Brigitta Bernet: Thomas Schärer – Sie arbeiten seit Jahren an der Schnittstelle von Geschichts- und Filmwissenschaft. Immer wieder haben Sie sich mit den Bilderwelten von 1968 beschäftigt. Zuletzt im Rahmen der Ausstellung „1968 Schweiz“, die bis Ende Juni im Historischen Museum in Bern zu sehen war und für die Sie das Filmprogramm konzipiert haben. Gibt es so etwas wie den 68er-Film?
Thomas Schärer: Wenn man den Blick etwas ausweitet, gibt es ihn. Die Perspektiven und Themen, die wir heute unter die Chiffre 68 subsumieren, wurden an unterschiedlichen Orten und teilweise schon länger vorbereitet. Das Jahr 1968 selbst stellt keine eigentliche Zäsur dar. In der Schweiz, zu der ich vor allem arbeite, entstand in diesem Jahr mit Jürg Hasslers Agitationsfilm Krawall zwar eine Chronik des Jahres 1968 in Zürich. Und auch Alain Tanner reiste im Mai 1968 nach Paris, um die Unruhen für das Westschweizer Fernsehen zu dokumentieren. Aber im gleichen Jahr kamen auch Filme ins Kino, deren Bildwelten von 1968 weitgehend unberührt waren, so zum Beispiel der im Genre des Heimatfilms verhaftete Die sechs Kummerbuben von Franz Schnyder.
Erneuerungswelle in Ost und West
Die 68er-Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, die etablierten Schablonen und Sehweisen aufzubrechen, mit denen die Welt der 1960er wahrgenommen wurde. Auch im Film galt die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel als Voraussetzung für beides: für die eigene Entwicklung und für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Welche Bilder sollten aufgebrochen werden? Was wollte man zeigen?
In den 1960er Jahren gab es eine Erneuerungswelle des europäischen Films. Inspiriert vom Autorenkino in der Nachfolge des italienischen Neorealismo und der französischen Nouvelle vague suchte man in Ost und West nach einer neuen Filmgrammatik. „Papas Kino ist tot“ hiess es 1962 in der BRD. Gegen das Kino der Väter wandte man sich auch in der Schweiz. Dieses zeichnete das Land typischerweise als alpine Idylle, die im schneebedeckten Bergpanorama gipfelte. Das war ein rückwärtsgewandtes Selbstbild, in dem die Ideologie der Geistigen Landesverteidigung und der Fortschrittsglaube der Hochkonjunktur ineinander griffen. Gegen diese Postkartenansicht wandte sich der neue Film mit Bildern, die eine andere Schweiz gleichsam von unten zeigten. Er interessierte sich für den Alltag und dafür, was an den Rändern der Gesellschaft vorging: In den Irrenanstalten, Gefängnissen, Fremdarbeitersiedlungen. Programmatisch kam dieser Aufbruch im Kurzfilmzyklus La Suisse s’interroge (1964) zum Ausdruck, den Henry Brandt an der Expo 64 in Lausanne zeigte. Seine Themen und Motive sind charakteristisch für spätere sozialkritische Filme: Arbeit und Entfremdung, Fremdenfeindlichkeit, Alter, Konsumgesellschaft, Umweltbelastung oder die Ausbeutung der Dritten Welt.

Die Schweiz von unten und von den Rändern her: Siamo italiani von Alexander J. Seiler (1964); Quelle: megamodo.com
Im gleichen Jahr erschien mit Alexander J. Seilers Siamo italiani ein eindrücklicher Dokumentarfilm, der den Alltag italienischer ArbeitsimmigrantInnen in der Schweiz in den Fokus rückt. Zu einer Zeit, als die bürgerliche Öffentlichkeit über das „Italienerproblem“ diskutierte, sprach Seiler mit italienischen FremdarbeiterInnen. Auch das sind zentrale Merkmale des 68er-Films: Der solidarisierende Blick auf AussenseiterInnen und das Interesse für den subjektiven Standpunkt.
Das klingt ein bisschen so, als hätten die neuen Filmschaffenden in der modernen Gesellschaft die Rolle von EthnologInnen eingenommen.
Der ethnologische Blick spielte eine wichtige Rolle. In der Hochphase der Geistigen Landesverteidigung begann die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde 1942 mit der Produktion von Filmen. Diese waren konservativ. Man bemühte sich um das Festhalten von Arbeitsformen und Traditionen, die im Verschwinden begriffen waren. So zum Beispiel die 1962 initiierte Film- und Publikationsreihe „Sterbendes Handwerk“ zu Glockengiessern, Hufschmiden oder Köhlern. Das lag zunächst ganz auf der Linie von Heimatmuseen und Heimatschutz. Dann ist es gekippt. Filmschaffende wie Yves Yersin, Jacqueline Veuve, Kurt Gloor oder Hans-Ulrich Schlumpf haben seit Mitte der 60er Jahre dazu beigetragen, diese Bilderwelten an sozialkritische Interpretationskontexte anzuschliessen. Ein Beispiel ist Kurt Gloors Dokumentarfilm Die Landschaftsgärter (1969). Er konfrontiert das ideologisch aufgeladene Bild der Alpen mit einer soziologischen Perspektive, die – in einem ebenso ideologisch aufgeladenen Gegenmodell – in den Bergen Slums, Proletariat und eine Dritte Welt vorfindet. Vermutlich war diese radikale Umkodierung der Bergwelt ein nötiger Emanzipationsschritt weg von den „Sonntagsbildern“.
In den siebziger Jahren wurden die Blicke differenzierter, ethnologischer. Etwa in Yves Yersins Die letzten Heimposameter (1974) zur schwindenden Seidenbandfabrikation in der Region Basel. In einem vielschichtigen Gewebe von Stimmen wird darin nicht nur die Arbeit an den Webstühlen erklärt. Beleuchtet wird auch die Funktionsweise eines Heimarbeitersystems, dass die PosameterInnen erst ausbeutete und dann wegrationalisierte. Das genaue Hinsehen, der Fokus auf den Alltag, der O-Ton der Porträtierten, aber auch das Fremdmachen des scheinbar Bekannten und die Vorstellung von der Kamera als Katalysator sozialer Prozesse: solche Einstellungen haben den neuen Film beeinflusst.
Das Nouveau Cinéma Suisse
In der Romandie begründeten Alain Tanner, Claude Goretta, Francis Reusser und Yves Yersin das Nouveau Cinéma Suisse. Es ist Alain Tanners Charles mort où vif (1969), der heute als einer der ersten 68er-Film der Schweiz gilt. Inwiefern stimmt das und was ist damit gemeint?

Befreiung in der Kunst. Das Ferment von 68 in Alain Tanners Charles mort ou vif (1969), Quelle: filmpodium.ch
Es stimmt insofern, als Alain Tanner selbst stets betont hat, dass er in diesem Film sein persönliches 68 verarbeitet hat. Tanner erzählt die Geschichte des 50jährigen Genfer Fabrikanten Charles, der während eines Fernsehinterviews realisiert, dass sein bisheriges Leben auf Selbsttäuschungen beruhte. Daraufhin verlässt er Betrieb und Familie, verschrottet sein Auto und kommt bei einem jungen Künstlerpaar auf dem Land unter. Bald schon spürt ihn sein karrieristischer Sohn auf und lässt ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen. Ob das jetzt wirklich der erste 68er-Film der Schweiz ist, sei dahingestellt. Sicher ist, dass man in Tanners Film das Ferment von 68 erkennen kann: Die Kritik an gesellschaftlichen Schlüsselinstitutionen wie Fabrik, Familie und Psychiatrie, der Blick auf die Entfremdungseffekte der kapitalistischen Konsumkultur, aber auch die Frage nach dem guten Leben.
Ein oft gehörter Gemeinplatz ist die Behauptung, dass 68 kulturell erfolgreich gewesen, aber politisch gescheitert sei. Inwiefern war der 68er Film eigentlich politisch?
Wenn man einmal von Agit-Filmen im engen Sinn absieht, so ist es die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, welche die Filmschaffenden beschäftigt hat. Und damit natürlich die Frage, wie der Film in die Realität eingreifen kann. In Frankreich, aber auch in der BRD und der Schweiz hat sich der Autorenfilm am Brecht’schen performativen Theater orientiert. Durch das Offenlegen der (filmischen) Produktionsbedingungen, durch Verfremdung und Unterbrechung der Handlung (etwa durch Kommentare und Zeitsprünge) wollte man vertraute Dinge in ein neues Licht rücken und so Widersprüche in der Gegenwart sichtbar machen. Diese Stilmittel finden wir beispielsweise bei Jean-Luc Godards La chinoise (1967). Godard hat diesen Spielfilm in kritischer Abgrenzung vom wirtschaftlichen und ästhetischen Imperialismus des US-Kinos gedreht. Anders als seine Nouvelle-Vague-Genossen Truffaut und Chabrol, die kommerzielle Grossproduktionen drehten, realisierte Godard ab 1968 zunehmend politisch engagierte, intellektuelle und auch sperrige Essays.

Jean-Luc Godard, La Chinoise, Plakat, 1967; Quelle: mubi.com
In La chinoise beschäftigt er sich ironisch-gebrochen mit dem Leben und Reden in einer Kommune französischer Jung-MaoistInnen in Paris. Ausgehend von Maos „kleinem rotem Buch“, das immer wieder gelesen und interpretiert wird, entwickeln die StudentInnen eine revolutionäre Perspektive, die im Film aber immer auch hinterfragt wird. Godard operiert mit dem Perspektivenwechsel: mit der Varianz von Nähe und Distanz, dem ständigen Wechsel des Genres und der Ebenen. La chinoise hat er einmal als Puzzle beschrieben, das die ZuschauerInnen in die sinngebenden Ordnungsprozesse einbeziehen will und aktiv involvieren in die Gestaltung und Veränderung der Realität.
Dekomposition des Blicks
Godard und sein Kino waren Teil der linksintellektuellen politischen Kultur Frankreichs. Filme waren und sind aber immer auch Teil einer kommerziellen Kultur. Es gibt doch auch Filme, die gar nicht besonders politisch waren und dennoch etwas transportieren, das wir heute mit 68 in Verbindung bringen.
68er-Filme waren Teil einer subversiven Kultur. Aber diese Kultur hatte nicht immer ein politisches und nicht immer ein linkes Programm. Die filmischen Rebellionen gegen den Konformismus der Nachkriegsgesellschaft wurden von der Kulturindustrie aufgegriffen. Auch die Werbung hat die neuen Bildsprachen schnell aufgenommen und kommerzialisiert. Dazu kommt, dass der allmähliche Rückgang der Zensur dem Genre der Softpornos den Weg ebnete. Auch im Avantgardefilm waren die neuen Blicke von 68 zunächst vielfach männliche Blicke auf nackte weibliche Körper.

„A man went looking for Amercia and couldn’t find it nowhere“. LSD-Szene im Film Easy Rider von Dennis Hopper, 1969
Zusammen mit Konzerten, Musik und Drogen waren Filme Teil einer Konsumkultur, die ein neues Lebensgefühl aufzunehmen und zu vermitteln suchte. Das gelang mit einem Film wie Easy Rider von Dennis Hopper (1969), der zum ersten grossen Erfolg des New-Hollywood-Kinos wurde.

Dekomposition der Bewusstseins-Industrie. Schlussszene aus Zabriskie Point (1970) von Michelangelo Antonioni; Quelle: estherhunziker.net
Ein anderes Beispiel, wo die Vereinnahmung nicht klappte, ist Zabriskie Point von Michelangelo Antonioni (1970). Der Film fiel bei der Première durch, löste einen Skandal aus und gilt heute – vielleicht gerade deshalb – als ein Schlüsselwerk des 68er-Films. Er wirft einen surreal verfremdeten Blick auf die amerikanische Konsumkultur und ihre Gegenentwürfe. In der berühmten Schlussszene explodiert zur Musik von Pink Floyd ein Haus: Kühlschränke, Fernseher, Esswaren und Kleider fliegen in Zeitlupe durch die Luft. Antonioni ging es hier aber weniger um die Vermittlung einer revolutionären Perspektive als um eine Dekomposition des Blicks auf die Wirklichkeit.
In den 1960er stand das Konzept des Realismus unter Ideologieverdacht. Mit Blick auf das Kino sprach man viel von „falschem Bewusstsein“ und setzte auf die Karte einer „Bewusstseinserweiterung“, unter anderem mit der Hilfe von Drogen. Inwiefern ist der 68er-Film auch ein Kind der Verbindung von LSD und Gegenkultur?
Gerade für die USA ist das eine entscheidende Tradition. Sie ist mit dem literarischen Schaffen der Beatgeneration um Allen Ginsberg, William S. Borroughs und Jack Kerouac eng verbunden. Hippies experimentierten mit Drogen, orientierten sich an östlichen Religionen und versuchten so, ihren Wahrnehmungsapparat zu dekonditionieren. LSD-Gurus wie Timothy Leary waren wichtig, ebenso neue Theaterformen wie das „Living Theater“. Auf beiden Seiten des Atlantiks entstanden Untergrund-Szenen, die Kunsttechniken hybridisierten und zu multimedialen Performances aus Licht, Musik, Film und Design amalgamierten. In diesen Milieus bewegten sich Poeten und Perfomer wie der Schweizer Urban Gwerder, der 1966 mit seiner multimedialen „Poetenz-Show“ auch in der BRD auf Tournee ging. Fredi Murer hat Gwerder im Experimentalfilm Chicorée (1966) porträtiert. Der Film nimmt auch den Dogmatismus und die Autoritätsgläubigkeit der Neuen Linken auf die Schippe.
Der Experimentalfilm war chic. In Zürich richtete Hans-Jakob Siber 1966 an der Plattenstrasse 27 den Filmklub „Filmforum“ ein. Er bearbeitete Filmrollen mit Nägeln und realisierte mit Die Sage vom alten Hirten Xeudi und seinem Freund Reimann (1974) eine alpine Rock-Oper. Bei der Wahrnehmung dieser Bilder spielten Musik und Drogen eine wichtige Rolle. Wenn es nach Siber gegangen wäre, dann hätte man zum Kinoticket automatisch einen Joint erhalten. Diese Subkultur mit ihren neuartigen Bildern und Tönen, faszinierte über die kleinen elitären Zirkel hinaus und entwickelte sich zu einem monetarisierbaren Gut. Der damalige Experimentalfilmer Dieter Meier organisierte mit Underground-Explosion eine kommerziell erfolgreiche Tournee mit Happenings, Performances, Musik und Film und setzte den Skandal gezielt als Werbemittel ein. Zwischen dem neuen Autorenfilm, der oft politisch motiviert war, und dem Experimentalfilm, der sich stärker an Poesie und Malerei anlehnte, gab es immer wieder Konflikte. Heute ist dieser zweite Strang des Filmschaffens um 1968 weitgehend in Vergessenheit geraten – eigentlich schade.

Still aus dem Film La chinoise von Jean-Luc Godard (1967); Quelle: thinkingthroughimages.wordpress.com
Filmschaffende haben die kognitive Einstellung der 68er-Generation geprägt und reflektiert. In den symbolischen Auseinandersetzungen um die legitime Sichtweise haben sie eine tragende Rolle gespielt. Was kann uns das Filmschaffen von 68 heute sagen?
Mir gefallen die Energie und die Experimentierfreude bei der damaligen Suche nach anderen Perspektiven. Und das Engagement, mit dem man eigene Bilderwelten schuf. Dagegen wirkt das Filmschaffen von heute erstaunlich konventionell. Die Möglichkeitsräume, die sich im Filmschaffen von 1968 öffneten und weiteten: sie irritieren uns heute noch. Vieles von dem, was man damals suchte, muss immer noch und immer wieder neu gefunden werden.