Svenja Goltermann: Verschwörungstheorien ziehen Millionen von Menschen in ihren Bann; dies wird im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sehr deutlich. Das Spektrum an irreführendenden und gelegentlich auch gefährlichen Fake News ist breit, es reicht von der Behauptung, geheime Mächte hätten die Pandemie in Gang gesetzt, um eine „neue Weltordnung“ zu etablieren, bis hin zu Erklärungen aus dem Kreis der Esoteriker:innen, einen Beweis für das Corona-Virus gäbe es überhaupt nicht, entsprechend müsse man sich auch dem „Impfwahnsinn“ widersetzen.
Monica, Du bist Historikerin und forschst seit Jahren zur europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, insbesondere zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Dein jüngstes Buch ist gerade erschienen A Demon-Haunted Land: Witches, Wonder Doctors, and the Ghosts of the Past in Post-WWII Germany. Handelt es sich um ein Buch über Verschwörungsmythen?
Monica Black: Ja und nein, würde ich sagen – wobei es in meinem Buch definitiv um Zugänge geht, die Welt zu begreifen, die heute schwer zu verstehen sind und uns manchmal ziemlich abstoßend erscheinen können. Im Wesentlichen versucht das Buch, einen Aspekt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu erfassen, der für Historiker:innen oft schwer zugänglich ist: Es geht um die spirituellen und sozialpsychologischen Effekte, die die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Offenlegung des Holocaust auf die deutsche Gesellschaft hatten. Ich behaupte, dass Deutschland nach der Niederlage sowohl in physischer als auch in metaphysischer Hinsicht zerbrochen war. Die Niederlage warf eine Reihe äußerst schwieriger Fragen nach moralischer Schuld und Verantwortung sowie nach Verurteilung und juristischer Schuld auf.
Hannah Arendt beschrieb bekanntlich die „Realitätsflucht“ der Nachkriegsdeutschen und ihre Unfähigkeit, „zwischen Fakten und Meinungen zu unterscheiden“. Aber es gab auch Gründe dafür, dass die Realität keinen Sinn mehr machte. Die Welt an sich – das Leben, die Alltagswirklichkeit, die physische Umwelt, die menschlichen Beziehungen, die ganze Art und Weise, wie man die Welt wahrnahm und verstand – war dramatisch und gewaltsam erschüttert worden. Ich untersuche das Unbehagen, die Verwerfungen und die Entfremdung, die die Menschen in diesen Jahren empfanden; in einer Zeit, die wir gewöhnlich mit dem Wirtschaftswunder und dem raschen Wiederaufbau in Verbindung bringen. Es war aber eben auch die Zeit, in der der Wunderheiler Bruno Gröning berühmt wurde; eine Zeit, in der es einen rasanten Anstieg von Anschuldigungen zwischen Nachbarn gab, die sich der Hexerei bezichtigten, und in der sich auch die Zahl der Marienerscheinungen und weiterer scheinbar „unzeitgemäßer“ Phänomene erheblich vervielfältigte.
SG: Ich habe ein wenig über diesen Wunderheiler Bruno Gröning recherchiert, der in Deinem Buch eine zentrale Rolle spielt. Er starb 1959 und doch ist er heute alles andere als vergessen, wofür der 1979 ins Leben gerufene „Bruno Gröning-Freundeskreis“ sorgt, der nach wie vor den „Heilfluss“ Grönings beschwört, der auch heute noch wirke. 12.000 bis 60.000 Anhänger:innen sollen dem „Freundeskreis“ heute angehören. Laut FAZ war er damit 2018 „eine der größten Psychogruppen im Land“. Was macht nun die Figur Bruno Gröning historisch interessant?

Bruno Gröning in Herford, 1949, mit Briefen von Anhängern; Quelle: youtube.com
MB: Mich interessiert weniger die Person Gröning als vielmehr das, was wir durch sie über die Nachkriegsgesellschaft rauskriegen können. Als Gröning in Herford auftauchte, hatte gerade eine Flut apokalyptischer Gerüchte das Land aufgewirbelt. Sein Besuch fiel buchstäblich mit dem Datum zusammen, für das diese Gerüchte, die über Mund-zu-Mund-Propaganda und über Zeitungen weit verbreitet worden waren, das Ende der Welt vorausgesagt hatten. Dadurch erhielt seine Erscheinung eine spezifische Bedeutung: Der erwartete Weltuntergang war einer Zeit der Heilung und Erlösung gewichen. Dies ist nur ein Beispiel, an dem wir etwas von der heilbringenden Wirkung wahrnehmen können, die Menschen mit Gröning verbanden.
SG: Könnte es auch sein, dass Gröning im Hinblick auf die Medizin eine Leerstelle füllte?
MB: Ja, tatsächlich nahm Gröning in der Nachkriegszeit eine ganz besondere Stellung ein. Zwar waren Formen der übernatürlichen oder magischen Heilung für eine große Anzahl von Menschen sehr attraktiv; das war schon vor dem NS-Regime so, währenddessen und nach dessen Ende. In diesem Sinne war Gröning Teil eines umfassenderen und schon länger bestehenden Phänomens. In der Nachkriegszeit war Gröning jedoch für weite Teile der Bevölkerung ein Objekt enormer Anziehungskraft – auch für solche, die einen Heiler wie ihn eigentlich nicht aufgesucht hätten. Die Medizin war im „Dritten Reich“ bekanntlich korrumpiert, pervertiert und zu eugenischen Zwecken eingesetzt worden.
Viele Menschen waren in den Nachkriegsjahren Ärzten gegenüber misstrauisch oder hatten das Gefühl, die Medizin habe sie im Stich gelassen. Doch während Menschen mit allen erdenklichen Beschwerden zu Gröning kamen, hatte er seine größten Erfolge angeblich bei der Behandlung von Menschen mit Formen plötzlicher Lähmungen – Menschen etwa, die nicht mehr gehen konnten –, aber auch von vorübergehender Blindheit.
Das fand ich besonders interessant, weil es in meinen Augen die Frage aufwirft, was denn genau die Gesellschaft nach dem Krieg plagte und was Bruno Gröning heilte, wenn er Menschen behandelte. Es waren soziale Formen von Krankheit, Formen von Krankheit, die aus Misstrauen und Entfremdung entstanden. Die Menschen vertrauten Gröning in einer Weise, in der sie meinten, anderen, auch ihren Ärzten, nicht mehr vertrauen zu können. Sie wollten ihn treffen, mit ihm sitzen, ihm nahe sein, mit ihm sprechen.

Anhänger Grönings beim Traberhof in Rosenheim, 1949; Quelle: YouTube.com
SG: Gröning war aber nicht unumstritten, richtig?
MB: Anfang der 1950er Jahre wurde Gröning wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz vor Gericht gestellt und von Alexander Mitscherlich einer Fernanalyse unterzogen, der in ihm eine Art Hitler 2.0 sah. Mitscherlich wies darauf hin, dass Gröning eine gewisse Mystik kultivierte, die solche Meinungen stärkte – seine Neigung, sich ganz in Schwarz zu kleiden und auf Balkonen zu stehen, um die Menschen bei seinen Versammlungen anzusprechen. Und Mitscherlich war nicht der Einzige, der Gröning mit einer Mischung aus Skepsis und Furcht betrachtete. Vielen war nicht klar, was er genau repräsentierte, welche Wirkung er hatte und was genau seine Absichten waren. Aber in vielerlei Hinsicht scheint Gröning über die Reaktionen, die er von der Öffentlichkeit erhielt, genauso überrascht (und sogar alarmiert) gewesen zu sein wie seine Kritiker. Er war beispielsweise fassungslos, wie viele Menschen bei manchen Anlässen zu ihm kamen. Einmal sagte er der Presse: „Jedes Wohnhaus ist ein Krankenhaus“, als sei er schockiert von der schieren Menge der menschlichen Not. Deshalb wollte ich auch hier die Art dieser Reaktionen verstehen, um die Bedürfnisse und was sie ausdrückten, entziffern zu können – also die verschiedenen Arten des Leidens, die in diesen Versammlungen um seine Person zum Ausdruck kamen, und die eben nicht alle biologisch oder physisch waren.
SG: Es gibt ein weiteres, bemerkenswertes Phänomen in der Nachkriegszeit, das Du eingangs bereits erwähnt hast, und das sind die Anschuldigungen, Hexerei zu betreiben. Zwischen Ende der 1940er bis Ende der 1950er Jahre stiegen diese Fälle beträchtlich. Trotzdem haben Zeithistoriker:innen bisher nichts darüber geschrieben. …
MB: Ja, erstaunlich, denn verschiedene überregionale Medien berichteten ausführlich über diesen Anstieg; und in den Landesregierungen, unter Klerikern, Journalisten, Akademikern, Meinungsforschern und vielen anderen war man über diese Entwicklung ziemlich besorgt. Auch wenn wir Anschuldigungen wegen Hexerei mit der Frühen Neuzeit in Verbindung bringen, hörten solche Denunziationen eigentlich nie auf. Sie führten nach dem 18. Jahrhundert einfach nicht mehr zu großangelegten klerikalen Untersuchungen und Hinrichtungen. Seine Nachbarin oder seinen Nachbarn der Hexerei zu bezichtigen, war also weder ein unbekanntes Phänomen noch war es für Deutschland spezifisch. Die Frage allerdings ist: Warum dieser plötzliche Anstieg nach dem Zweiten Weltkrieg?
Anthropolog:innen und Historiker:innen, die sich mit dem Thema Hexen beschäftigen, würden sagen, dass Ängste vor Hexen – und Hexenvorwürfe – eher in Momenten der Instabilität und Unsicherheit auftauchen, in Momenten, die der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sehr ähnlich sind. Im Grunde genommen ist die Beschuldigung, eine Hexe zu sein, gleichbedeutend mit der Beschuldigung, an einer Verschwörung beteiligt zu sein, sich mit dämonischen Kräften verschworen zu haben, um verdeckt Böses zu tun – um Schaden, Unglück und Krankheit zu verursachen. In diesem Sinne kann man den Vorwurf der Hexerei als einen Ausdruck des zwischenmenschlichen und gemeinschaftlichen Konflikts verstehen.
SG: Könntest Du noch etwas genauer ausführen, was das mit Blick auf die Nachkriegszeit meint?

Quelle: Der Spiegel, 4. April 1951
MB: Ein Fall, für den es noch zahlreiche Zeugnisse gibt, ereignete sich in Dithmarschen, als ein örtlicher Heiler eine Flut von Gerüchten über Hexen in der Nachbarschaft auslöste. Als ich diese riesige Akte in den Archiven in Schleswig las, entdeckte ich, wie dicht unter der Oberfläche des täglichen Lebens verschiedene soziale Spannungen fortbestanden, die mit der Nazi-Vergangenheit zusammenhingen, und wie leicht ein Gefühl des Unbehagens und des Misstrauens auch noch zehn Jahre nach Kriegsende entfacht werden konnte.
Wir müssen uns klarmachen, was für eine angespannte Atmosphäre in einigen Gemeinden herrschte, vor allem in Gegenden, in denen jeder jeden kannte. Viele Menschen in den 1950er Jahren erinnerten sich nur allzu gut daran, wie sich die neue nationalsozialistische Ordnung mit der Machtübernahme durch die Diktatur etabliert hatte – an die Art und Weise, wie die neuen Machthaber Eigentum, Macht und Positionen an sich rissen und unter Freunden und Verbündeten verteilten. Nach 1945 verloren dieselben Freunde und Verbündeten dann manchmal ihre unrechtmäßig erworbenen Besitzstände. Diejenigen, die im „Dritten Reich“ soziale und andere Formen der Macht besaßen und sie dann wieder verloren, lebten Seite an Seite mit denjenigen, die ihre Macht zuvor eingebüßt hatten und sie jetzt nach dem Krieg zurückgewannen. In Gemeinschaften, in denen ‚Hexerei‘ ein Idiom des sozialen Konflikts war, war das eine Situation, in der solche Anschuldigungen hochkamen.
Die ganze Geschichte war nicht so unglaublich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Schließlich hatten die Hexerei-Vorwürfe gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus. Eine der Hauptfiguren des Buches, ein ehemaliger Schullehrer namens Johann Kruse, der sich intensiv darum bemühte, die Öffentlichkeit über die sozial verheerenden Aspekte von Hexerei-Vorwürfen aufzuklären, erkannte dieses Problem bereits in den 1920er Jahren. Er beobachtete, wie oft die Menschen in schwierigen Zeiten nach einem Schuldigen suchten, wenn es Probleme gab. Und nicht selten, so stellte er fest, hing dies mit dem zusammen, was er Judenhetze nannte. Anders formuliert: Sowohl Hexerei-Vorwürfe als auch Antisemitismus waren Formen des sozialen ‚Othering‘, die die Suche nach einem Sündenbock beinhalteten, nach jemandem, dem man die Schuld geben kann, wenn etwas schiefläuft.
SG: Anfang der 1960er Jahre war diese Welle an Hexerei-Anschuldigungen wieder abgeebbt. Hast Du eine Erklärung dafür?
MB: Die Ängste und das soziale Misstrauen, die diese Anschuldigungen in erster Linie auslösten, schwächten sich in den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg allmählich ab. Allerdings wird der Vorwurf der Hexerei auch oft durch eine Vielzahl von Ereignissen angetrieben, und eine damit in Gang gesetzte Suche nach Antworten, die erklärbar machen, warum man eine Pechsträhne nach der anderen erlebt. In den späten 1950er und frühen 60er Jahren begann sich das Leben vieler Menschen erheblich zu verbessern. Materiell gesehen standen viele besser da als jemals zuvor. Und mit zunehmendem Abstand zum Kriegsende schwand allmählich die Angst, der Nachbar könnte einen latenten Groll hegen oder einen wegen eines früheren Vergehens bloßstellen.
SG: Eine letzte Frage, mit der ich gerne noch einmal den Bogen in die Gegenwart schlagen würde. Gibt es etwas, was Du aus Deiner Beschäftigung mit den Verschwörungsmythen und Phantasmen der Nachkriegszeit ziehen konntest, um die gegenwärtige Konjunktur an Verschwörungsmythen besser zu verstehen?
MB: Wichtig wäre mir Folgendes: In einer Gesellschaft wie der Deinen oder der meinen – in Deutschland und den USA –, gibt es eine anhaltende Neigung, ein Aufblühen von übernatürlichem Denken oder Verschwörungsvorstellungen nicht nur als zutiefst befremdlich, sondern sogar als unverständlich zu betrachten, und eigentlich als zu abstrus, um sich darüber viele Gedanken zu machen. Die moderne Welt soll sich ja unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie sich von der Angst vor Hexen oder Vorstellungen von dämonischen Verschwörungen distanziert, die man üblicherweise mit einer früheren Zeit verbindet.
Als Historikerin (und auch US-Amerikanerin!) erschien mir diese Annahme schon immer ganz offensichtlich falsch. Wie Du schon sagst, verbreiten sich in der heutigen Zeit die wildesten Verschwörungstheorien mit unglaublicher Geschwindigkeit über modernste Technologien – man denke nur an QAnon mit seinen Behauptungen über Satan anbetende kannibalische Sex-Händler in der Demokratischen Partei. Tatsächlich gibt es oftmals, so scheint mir, eine sonderbare Überschneidung zwischen der Verbreitung neuer Technologien in unserer Welt und vermeintlich überholten Ängsten. Das müsste eigentlich denjenigen, die von der Rationalität der Moderne überzeugt sind, zu denken geben.
Festhalten würde ich aber auch: Elemente der QAnon-Verschwörungstheorie haben eine frappierende Ähnlichkeit mit der sogenannten „satanischen Panik“ der 1980er Jahre in den USA und in Großbritannien. Es gibt nur wenige Berichte, die ich gelesen habe, in denen versucht wurde, diese Verbindungen genauer herauszuarbeiten. Allerdings scheint es hier sowohl um ein kulturelles Gedächtnis zu gehen – das heißt, um die Art von Motiven und Ideen, die immer wieder aufgegriffen werden – als auch um eine anthropologische Frage. Warum sind Menschen über alle Zeiten und Kulturen hinweg so fasziniert von Vorstellungen über das übernatürlich Böse, und warum sind diese Vorstellungen so oft mit dem Trinken von Blut und anderen Formen der körperlichen Verletzung verbunden? Für mich als Historikerin gehört dies zu den Fragen, über die ich gerne mehr herausfinden würde.
Monica Black, A Demon-Haunted Land: Witches, Wonder Doctors, and the Ghosts in Post-WWII Germany, New York 2020
Das Buch erscheint 2021 in deutscher Übersetzung bei Klett-Cotta.
Übersetzung: Svenja Goltermann