In Deutschland ist eine Debatte über staatlich bestallte Parlamentspoeten entbrannt. Anlass ist der Text „Dichterin gesucht: Die Politik poetischer und die Poesie politischer machen: Deutschland braucht eine Parlamentspoetin“ von Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz in der Süddeutschen Zeitung. Sanyal, Kapitelman und Buchholz erheben in ihrem manifestartigen Artikel die Forderung, im deutschen Bundestag nach kanadischem Vorbild eine Parlamentspoetin – andere Geschlechtszugehörigkeiten und -identifikationen sind vermutlich mitgemeint – anzustellen, die als „starkes, leuchtendes, zärtliches Element“ im bislang als prosaisch empfundenen Politikbetrieb fungieren, zugleich aber als „Irritation, als Störfaktor“ dienen soll. Die darauffolgenden, teils polemisch geführten, von diversen Medienhäusern lustvoll aufgegriffenen Auseinandersetzungen entlang der Extrempositionen „Poesie kann heilen vs. Poesie ist ein Luxusproblem“ lassen teils historische und theoretische Tiefe vermissen – Anlass genug, sie im Dialog mit Mithu Sanyal nachzuliefern.
Jörg Scheller: Die Idee eines Parlamentspoeten ist auf den ersten Blick eine verlockende: Endlich die dröge Politik beseelen, die Routinen des parlamentarischen Klein-Kleins sprengen! Doch während ihr euch vom heutigen Kanada inspirieren lasst, erscheinen mir bestallte Parlamentspoeten in Deutschland als altes Eigengewächs: Von Novalis über Richard Wagner bis hin zu Joseph Beuys zieht sich das romantisch-kulturkritische Band deutscher Sehnsucht nach Verquickung von Politik und Poesie, Rationalität und Mythos, Kunst und Macht – wider den Maschinenstaat! Für Novalis etwa sollte „Poesie die schöne Gesellschaft“ bilden. Durch Poesie entstünde „höchste Sympathie und Koaktivität“. Euer Satz „macht die Politik poetischer und die Poesie politischer!“ könnte aus dem Munde Novalis’ stammen. Was also unterscheidet Eure Utopie von der deutschromantischen?
Mithu Sanyal: Nur weil Novalis das gesagt hat, ist es nicht automatisch falsch. Aber Ironie beiseite. Ja, die Gefahr der Romantisierung besteht natürlich. Deshalb soll unser*e Parlamentspoet*in ja nicht eine Regierungspoet*in sein, die dann mit Worten einen postmodernen Lorbeerkranz für den Kanzler flicht, sondern das Verbindungsglied zwischen Volksvertretung und … Volk sein. Die Erfahrung ist ja, dass die neu gewählten Politiker*innen nach wenigen Wochen/Sitzungen anfangen, eine andere Sprache zu sprechen. Und hier ist einer der Anknüpfungspunkte der Parlamentspoet*in. Einmal das nach außen hin zu übersetzen und zum anderen mit den Parlamentarier*innen zu sprechen. Denn normalerweise werden die ja nur von Lobbyisten aus der Wirtschaft und von Wissenschaftlern beraten. Und es ist uns ein Anliegen, dass es auch Berater*innen aus den Künsten gibt. Nicht, weil wir besser mit Problemen umgehen, sondern weil wir das mit anderen Strategien machen. Oder um uns zu einem weiteren Slogan zu versteigen: Laterales Denken für die Demokratie.
JS: Die Parlamentspoesie entwerft ihr nicht nur als „starkes, leuchtendes, zärtliches Element, mit dem sich die Menschen identifizieren könnten“. Sie soll „unbedingt auch als Irritation, als Störfaktor“ auftreten. Hier drängen sich mir zwei Einwände auf. Zum einen verunmöglicht der Auftrag, zu stören, echte Störung. Mehr noch: Irritation in einer Job Description als Leistungsauftrag zu verankern, erinnert an die Quintessenz neoliberalen Wirtschaftens: Business Punk! Zum anderen schaue ich als Kunsthistoriker in die Geschichte und stelle fest: Autoritäre konzipierten Kunstwerke stets als Vorbilder. Sie liessen Kunstwerke schaffen, damit sich Menschen damit identifizierten. Eigensinnige, widerständige Kunst hingegen brachte Werke hervor, die sich Herrschaftslogiken, und seien diese noch so freundlich, widersetzten. Es ist unmöglich, einerseits von Kunst zu verlangen, sie solle tatsächlich stören, und andererseits, man solle sich im Sinne eines leuchtenden, zärtlichen Vorbilds mit ihr identifizieren – oder täusche ich mich? Bin ich in einem Entweder-Oder gefangen? Hänge ich meinerseits einem Idealismus an?
MS: Natürlich kann man Irritation nicht verordnen. Los, provozier’ jetzt! Aber da das ja ein rotierendes Amt sein soll – 1½ bis 2 Jahre – und damit kein*e Parlamentspoet*in so lange im Amt bleibt, um sich dort gemütlich breit zu machen, hätten sie die Chance, U-Boote im stillen Wasser des Parlaments zu sein. Wie sie das Amt verstehen, stünde dann den jeweiligen PPs frei. Ob es PPs gibt, die zärtlich und verstörend sein können, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wird es auch welche geben, die schlicht schlecht sind. In dieser Rolle. Denn es ist ja ein Experiment. Doch es hat das Potential, etwas zu bewegen. Ansonsten würden ja nicht alle Medien in diesem Land und sogar international darüber berichten. Das ist eine Idee, die etwas in Menschen berührt.
JS: Euer Satz „seit Menschheitsbeginn haben wir uns mit Hilfe von Geschichten und Gedichten unserer selbst versichert, Veränderungen verarbeitet und uns in die Zukunft hinein entworfen“ legt Geschichten und Gedichte auf eine bestimmte Wirkung fest. Er liesse sich wie folgt umdichten: „Seit Menschheitsbeginn haben wir mit Hilfe von Geschichten und Gedichten unsere Gegenüber verunsichert, Veränderungen verunmöglicht und uns in die Vergangenheit verbissen.“ Anders gesagt: Je nach Machtinteresse kann der Parlamentspoet bald diese, bald jene Wirkung haben. Es gibt keine Poesiegarantie. Poesie auf Heilung oder Brückenbauen festzulegen hiesse, sie ihrer konstitutiven Offenheit, die doch das eigentliche Wagnis des Poetischen ist, zu berauben – und zu unterschätzen, dass Poeten seit Menschheitsbeginn die politische Macht nicht nur hinterfragt, sondern sie auch glorifiziert und selbst nach ihr gestrebt haben.
MS: Ich glaube, Geschichten haben viele Funktionen: zu unterhalten, uns Angst zu machen, uns die Angst zu nehmen etc. etc. Aber sie sind auch das Medium, in dem wir uns entwerfen. Wir werden sozusagen erst zu uns, indem wir uns Geschichten über uns erzählen. Und diese Geschichten können konstruktiv und destruktiv sein. Sie können uns zu sozialen Wesen machen oder uns erzählen, dass wir die Herrscherrasse sind … ist ja klar, was ich sagen will. Deshalb finde ich es nur folgerichtig, wenn unser Parlament sagt: Wir wollen diesem Medium – Storytelling – einen angemessenen Platz geben. Es durch die Ernennung eines*r PP sozusagen würdigen. Natürlich werden Narrative an so vielen unterschiedlichen Orten gemacht – in den Medien, in sozialen Medien, in der Werbung, in der Politik – aber diese Produktion durch das Amt des*r PP sichtbar zu machen, das ist uns ein Anliegen. Denn der*die PP soll ja nicht Gedichte verfassen, die dann auf irgendeiner Internetseite abgedruckt werden, sondern es geht darum, Texte zu performen. Es geht um den direkten Kontakt mit Parlamentarier*innen und Bevölkerung. Es geht darum, öffentliche Anlässe zu schaffen, das Gespräch über unsere Narrative zu eröffnen. Dabei kann es sowohl um Heilung oder Versöhnung als auch um Aufrütteln oder sogar Skandalisierung gehen.
JS: Ihr schreibt: „Politik ist das, was uns direkt und unmittelbar betrifft“ – zum Glück ist das nicht so! Liberale Demokratie bedeutet doch eher, dass uns Politik vielfach indirekt und vermittelt betrifft. Durch Ästhetisierung eine möglichst innige Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Regierung und Regierten herzustellen, war das Anliegen Novalis’. Dieses Anliegen ist anschlussfähig an organische Staatsauffassungen. Im Anarchismus indes, der im Grunde nur in kleinen Gruppen funktioniert – und auch das nur, wie die Erfahrung zeigt, begrenzt – sind Direktheit und Unmittelbarkeit etwas anderes. Viele Anarchisten wollen ja gerade weg vom Parlamentarismus und von der Repräsentation, hin zu Liebe und Selbstorganisation, mithin zu Räten, Genossenschaften, Syndikaten. Kann Parlamentspoesie also überhaupt gelingen, ohne die parlamentarische Demokratie zu reformieren?
MS: In der Pandemie hat die Politik uns so erschreckend direkt betroffen. Und plötzlich wurde das, was vorher mittelbar und dadurch oft unsichtbar stattfand, sehr unmittelbar. Die Hoffnung ist, dass es eine Zeit nach der Pandemie geben wird, in der diese Auswirkungen wieder indirekt werden. Aber sie sind ja trotzdem da: Politik greift in unser Leben ein, ob wir das nun wahrhaben oder nicht. Deshalb ist eine der Aufgaben der*s PP, diese Wege sichtbar zu machen. Das machen auch politische Kommentare und Debattenbeiträge. Aber es ist schon verblüffend, wie lange es gedauert hat, bis ich verstanden habe, was zum Beispiel CumEx ist, und warum wir alle dafür bezahlen müssen. Wie toll wäre es, wenn das in einer Sprache verlautbar würde, die Menschen wie einen Ohrwurm nicht mehr vergessen können. Soll und wird der*die PP alle Skandale herunter-rappen? Natürlich nicht. Aber vielleicht einen davon, und damit wäre bereits viel gewonnen. Nebenbei fände ich eine Umstrukturierung der Demokratie – Beispiel: Räterepublik – auch eine tolle Idee. Aber schließt sich das aus? Wenn ja, wäre der*die PP so umwerfend toll, dass wir sie*ihn dringend bräuchten.
JS: Im Manifest erhebt ihr die Forderung nach „einer Sprache, die wir alle verstehen, nicht weil sie einfach ist, sondern weil sie uns berührt“. Wer aber sind „wir alle“? Scheint hier nicht der überkommene universalistische Traum einer Weltsprache auf, wie man ihn einst auch mit der Abstraktion verbunden hat? Eine Sprache, die alle verstehen, weil sie alle – gleichermassen – berührt, widerspricht für mich dem Ideal einer diversen, pluralen Gesellschaft. Polemisch gesagt: Werbung eignet sich dafür besser als Kunst und Poesie. Emotionale Berührungen in der Kunst sind nicht planbar – was die einen mit Liebe erfüllt, schürt in anderen Wut; was die einen verbindet, trennt die anderen. Wieder andere sind völlig indifferent. Zeitgenössische Kunst ist – so zumindest sehe ich sie – zuvorderst Medium dessen, was nicht alle berührt, was nicht alle wollen, was nicht alle können, was nicht alle sollen, was nicht alle müssen.
MS: Das ist das Argument, das mich tatsächlich überzeugt. Ja, Sprache kann nicht immer alle gleichermaßen berühren. Aber die Sprache der Politik berührt mich einfach in der Regel gar nicht. Ich muss mich zwingen, mir Debatten anzuschauen, weil das mein Job ist. Deshalb wäre ich schon glücklich über eine Sprache, die mehr Menschen berührt, weil sie von einem Menschen gesprochen wird, dessen Hauptwerkzeug die Sprache ist.
JS: Mein letzter Einwand betrifft die hohe Bedeutung, die ihr Emotionen beimesst. Kürzlich sass ich mit dem Feuilletonchef einer grossen deutschen Zeitung zusammen. Er bestätigte mir, was viele Untersuchungen zeigen: Im Internet laufen emotionale, auf Biografischem aufbauende Beiträge sehr gut – Trauer, Empörung, Angst, Wut, Frust, aber auch Fun und Ekstase. Das wird geklickt, geteilt, kommentiert, da wird identifiziert und kondemniert, da laufen die Landing Pages und die Sozialen Netzwerke heiss. Bei komplexen Sachthemen und herausfordernden Argumentationen hingegen steigen viele aus oder lassen sich gar nicht erst darauf ein – dabei ist die Auseinandersetzung genau damit in Zeiten künstlich geschürter Konflikte und strategischer Emotionalisierung sehr wichtig. Diese Tendenz, so scheint mir, spiegelt sich im Verhältnis Aktivismus-Politik. Aktivismus ist derzeit sexy. Man lobbyiert für ein klar umrissenes Anliegen, mit dem man sich, nicht zuletzt emotional, identifiziert. Ziel aktivistischer Kampagnen ist es meist, Andere dazu zu bringen, etwas zu tun. Nicht zuletzt energetisiert Aktivismus – die Energien sind kanalisiert, die Kräfte gebündelt! Realpolitik hingegen ist und muss in weiten Teilen dröge Kärnerarbeit sein, geprägt von der Auseinandersetzung mit Zahlen und Statistiken, zähen Abstimmungen, Beschaffung und Allokation ewig knapper Ressourcen, langwierigen Aushandlungsprozessen, Kompromissen und Kuhhändeln. Wenig überraschend hat Politik, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene, massive Nachwuchsprobleme, während an aktivistischen Petitionen und Kampagnen keine Knappheit besteht. Vor diesem Hintergrund, so ich ihn denn leidlich korrekt erfasst habe, könnte die Parlamentspoesie auf unfreiwillige Art zu einer Verstärkung der Flucht vor harten Sachfragen an der konkreten, materiellen Basis ins Emotionale bedeuten, ja die real existierenden Probleme mit rhetorischem Feenstaub bepudern! Oder gehen nun die Emotionen – womöglich sind sie ja schon gänzlich versachlicht! – mit mir durch? Könnte es gar geheime Wege geben, wie die Poesie Real- und Sachpolitik attraktiver machen könnte, ohne dass man Novalis als Consultant hinzuziehen müsste?
An dieser Stelle stünde eigentlich die Antwort Mithus – allein, ein gewisses Virus und damit einhergehende Fieberschübe machten ihr vor Redaktionsschluss einen Strich durch die Rechnung. So wird nun der Fortgang der real existierenden politischen wie auch poetischen Geschichte die Antwort darauf geben, ob meine Bedenken berechtigt waren – oder nur Ausdruck einer emotionsphobischen Kleinbürgermentalität, die sich mit allerlei Sophistereien einer „Heilung“ der Politik durch Dichtung versperrt…