zu tun, mit der körper­li­chen Reak­tion auf Lärm und Licht.

ChL: Im Gegen­satz zum Staunen, das zwar in der Sprache präsent ist, aber meist unre­flek­tiert verwendet wird, wird durchaus kontro­vers und kritisch über Aufmerk­sam­keit disku­tiert. Hängen die beiden Begriffe zusammen?

Nicola Gess: Man staunt über etwas, und das ruft dann Aufmerk­sam­keit dafür hervor. Inso­fern hängen die beiden zusammen, ja.  

ChL: Es gibt ja noch einen anderen verwandten Begriff: Acht­sam­keit. Für die einen ist eine acht­same Haltung der Schlüssel zu einem erfüllten Leben, für andere purer Kitsch. Wie hängt denn Acht­sam­keit mit Staunen zusammen?

Nicola Gess: Darauf gibt es zwei Antworten, glaube ich, je nachdem, ob man Staunen eher als spon­tane Reak­tion oder als kulti­vier­bare Praktik denkt. Wenn man Acht­sam­keit als eine beson­dere Form von Aufmerk­sam­keit verstehen will, dann geht ihr die spon­tane Form des Stau­nens immer voraus. In diesem Sinne ist Staunen nicht iden­tisch mit einer acht­samen Aufmerk­sam­keit, sondern ihr Trigger. Wenn man Staunen aber im Sinne einer kontem­pla­tiven oder medi­ta­tiven Praktik denkt, wie das in bestimmten philo­so­phi­schen, reli­giösen und ästhe­ti­schen Kontexten immer wieder unter­nommen wurde, dann ist die Affi­nität zur Acht­sam­keit deut­lich grösser. Aber es gibt trotzdem noch einen Unter­schied. Und der besteht darin, dass in diesen Konzep­tionen das Staunen niemals nur auf die sinn­liche Erfah­rung, sei es der Umwelt oder des eigenen Körpers, beschränkt ist, sondern Wahr­neh­mung und Erkenntnis immer schon inein­an­der­greifen. Darum meint dieses Staunen auch nie nur die inten­sive Erfah­rung einer Gegen­wart, dieses ganz in der Gegen­wart sein, sondern kann auch in Zerstreut­heit und Träu­merei über­gehen und so aus der konkreten Situa­tion herausführen.

ChL: Siehst Du den Acht­sam­keits­trend klar im Zusam­men­hang mit der Esoterik der Wiederverzauberung?

Nicola Gess: Ein wenig schon, ja. Aus dem Acht­sam­keits­trend spricht sicher­lich eine Entfrem­dungs­er­fah­rung, sei es die Entfrem­dung vom eigenen Fühlen oder von den Dingen um uns herum. Proble­ma­tisch finde ich aber, wenn Acht­sam­keit dann zu einer Art Wieder­ver­zau­be­rungs­technik erklärt wird, à la «Du musst nur mit mehr Ruhe und Liebe die Bäume betrachten, und dann ist die Welt wieder gut»…

ChL: Es gibt aber eine Art Poetik der Acht­sam­keit in der Gegen­warts­li­te­ratur, und zwar im Nature Writing. Siehst Du hier eine Verbin­dung zum Staunen?

Nicola Gess: Ja, durchaus. Was ich daran inter­es­sant finde, lässt sich am Beispiel von Raoul Schrott aufzeigen, der eine Poetik des Stau­nens in der Tradi­tion des Erha­benen entwirft. Das tut er aber gerade nicht mit dem Versuch, ein vorwis­sen­schaft­li­ches Natur­ver­ständnis zu arti­ku­lieren. Viel­mehr versucht er über die Dich­tung natur­wis­sen­schaft­liche Erkennt­nisse zu veran­schau­li­chen, die dann bei den Leser:innen ein Staunen hervor­rufen – sowohl über diese Erkennt­nisse als auch über die Natur­phä­no­mene, die sie neu zu sehen geben. Bei Schrott ist dieses Verfahren mit einem ethi­schen Anspruch verbunden: Staunen als Verpflich­tung, sich dem Gewiss­heiten Erschüt­ternden, auch schwer Erklär­baren auszu­setzen. Aber Schrott ist nur ein Beispiel. Man kann schon sagen, dass Nature Writing dezi­diert keine instru­men­telle, sondern eine Art stau­nende Haltung zur Natur einnimmt, die nicht auf Verwer­tung aus ist, sondern auf eine Art Inne­halten, auf eine aufmerk­same Betrach­tung der Natur­phä­no­mene, auch auf die eigene Erfah­rung dieser Natur. Ich denke etwa an Esther Kinski, deren Natur­ge­dichte sehr genaue Beschrei­bungen von Details und kleinen Dingen sind, die man oft über­sieht; bei ihr hat das immer auch mit Betrach­tungen über Tod und Vergäng­lich­keit zu tun. Inso­fern gehen diese Texte über die Aufmerk­sam­keit für Natur­phä­no­mene hinaus. Da steckt immer schon mehr drin als die Betrach­tung eines einzelnen Blattes, und gleich­zeitig geht es auch nicht ohne die Betrach­tung dieses einzelnen Blattes.

ChL: Viele Nature Writing-Texte arbeiten sich an der Über­win­dung der anthro­po­zen­tri­schen Perspek­tive ab und möchten die mensch­liche Subjek­ti­vität hinter sich lassen. Kann das gut gehen?

Nicola Gess: Man kann nicht hinter das zurück, was wir sind. Es gibt auch kein Zurück hinter ein wissen­schaft­li­ches Natur­ver­ständnis. Die Natur ist ja immer schon durch den Menschen geprägt, Natur ist Kultur in unserer Welt. Es scheint mir notwendig, dass Nature Writing diese Voraus­set­zungen mitre­flek­tiert. Aber ja, diese Vorstel­lung, nicht mehr Subjekt zu sein und die Unmög­lich­keit dessen ist auch eine Erfah­rung von Nega­ti­vität. Manchmal zielt Nature Writing, wie der Acht­sam­keits­kult auch, darauf, dass ich mich gut fühle. Doch wenn man die Vorstel­lung, nicht mehr Subjekt zu sein, ernst nähme, hat sie gar nichts mehr mit Well­ness zu tun. Wenn man sich fragt, was das für eine andere Erfah­rung ist, die ich imagi­niere, ohne sie aber reali­sieren oder auch nur ausdrü­cken zu können, hat das mehr mit Irri­ta­tion und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit zu tun. Und das würde ich von Nature Writing erwarten.

ChL: In der gleich­zei­tigen Imagi­na­tion und Refle­xion des Unmög­li­chen bekommt Staunen eine poli­ti­sche Dimension.

Nicola Gess: Ich würde sagen: Staunen kann aus dem Denken der Alter­na­tiv­lo­sig­keit heraus­führen. Zum einen im Sinne des Inne­hal­tens, Unter­bre­chens, aus der Situa­tion Heraus­tre­tens. Das wäre ein Staunen, wie man es bei Walter Benjamin oder bei Bertolt Brecht findet. Oder im Sinne des utopi­schen Denkens, im Sinne einer Eröff­nung von Möglich­keits­räumen, wie sie z.B. Ernst Bloch mit dem Staunen verbindet. Diese kritisch-staunende Haltung steht in einer Span­nung zum rein affir­ma­tiven Staunen, sei es nun der Wow-Effekt oder die esote­ri­sche Wieder­ver­zau­be­rung. Diese Span­nung gilt es auszuhalten.

ChL: Du erwähnst Benjamin und Bloch; ist diese Distanz auch schon im 18. Jahr­hun­dert präsent?

Nicola Gess: Was man dort jeden­falls auch finden kann, ist, dass Staunen als eine nicht-instrumentelle Haltung zu den Dingen kulti­viert wird. Also Staunen als ein Zurück­treten aus dem Selbst­ver­ständ­li­chen, ein intel­lek­tu­elles Aben­teuer, ein Aben­teuer des Zwei­felns, auch des Selbstzweifelns.

ChL: Was heisst das nun für unsere Gegen­wart; in welche Rich­tung müssten wir unsere Stau­nens­fä­hig­keit weiterentwickeln?

Nicola Gess: Das ist eine schwie­rige Frage. Die Idee der Kulti­vie­rung stammt aus dem 18. Jahr­hun­dert und ist auch nicht unpro­ble­ma­tisch. Erstens haftet ihr etwas extrem Ober­leh­rer­haftes an. Und zwei­tens finde ich persön­lich die spon­tane Reak­tion auf ein Feuer­werk wunderbar. Die Rezep­tion von Kunst hat ja auch etwas mit Lust zu tun, deshalb habe ich über­haupt nichts gegen das hedo­nis­ti­sche Moment im Staunen, im Gegen­teil. Das Gross­ar­tige am Staunen als Unter­su­chungs­ge­gen­stand ist ja genau, dass es beides beinhaltet – das Sinn­liche und das Refle­xive. Die Lust am sinn­li­chen Effekt ist das eine, und das – unter Umständen eben­falls lust­volle – Reflek­tieren über das, was er uns aufschliesst, das andere.