Braucht es politische Poesie oder poetische Politik? Vor kurzem erhob die Schriftstellerin Mithu Sanyal zusammen mit Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz die Forderung nach einer Parlamentspoetin. Was diese Forderung für Sprache und Politik bedeutet, fragt der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller bei Mithu Sanyal nach.

  • Jörg Scheller

    Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, frieze magazine und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. www.joergscheller.de
  • Mithu Sanyal

    Mithu Melanie Sanyal, Autorin, Kultur­wis­sen­schaft­lerin und Jour­na­listin, haupt­säch­lich für den West­deut­schen Rund­funk, aber auch für den SWR, Deutsch­land­funk, Missy Maga­zine, ZEIT, die taz und viele andere. Nach den Büchern "Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" (2009) und "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" (2016) erschien 2021 von ihr der Roman "Identitti".

In Deutsch­land ist eine Debatte über staat­lich bestallte Parla­ments­poeten entbrannt. Anlass ist der Text „Dich­terin gesucht: Die Politik poeti­scher und die Poesie poli­ti­scher machen: Deutsch­land braucht eine Parla­ments­poetin“ von Mithu Sanyal, Dmitrij Kapi­telman und Simone Buch­holz in der Süddeut­schen Zeitung. Sanyal, Kapi­telman und Buch­holz erheben in ihrem mani­fest­ar­tigen Artikel die Forde­rung, im deut­schen Bundestag nach kana­di­schem Vorbild eine Parla­ments­poetin – andere Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keiten und -iden­ti­fi­ka­tionen sind vermut­lich mitge­meint – anzu­stellen, die als „starkes, leuch­tendes, zärt­li­ches Element“ im bislang als prosa­isch empfun­denen Poli­tik­be­trieb fungieren, zugleich aber als „Irri­ta­tion, als Stör­faktor“ dienen soll. Die darauf­fol­genden, teils pole­misch geführten, von diversen Medi­en­häu­sern lust­voll aufge­grif­fenen Ausein­an­der­set­zungen entlang der Extrem­po­si­tionen „Poesie kann heilen vs. Poesie ist ein Luxus­pro­blem“ lassen teils histo­ri­sche und theo­re­ti­sche Tiefe vermissen – Anlass genug, sie im Dialog mit Mithu Sanyal nachzuliefern.

Jörg Scheller: Die Idee eines Parla­ments­poeten ist auf den ersten Blick eine verlo­ckende: Endlich die dröge Politik beseelen, die Routinen des parla­men­ta­ri­schen Klein-Kleins sprengen! Doch während ihr euch vom heutigen Kanada inspi­rieren lasst, erscheinen mir bestallte Parla­ments­poeten in Deutsch­land als altes Eigen­ge­wächs: Von Novalis über Richard Wagner bis hin zu Joseph Beuys zieht sich das romantisch-kulturkritische Band deut­scher Sehn­sucht nach Verqui­ckung von Politik und Poesie, Ratio­na­lität und Mythos, Kunst und Macht – wider den Maschi­nen­staat! Für Novalis etwa sollte „Poesie die schöne Gesell­schaft“ bilden. Durch Poesie entstünde „höchste Sympa­thie und Koak­ti­vität“. Euer Satz „macht die Politik poeti­scher und die Poesie poli­ti­scher!“ könnte aus dem Munde Novalis’ stammen. Was also unter­scheidet Eure Utopie von der deutschromantischen?

Mithu Sanyal: Nur weil Novalis das gesagt hat, ist es nicht auto­ma­tisch falsch. Aber Ironie beiseite. Ja, die Gefahr der Roman­ti­sie­rung besteht natür­lich. Deshalb soll unser*e Parlamentspoet*in ja nicht eine Regierungspoet*in sein, die dann mit Worten einen post­mo­dernen Lorbeer­kranz für den Kanzler flicht, sondern das Verbin­dungs­glied zwischen Volks­ver­tre­tung und … Volk sein. Die Erfah­rung ist ja, dass die neu gewählten Politiker*innen nach wenigen Wochen/Sitzungen anfangen, eine andere Sprache zu spre­chen. Und hier ist einer der Anknüp­fungs­punkte der Parlamentspoet*in. Einmal das nach außen hin zu über­setzen und zum anderen mit den Parlamentarier*innen zu spre­chen. Denn norma­ler­weise werden die ja nur von Lobby­isten aus der Wirt­schaft und von Wissen­schaft­lern beraten. Und es ist uns ein Anliegen, dass es auch Berater*innen aus den Künsten gibt. Nicht, weil wir besser mit Problemen umgehen, sondern weil wir das mit anderen Stra­te­gien machen. Oder um uns zu einem weiteren Slogan zu versteigen: Late­rales Denken für die Demokratie.

JS: Die Parla­ments­poesie entwerft ihr nicht nur als „starkes, leuch­tendes, zärt­li­ches Element, mit dem sich die Menschen iden­ti­fi­zieren könnten“. Sie soll „unbe­dingt auch als Irri­ta­tion, als Stör­faktor“ auftreten. Hier drängen sich mir zwei Einwände auf. Zum einen verun­mög­licht der Auftrag, zu stören, echte Störung. Mehr noch: Irri­ta­tion in einer Job Descrip­tion als Leis­tungs­auf­trag zu veran­kern, erin­nert an die Quint­essenz neoli­be­ralen Wirt­schaf­tens: Busi­ness Punk! Zum anderen schaue ich als Kunst­his­to­riker in die Geschichte und stelle fest: Auto­ri­täre konzi­pierten Kunst­werke stets als Vorbilder. Sie liessen Kunst­werke schaffen, damit sich Menschen damit iden­ti­fi­zierten. Eigen­sin­nige, wider­stän­dige Kunst hingegen brachte Werke hervor, die sich Herr­schafts­lo­giken, und seien diese noch so freund­lich, wider­setzten. Es ist unmög­lich, einer­seits von Kunst zu verlangen, sie solle tatsäch­lich stören, und ande­rer­seits, man solle sich im Sinne eines leuch­tenden, zärt­li­chen Vorbilds mit ihr iden­ti­fi­zieren – oder täusche ich mich? Bin ich in einem Entweder-Oder gefangen? Hänge ich meiner­seits einem Idea­lismus an?

MS: Natür­lich kann man Irri­ta­tion nicht verordnen. Los, provo­zier’ jetzt! Aber da das ja ein rotie­rendes Amt sein soll – 1½ bis 2 Jahre – und damit kein*e Parlamentspoet*in so lange im Amt bleibt, um sich dort gemüt­lich breit zu machen, hätten sie die Chance, U-Boote im stillen Wasser des Parla­ments zu sein. Wie sie das Amt verstehen, stünde dann den jewei­ligen PPs frei. Ob es PPs gibt, die zärt­lich und verstö­rend sein können, weiß ich nicht. Wahr­schein­lich wird es auch welche geben, die schlicht schlecht sind. In dieser Rolle. Denn es ist ja ein Expe­ri­ment. Doch es hat das Poten­tial, etwas zu bewegen. Ansonsten würden ja nicht alle Medien in diesem Land und sogar inter­na­tional darüber berichten. Das ist eine Idee, die etwas in Menschen berührt.

JS: Euer Satz „seit Mensch­heits­be­ginn haben wir uns mit Hilfe von Geschichten und Gedichten unserer selbst versi­chert, Verän­de­rungen verar­beitet und uns in die Zukunft hinein entworfen“ legt Geschichten und Gedichte auf eine bestimmte Wirkung fest. Er liesse sich wie folgt umdichten: „Seit Mensch­heits­be­ginn haben wir mit Hilfe von Geschichten und Gedichten unsere Gegen­über verun­si­chert, Verän­de­rungen verun­mög­licht und uns in die Vergan­gen­heit verbissen.“ Anders gesagt: Je nach Macht­in­ter­esse kann der Parla­ments­poet bald diese, bald jene Wirkung haben. Es gibt keine Poesie­ga­rantie. Poesie auf Heilung oder Brücken­bauen fest­zu­legen hiesse, sie ihrer konsti­tu­tiven Offen­heit, die doch das eigent­liche Wagnis des Poeti­schen ist, zu berauben – und zu unter­schätzen, dass Poeten seit Mensch­heits­be­ginn die poli­ti­sche Macht nicht nur hinter­fragt, sondern sie auch glori­fi­ziert und selbst nach ihr gestrebt haben.

MS: Ich glaube, Geschichten haben viele Funk­tionen: zu unter­halten, uns Angst zu machen, uns die Angst zu nehmen etc. etc. Aber sie sind auch das Medium, in dem wir uns entwerfen. Wir werden sozu­sagen erst zu uns, indem wir uns Geschichten über uns erzählen. Und diese Geschichten können konstruktiv und destruktiv sein. Sie können uns zu sozialen Wesen machen oder uns erzählen, dass wir die Herr­scher­rasse sind … ist ja klar, was ich sagen will. Deshalb finde ich es nur folge­richtig, wenn unser Parla­ment sagt: Wir wollen diesem Medium – Storytel­ling – einen ange­mes­senen Platz geben. Es durch die Ernen­nung eines*r PP sozu­sagen würdigen. Natür­lich werden Narra­tive an so vielen unter­schied­li­chen Orten gemacht – in den Medien, in sozialen Medien, in der Werbung, in der Politik – aber diese Produk­tion durch das Amt des*r PP sichtbar zu machen, das ist uns ein Anliegen. Denn der*die PP soll ja nicht Gedichte verfassen, die dann auf irgend­einer Inter­net­seite abge­druckt werden, sondern es geht darum, Texte zu performen. Es geht um den direkten Kontakt mit Parlamentarier*innen und Bevöl­ke­rung. Es geht darum, öffent­liche Anlässe zu schaffen, das Gespräch über unsere Narra­tive zu eröffnen. Dabei kann es sowohl um Heilung oder Versöh­nung als auch um Aufrüt­teln oder sogar Skan­da­li­sie­rung gehen.

JS: Ihr schreibt: „Politik ist das, was uns direkt und unmit­telbar betrifft“ – zum Glück ist das nicht so! Libe­rale Demo­kratie bedeutet doch eher, dass uns Politik viel­fach indi­rekt und vermit­telt betrifft. Durch Ästhe­ti­sie­rung eine möglichst innige Verbin­dung zwischen Staat und Gesell­schaft, zwischen Regie­rung und Regierten herzu­stellen, war das Anliegen Novalis’. Dieses Anliegen ist anschluss­fähig an orga­ni­sche Staats­auf­fas­sungen. Im Anar­chismus indes, der im Grunde nur in kleinen Gruppen funk­tio­niert – und auch das nur, wie die Erfah­rung zeigt, begrenzt – sind Direkt­heit und Unmit­tel­bar­keit etwas anderes. Viele Anar­chisten wollen ja gerade weg vom Parla­men­ta­rismus und von der Reprä­sen­ta­tion, hin zu Liebe und Selbst­or­ga­ni­sa­tion, mithin zu Räten, Genos­sen­schaften, Syndi­katen. Kann Parla­ments­poesie also über­haupt gelingen, ohne die parla­men­ta­ri­sche Demo­kratie zu reformieren?

MS: In der Pandemie hat die Politik uns so erschre­ckend direkt betroffen. Und plötz­lich wurde das, was vorher mittelbar und dadurch oft unsichtbar statt­fand, sehr unmit­telbar. Die Hoff­nung ist, dass es eine Zeit nach der Pandemie geben wird, in der diese Auswir­kungen wieder indi­rekt werden. Aber sie sind ja trotzdem da: Politik greift in unser Leben ein, ob wir das nun wahr­haben oder nicht. Deshalb ist eine der Aufgaben der*s PP, diese Wege sichtbar zu machen. Das machen auch poli­ti­sche Kommen­tare und Debat­ten­bei­träge. Aber es ist schon verblüf­fend, wie lange es gedauert hat, bis ich verstanden habe, was zum Beispiel CumEx ist, und warum wir alle dafür bezahlen müssen. Wie toll wäre es, wenn das in einer Sprache verlautbar würde, die Menschen wie einen Ohrwurm nicht mehr vergessen können. Soll und wird der*die PP alle Skan­dale herunter-rappen? Natür­lich nicht. Aber viel­leicht einen davon, und damit wäre bereits viel gewonnen. Nebenbei fände ich eine Umstruk­tu­rie­rung der Demo­kratie – Beispiel: Räte­re­pu­blik – auch eine tolle Idee. Aber schließt sich das aus? Wenn ja, wäre der*die PP so umwer­fend toll, dass wir sie*ihn drin­gend bräuchten.

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JS: Im Mani­fest erhebt ihr die Forde­rung nach „einer Sprache, die wir alle verstehen, nicht weil sie einfach ist, sondern weil sie uns berührt“. Wer aber sind „wir alle“? Scheint hier nicht der über­kom­mene univer­sa­lis­ti­sche Traum einer Welt­sprache auf, wie man ihn einst auch mit der Abstrak­tion verbunden hat? Eine Sprache, die alle verstehen, weil sie alle – glei­cher­massen – berührt, wider­spricht für mich dem Ideal einer diversen, pluralen Gesell­schaft. Pole­misch gesagt: Werbung eignet sich dafür besser als Kunst und Poesie. Emotio­nale Berüh­rungen in der Kunst sind nicht planbar – was die einen mit Liebe erfüllt, schürt in anderen Wut; was die einen verbindet, trennt die anderen. Wieder andere sind völlig indif­fe­rent. Zeit­ge­nös­si­sche Kunst ist – so zumin­dest sehe ich sie – zuvor­derst Medium dessen, was nicht alle berührt, was nicht alle wollen, was nicht alle können, was nicht alle sollen, was nicht alle müssen.

MS: Das ist das Argu­ment, das mich tatsäch­lich über­zeugt. Ja, Sprache kann nicht immer alle glei­cher­maßen berühren. Aber die Sprache der Politik berührt mich einfach in der Regel gar nicht. Ich muss mich zwingen, mir Debatten anzu­schauen, weil das mein Job ist. Deshalb wäre ich schon glück­lich über eine Sprache, die mehr Menschen berührt, weil sie von einem Menschen gespro­chen wird, dessen Haupt­werk­zeug die Sprache ist.

JS: Mein letzter Einwand betrifft die hohe Bedeu­tung, die ihr Emotionen beimesst. Kürz­lich sass ich mit dem Feuil­le­ton­chef einer grossen deut­schen Zeitung zusammen. Er bestä­tigte mir, was viele Unter­su­chungen zeigen: Im Internet laufen emotio­nale, auf Biogra­fi­schem aufbau­ende Beiträge sehr gut – Trauer, Empö­rung, Angst, Wut, Frust, aber auch Fun und Ekstase. Das wird geklickt, geteilt, kommen­tiert, da wird iden­ti­fi­ziert und kondem­niert, da laufen die Landing Pages und die Sozialen Netz­werke heiss. Bei komplexen Sach­themen und heraus­for­dernden Argu­men­ta­tionen hingegen steigen viele aus oder lassen sich gar nicht erst darauf ein – dabei ist die Ausein­an­der­set­zung genau damit in Zeiten künst­lich geschürter Konflikte und stra­te­gi­scher Emotio­na­li­sie­rung sehr wichtig. Diese Tendenz, so scheint mir, spie­gelt sich im Verhältnis Aktivismus-Politik. Akti­vismus ist derzeit sexy. Man lobby­iert für ein klar umris­senes Anliegen, mit dem man sich, nicht zuletzt emotional, iden­ti­fi­ziert. Ziel akti­vis­ti­scher Kampa­gnen ist es meist, Andere dazu zu bringen, etwas zu tun. Nicht zuletzt ener­ge­ti­siert Akti­vismus – die Ener­gien sind kana­li­siert, die Kräfte gebün­delt! Real­po­litik hingegen ist und muss in weiten Teilen dröge Kärner­ar­beit sein, geprägt von der Ausein­an­der­set­zung mit Zahlen und Statis­tiken, zähen Abstim­mungen, Beschaf­fung und Allo­ka­tion ewig knapper Ressourcen, lang­wie­rigen Aushand­lungs­pro­zessen, Kompro­missen und Kuhhän­deln. Wenig über­ra­schend hat Politik, vor allem auf lokaler und regio­naler Ebene, massive Nach­wuchs­pro­bleme, während an akti­vis­ti­schen Peti­tionen und Kampa­gnen keine Knapp­heit besteht. Vor diesem Hinter­grund, so ich ihn denn leid­lich korrekt erfasst habe, könnte die Parla­ments­poesie auf unfrei­wil­lige Art zu einer Verstär­kung der Flucht vor harten Sach­fragen an der konkreten, mate­ri­ellen Basis ins Emotio­nale bedeuten, ja die real exis­tie­renden Probleme mit rheto­ri­schem Feen­staub bepu­dern! Oder gehen nun die Emotionen – womög­lich sind sie ja schon gänz­lich versach­licht! – mit mir durch? Könnte es gar geheime Wege geben, wie die Poesie Real- und Sach­po­litik attrak­tiver machen könnte, ohne dass man Novalis als Consul­tant hinzu­ziehen müsste?

An dieser Stelle stünde eigent­lich die Antwort Mithus – allein, ein gewisses Virus und damit einher­ge­hende Fieber­schübe machten ihr vor Redak­ti­ons­schluss einen Strich durch die Rech­nung. So wird nun der Fort­gang der real exis­tie­renden poli­ti­schen wie auch poeti­schen Geschichte die Antwort darauf geben, ob meine Bedenken berech­tigt waren – oder nur Ausdruck einer emoti­ons­pho­bi­schen Klein­bür­ger­men­ta­lität, die sich mit allerlei Sophis­te­reien einer „Heilung“ der Politik durch Dich­tung versperrt…

(Anmer­kung der Redak­tion: Wir fügen Mithu Sanyals Antwort gerne später ein und wünschen zwischen­zeitig gute Besserung!)