Fake-Ereignisse sind nicht bloß Fake-News, sie erschüttern das Verhältnis von Politik, Realität und Medien auf eine andere Weise. Ein Essay über Frank Underwood und Arkadij Babčenko.

Nach 59 Folgen House of Cards und damit nach Hunderten von Intrigen, Lügen und Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen fragt die aktu­elle Wahl­kampf­ma­na­gerin des ameri­ka­ni­schen Seri­en­prä­si­den­ten­paars Under­wood irri­tiert: „Passiert gerade wirk­lich etwas?“ Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht, ob die gemel­dete Bedro­hung durch einen verschwun­denen LKW-Transporter, der radio­ak­tives Mate­rial geladen hat, vom eigenen Wahl­kampf­team zur Anhei­zung der Angst vor Terror und damit zur Siche­rung von Wähler­stimmen insze­niert wurde. Oder ob es doch ‚echte‘ Terro­risten sind, die den Trans­porter gestohlen haben? Oder ob es über­haupt nur eine Meldung, nur ein Gerücht ist.

Die Unsi­cher­heit ist durchaus berech­tigt, denn in der poli­ti­schen Trick­kiste der Under­woods werden nicht nur bedroh­liche Ereig­nisse insze­niert, die Wähler­stimmen sichern sollen, sondern es werden Kollegen oder kriti­sche Jour­na­lis­tinnen reihen­weise aus dem Weg geräumt. Diese Morde werden vom Team Under­wood wahl­weise als Selbst­morde oder als Unfälle vorge­täuscht. Alles, was Frank und auch Claire Under­woods Karriere gefährden könnte, wird mani­pu­liert: umge­dreht, umge­wertet, wegin­sze­niert oder hininszeniert. 

Als Kevin Spacey, der Frank Under­wood darstellt, im Zuge der ameri­ka­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahl 2016 gefragt wurde, wie eine mögliche TV-Debatte zwischen ihm als Frank Under­wood und Donald Trump verlaufen würde, blieb er in seiner Rolle und antwor­tete: „Er [Trump] würde gar nicht hinkommen. Auf dem Weg würde es einen schreck­li­chen Unfall geben. Schreck­lich und sehr traurig.“ 

Das Fake-Ereignis

Dass Fake-Ereignisse nicht bloß in Filmen vorkommen, hat Ende Mai der in Kiev vorge­täuschte Mord am russi­schen Schrift­steller Arkadij Babčenko auf erschre­ckende Weise vorge­führt: mit Masken­bild­nern, echtem Blut, Einschuß­lö­chern auf dem T-Shirt, Polizei, Ärzten, Kran­ken­wagen, Pres­se­mit­tei­lung. Er hat uns daran erin­nert, dass wir es nicht nur mit Fake-News, also mit der medialen Erfin­dung von Ereig­nissen, die nicht statt­ge­funden haben, zu tun haben können, sondern auch mit Fake-Ereignissen, also mit Ereig­nissen, die zwar statt­finden, aber nur so tun ‚als ob‘. Sie finden statt, aber sie sind nicht das, was sie zu sein scheinen, sie sind ‚gemacht‘, geplant, gecastet, geprobt und greifen damit in unsere Vorstel­lung von der Kontin­genz der Geschichte ein. Und sie haben ganz unter­schied­liche Funk­tionen: Fake-Ereignisse dienen der Desin­for­ma­tion und, mögli­cher­weise, der Aufde­ckung derselben. 

„Crisis Actor Babchenko.“

Das vom ukrai­ni­schen Geheim­dienst geplante Fake-Ereignis – im Geheim­dienst­jargon eine „aktive Maßnahme“ – war ein vorge­täuschter Mord, um einen rich­tigen Mord, eine andere, vom russi­schen Geheim­dienst erwar­tete „aktive Maßnahme“ zu verhin­dern. Zumin­dest wird das vom ukrai­ni­schen Geheim­dienst und von Babčenko so erzählt. Bereits einen Tag später, nach der Verhaf­tung eines am mutmaß­li­chen Mord­kom­plott Betei­ligten, wurde die Insze­nie­rung offen­ge­legt. Babčenko und der ukrai­ni­sche Geheim­dienst­chef Vasilij Gricak traten vor die Presse, um die Aktion zu erklären und zu rechtfertigen. 

Das wiederum ist eine für Geheim­dienste unge­wöhn­liche Aktion. Denn das „Offen­legen des Verfah­rens“ gehört eigent­lich nicht zum Reper­toire geheim­dienst­li­cher Kommu­ni­ka­tion. Man stelle sich vor, Stalin hätte nach der Insze­nie­rung der Schau­pro­zesse bekannt­ge­geben, dass die Geständ­nisse der Ange­klagten nur erfunden wurden, um weitere Sabo­ta­ge­akte zu verhin­dern und die eigent­li­chen Draht­zieher zu fassen. Und dann wären Bucharin und alle anderen später lebend wieder aufge­taucht oder gar nicht erst ins Lager gekommen… Dieses Gedan­ken­spiel aber zeigt bereits, dass Fake-Ereignisse nicht gleich Fake-Ereignisse sind, denn es ist im Fall der Schau­pro­zesse ja genau anders herum: Weil die Geständ­nisse nur erfunden waren, mussten die Ange­klagten sterben. Es war gerade die Insze­nie­rung, die um jeden Preis verdeckt werden musste. 

Thea­tro­kratie – Spek­ta­kel­ge­sell­schaft – Postdemokratie

Theater und Politik sind histo­risch und konzep­tuell schon immer eng verbunden. Aber nicht jede poli­ti­sche Insze­nie­rung ist ein Fake-Ereignis. Wenn zum Beispiel der russi­sche Thea­ter­his­to­riker Nikolaj Evreinov schon in den 1910er Jahren von einer Thea­tro­kratie spricht, auch in der Politik, dann will er uns nahe­legen, es sei naiv anzu­nehmen, dass im Alltag nicht immer auch Theater gespielt werde. In diesem Sinne ist die Reprä­sen­ta­tion und die Stell­ver­tre­tung eine notwen­dige demo­kra­ti­sche Insze­nie­rung, die poli­ti­sche Macht nicht als provi­dentia dei (gött­liche Vorher­se­hung) oder als Natur­recht (Erbrecht auf Macht) denkt, sondern als verein­bart und wählbar zeigt. Damit aber ist die poli­ti­sche Insze­nie­rung nicht als Betrug adres­siert, nicht als Fake, sondern nur als ‚gemacht‘.

Zbigniew Libera, „Kolarze,“ Foto 120 x180 cm, Reihe: pozytwy, Reinsze­nie­rung des „fröh­li­chen Fotos“, das bis heute den Beginn des 2. Welt­kriegs darstellt. Quelle: culture.pl

Mit Walter Benja­mins Kritik an der „Ästhe­ti­sie­rung der Politik“, die er im Faschismus und absur­der­weise nicht in Stalins ‚Kommu­nismus‘ beob­ach­tete, und mit Guy Debords Buch zur Gesell­schaft des Spek­ta­kels (1967), das auf den Kapi­ta­lismus gerichtet ist, rückte der Insze­nie­rungs­cha­rakter von Ideo­lo­gien bzw. die Idee von Ideo­logie als Insze­nie­rung deut­li­cher in den Fokus. Debord schreibt, das Spek­takel sei eine ins „Mate­ri­elle über­tra­gene Welt­an­schauung moderner Gesell­schaften“. Von dort aus ist es nicht mehr weit zu Jacques Rancières und Colin Crouchs Über­le­gungen zur Post­de­mo­kratie, in der Parti­zi­pa­tion immer mehr zu einem markt­kon­formen Spek­takel verkommt, während die poli­ti­schen Entschei­dungen anderswo, hinter den Kulissen, gefällt werden.

1939: Polen­feldzug, bei Danzig, Straße Zoppot-Gdingen. Unifor­mierte Männer, die sich lachend an einem Schlag­baum zu schaffen machen, Quelle: wikpedia.org

In keiner dieser Theo­rien geht es aber um das, was wir im Fall von Babčenko oder in der Serie House of Cards bei den Under­woods beob­achten können: die Herstel­lung von konkreten Fake-Ereignissen zur Schaf­fung histo­ri­scher Tatsa­chen. Diese Praxis gehört zur Geschichte der Desin­for­ma­tion, die Bestand­teil eines mani­pu­la­tiven poli­ti­schen Handelns ist, mit dem sogar Welt­kriege ausge­löst werden können (so etwa mit dem fingierten Über­fall der Nazis auf den Sender Glei­witz). Diese Ereig­nisse bleiben in der Regel verborgen, oder werden erst im Nach­hinein sichtbar, wenn z.B., wie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Osteu­ropa, die Archive aufgehen und geheim­dienst­liche Prak­tiken unter­sucht werden können. 

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Der russi­sche Philo­soph Michael Ryklin beob­achtet gegen­wärtig in Russ­land eine Wieder­kehr dieser mani­pu­la­tiven Praxis, die aller­dings nicht mehr im Dienste einer Ideo­logie steht. Er nennt diese Form von Politik „opera­tive Politik“; ihr Kenn­zei­chen ist es, Geheim­dienst­me­thoden, also vor allem Desin­for­ma­tion, zur gängigen poli­ti­schen Praxis zu machen. Das ist nicht unbe­dingt neu, das sowje­ti­sche Desin­for­ma­ti­ons­wissen wird weiter verwendet, es dient aber einem anderen Ziel: „Putin wieder­holt manisch, die Politik sei der Ort, an dem die Geheim­dienste mitein­ander konkur­rieren“, so Ryklin. Dabei geht es aber nicht mehr darum, eine Ideo­logie zu insze­nieren wie damals in der Sowjet­union. Die mani­pu­la­tive Desin­for­ma­tion dient viel­mehr nur noch dem bloßen Macht­er­halt. Und ohne die Verbin­dung zu House of Cards über­stra­pa­zieren zu wollen – auch Frank Under­wood hat kein poli­ti­sches Programm, sein poli­ti­sches Programm ist er selbst: „Er hat keine Ideo­logie und keine Vision! Das ist unheim­lich“, so der Kommentar eines Jour­na­listen im Film.

Hinter den Kulissen

Ryklin schreibt über die Folge dieser Politik, dass ihr öffent­li­cher, sicht­barer Teil eine „Fiktion für die Nicht­ein­ge­weihten“ sei, „derje­nigen, die des einzig reellen geheimen Wissens nicht teil­haftig sind.“ Deshalb ist viel­leicht auch House of Cards ein solcher Erfolg, weil die Serie den angeb­li­chen Blick hinter die Kulissen ermög­licht. Im Unter­schied zum Theater oder zum Film, bei dem der Blick hinter die Kulissen ledig­lich dazu führt, zu verstehen, wie ein Regis­seur probt, wie er mit seinen Schau­spie­lern arbeitet, erhofft man sich vom Blick hinter die Kulissen der Politik die Klärung der Frage, ob bzw. wieviel Insze­nie­rung zu entlarven ist. Die Enthül­lung, das Entfernen der Maske ist auf das Theater selbst gerichtet. 

Still aus House of Cards, kurz vor dem „Selbst­mord“ an Zoe Barnes, Quelle: foxlife.it

Aller­dings ist House of Cards wohl eher eine Satire über eben dieses Begehren. Denn die Serie legt nichts offen, sie enthüllt keine tatsäch­li­chen poli­ti­schen Intrigen, auch nicht die Machen­schaften konkreter Poli­tiker, sondern höchs­tens unseren Wunsch, überall dort, wo wir selbst nicht hinsehen können, nur das Schlimmste zu vermuten. House of Cards funk­tio­niert wie die Phan­tasie einer Mutter, die ihren unbe­ob­ach­teten Kindern stets unter­stellt, Blöd­sinn zu machen, oder wie ein Ehemann, der sich jedes Treffen seiner Frau mit einem anderen Mann als perverse Sexorgie vorstellt. 

Die Regis­seure James Foley und David Fincher sind aber keine Verschwö­rungs­theo­re­tiker, sie wollen uns nicht weis­ma­chen, dass Politik reine Insze­nie­rung ist und dass es nur wenige sind, die im Hinter­grund die Strippen ziehen. Sie wollen eher die poten­ti­ellen Verschwö­rungs­theo­re­tiker in uns befrie­digen, indem sie unsere dunkelsten Vorstel­lungen vom poli­ti­schen Handeln ausleuchten. 

Die Fake-Ereignisse der Verschwörungstheoretiker

Verschwö­rungs­theo­re­tiker disqua­li­fi­zieren Ereig­nisse gerne dann als insze­niert, wenn die Autor­schaft ihnen poli­tisch nicht in den Kram passt. So wurde unlängst das Gerücht in die Welt gesetzt, dass die Schüler aus Park­land in Florida, die sich gegen die Waffen­lobby der USA einsetzten, bloß Schau­spieler seien, die im ganzen Land einge­setzt werden, wenn es darum geht, Trumps Politik zu kriti­sieren. Auch der wieder­holte Versuch, sämt­liche Wider­stands­be­we­gungen in Osteu­ropa, beson­ders in der Ukraine, als vom Westen bezahlte Propa­ganda zu diskre­di­tieren, ist ein beliebtes poli­ti­sches Verschwö­rungs­nar­rativ, das auf die Idee abzielt, es handle sich bei Wider­stand gegen Auto­kra­tien nur um Theater. 

Im Fall der vorge­täuschten Ermor­dung von Babčenko haben vielen russi­sche Medien eben­falls mit einem Verschwö­rungs­nar­rativ geant­wortet. Es wurde behauptet, die ganze Aktion basiere auf einer „russo­pho­bi­schen Verschwö­rung“ der Ukrainer, man habe das Fake-Ereignis nur statt­finden lassen, um die Unter­stel­lung des angeb­lich geplanten Auftrags­mordes in Szene setzen und dadurch Russ­land schaden zu können. So wird die Offen­le­gung als Höhe­punkt der Insze­nie­rung gelesen, d.h. als ihr eigent­li­ches Ziel, denn mit diesem angeb­li­chen „Offen­legen“ könne die Schuld direkt dem russi­schen Geheim­dienst in die Schuhe geschoben werden. In der Folge hat die russi­sche Presse zudem die gesamte Glaub­wür­dig­keit ukrai­ni­scher und west­eu­ro­päi­scher Medi­en­be­richt­erstat­tung (die „toll­wü­tigen Russen­hasser in unseren deut­schen Quali­täts­me­dien“, wie RT sich ausdrückte) in Zweifel gezogen und versucht, die „neue“ Unglaub­wür­dig­keit auch für den Abschuss der MH17 und weiterer Jour­na­lis­ten­morde auszunutzen.

Foto vom angeb­li­chen Bomben­alarm im teatr.doc Moskau, 2014

Dabei ist das Schaffen von Fake-Ereignissen gerade in Russ­land – aller­dings ohne die anschlies­sende Offen­le­gung – ein beliebtes Verfahren, wie u.a. eine Bomben­dro­hung 2014 im teatr.doc, dem bekann­testen Off-Theater Moskau zeigt. Dort sollte der Doku­men­tar­film Stärker als Waffen (2014) von Igor Savy­chenko – ein Film über den Wider­stand auf dem Majdan und den Krieg in der Ost-Ukraine – vorge­führt werden. Dies wurde jedoch durch eine Bomben­dro­hung erfolg­reich verhin­dert. Kurz vor Beginn der Vorfüh­rung platzten etwa zwanzig Poli­zisten gemeinsam mit Beamten des Kultur­mi­nis­te­riums in den Keller, evaku­ierten die Zuschauer und demon­tierten beinahe nebenbei das Film­vor­führ­gerät, beschlag­nahmten den Film, verwüs­teten die Räum­lich­keiten und zerstörten Requi­siten. Die Film­vor­füh­rung konnte nicht mehr statt­finden. Die Bewohner über dem Kino hatte man jedoch bei der Evaku­ie­rung ‚vergessen‘.

Während sich Fake-News anhand der ‚Realität‘ letzt­lich meis­tens über­prüfen lassen, sind Fake-Ereignisse gerade auf ‚Unwi­der­leg­bar­keit‘ hin ange­legt. Das erschüt­tert unser Verhältnis zur Realität auf eine andere Weise, denn es geht nicht mehr um die Frage, ob Medien falsch berichten, sondern darum, dass sie vom ‚Falschen‘, vom ‚Fingierten‘ als Realem berichten. Wer darüber schreibt, weiß erst im Moment der Offen­le­gung, insbe­son­dere wenn man einen Nachruf auf Arkadij Babčenko veröf­fent­licht hat, dass man über ein Fake-Ereignis zugleich ‚wahr‘ berichten kann und die Mittei­lung trotzdem falsch ist. „Das ist unheim­lich“, um es mit dem fiktiven Jour­na­listen in House of Cards zu sagen, jener Serie, die uns so ‚unwahr­schein­lich wahr­haftig‘ vorkommt.