Der öffentliche Diskurs über Geflüchtete findet zumeist unter dem Ausschluss der Geflüchteten selbst statt. Dabei kämpfen refugees auf vielfältige Weise für ihre Rechte. Diese Kämpfe zu verstehen, wird für die Zukunft richtungsweisend sein.

  • Sharon Saameli

    Sharon Saameli studiert im Master Philosophie und Soziologie an der Universität Basel. Sie ist Aktivistin der Autonomen Schule Zürich und arbeitet ausserdem als Journalistin.

Inter­es­sierte Leser*innen werden die Debatten der letzten Wochen verfolgt haben: Im Kanton Zürich erleben abge­wie­sene Asyl­su­chende in diesen Wochen ein neues Mass an behörd­li­cher Gewalt. Seit Februar dieses Jahres müssen sie sich statt bisher dreimal pro Woche plötz­lich zweimal täglich in der ihnen zuge­wie­senen Notun­ter­kunft melden – und seit Anfang dieses Monats herrscht Über­nach­tungs­pflicht. So gross­zügig verschie­denste Medien in den vergan­genen Wochen auch darüber berichtet haben, wie sich Jurist*innen mit der Sicher­heits­di­rek­tion des Kantons Zürich über die Recht­mäs­sig­keit dieser Zwangs­mass­nahmen streiten, und wie der Feldzug von SP-Regierungsrat Mario Fehr nicht zuletzt dazu geführt hat, dass der kanto­nale Partei­prä­si­dent seinen Stuhl räumt: Mir scheint, dass in all dem an den zentralen Fragen und Zusam­men­hängen vorbei­dis­ku­tiert wird.

Aussen vor gelassen wird etwa, wie weit der Staat in der Beschnei­dung von grund­le­genden Rechten wie etwa jenem auf Bewe­gungs­frei­heit oder auf Privat­sphäre gehen darf – und warum die Betrof­fenen der neuen Mass­nahmen in der Debatte fast gänz­lich stumm bleiben. Wer ist Teil des demo­kra­ti­schen Diskurses in der Schweiz? Wer hat nicht nur die Macht, seine Stimme zu erheben und seine Inter­essen zur Sprache zu bringen, sondern wem wird dabei auch zuge­hört? Es wird einmal mehr deut­lich, dass der Diskurs über Geflüch­tete zumeist unter der Bedin­gung des Ausschlusses der Geflüch­teten selbst geführt wird. Ich denke, dass dieser Ausschluss kein Versehen ist, und dass er mit dem staat­li­chen Kampf um Legi­ti­ma­tion und Lega­lität zu tun hat.

Staat – Nation – Bürgerschaft?

Natür­lich benö­tigt jede Gemein­schaft bestimmte Prak­tiken und Prin­zi­pien, um über ihre Zuge­hö­rig­keit zu bestimmen. Das zieht auch den Bedarf einer Abgren­zung nach sich: So und so defi­nierte Grenzen defi­nieren die einen als Mitglieder der commu­nity, die anderen als Fremde. Demge­mäss bestimmt sich eine Nation durch eine Vorstel­lung von Zusam­men­ge­hö­rig­keit, die sich aus einer gemein­samen Geschichte, Reli­gion, Kultur und Sprache sowie einem gemein­samen Terri­to­rium speist. Die Menschen, die in dieser Nation leben, haben mit der Erklä­rung der Menschen- und Bürger­rechte in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion den Titel «Bürger*in» erhalten: Die Bürger­schaft wurde als Haupt­ka­te­gorie einge­führt, um die Zuge­hö­rig­keit zum Natio­nal­staat zu regeln, und der Staat hat seither gemäss seiner jewei­ligen Verfas­sung die Aufgabe, «seine» Bürger*innen zu schützen und ihre Rechte zu garan­tieren. Wie der Erwerb des Bürger­rechts erfolgt, liegt jeweils in der Entschei­dungs­macht des Staates: in der Schweiz entweder über das Abstam­mungs­prinzip oder durch Einbür­ge­rung auf Gemein­de­ebene, wobei klar regle­men­tiert ist, wer zum Antritt des kompli­zierten Verfah­rens berech­tigt ist und wer nicht.

Diese Verbin­dung von Natio­nal­staat, Bürger­schaft und Terri­to­rium (bzw. Grenze) ist eine hege­mo­niale. Das heisst, sie hat oberste Gültig­keit, obwohl ihre Bestand­teile und die ihnen unter­stellte Selbst­ver­ständ­lich­keit und Einheit­lich­keit ein Konstrukt sind und immer waren. Gerade weil sie eben nicht vom Himmel gefallen sind, sind sie darauf ange­wiesen, über feine Mecha­nismen von einer Viel­zahl von Menschen – haupt­säch­lich natür­lich den Bürger*innen – repro­du­ziert zu werden. An die Macht des Staates muss geglaubt werden. Der Philo­soph Louis Althusser sprach in diesem Zusam­men­hang von «ideo­lo­gi­schen Staats­ap­pa­raten», die gemeinsam ein System von Meinungen repro­du­zieren, bzw. Theorie und Ansichten darüber, wie ein Staat aufge­baut und regiert sein sollte. Die Repro­duk­tion dieses Glau­bens­sys­tems hat verschie­dene Facetten, die einen sind fried­li­cher, die anderen gewalt­voller. Beson­ders macht­voll aber sind sie dann, wenn der Staat mit Finger­ab­drü­cken in Auffang­zen­tren, Buch­sta­ben­bü­ro­kra­tien auf Migra­ti­ons­äm­tern und Soldat*innen an der Staats­grenze Zuge­hö­rig­keit und Ausschluss regu­liert und über diese Gesten die „natio­nale Iden­tität“ befestigt.

Grenz­bahnhof Chiasso, Juni 2015; Quelle: blick.ch

In dieses Szenario treten nun Subjekte ein, die vom Land ihrer Geburt, ihrer Nation und der dadurch defi­nierten Gemein­schaft getrennt sind, und die diese von den Bürger*innen gemeinte Homo­ge­nität aufbre­chen: die refu­gees. Allein mit der Grenz­über­schrei­tung und mit ihrer Anwe­sen­heit in der Gesell­schaft setzen sie ein grosses Frage­zei­chen hinter die «natür­liche» Sess­haf­tig­keit von Staatsbürger*innen; sie erzählen andere Geschichten, Geschichten der Bewe­gung und der Post­ko­lo­nia­lität. Weil aber der Ausgangs­punkt aller Über­le­gungen der Natio­nal­staat und die Bürger­schaft sind, ist die Figur der refu­gees prekär. Geflüch­tete weichen von der Norm der Bürger*innen ab und werden deshalb durch­wegs als mangel­haft konstru­iert: Ihnen mangelt es nicht nur an einem sicheren Zuhause und einer sicheren sozio­kul­tu­rellen Zuge­hö­rig­keit, sondern auch an einer Bindung zu einem Staat.

Der Diskurs über Geflüch­tete verläuft aus diesem Grund zumeist in zwei Rich­tungen: Entweder sind sie Opfer von Krieg und Elend, von Gescheh­nissen also, für die sie nichts können, und bedürfen der Hilfe und der Barm­her­zig­keit. Oder sie stellen als Neuan­kömm­linge eine Gefahr für den Wohl­stand der bestehenden und als stabil betrach­teten Gemein­schaft dar. In beiden Fällen aber werden die refu­gees für unfähig erklärt, als aktive und intel­li­gente Subjekte zu agieren. Das hängt damit zusammen, dass sie die elemen­taren Annahmen des Zusam­men­le­bens –der Natio­nal­staat und der Primat der Bürger­schaft– grund­le­gend infrage stellen. Die Sprach­lo­sig­keit der Geflüch­teten im «demo­kra­ti­schen» Diskurs ergibt genau hier Sinn: Für ein derart arti­fi­zi­elles Gebilde wie den Natio­nal­staat und die darauf begrün­dete Iden­tität sind solche Fragen gefähr­lich. Deshalb werden Geflüch­tete stumm­ge­schaltet und ihre Hand­lungen und ihre Anwe­sen­heit für grund­sätz­lich proble­ma­tisch befunden.

An abge­wie­senen Asyl­su­chenden zeigt sich sehr deut­lich, wie stark die Indi­vi­du­al­rechte an den Besitz der «rich­tigen» Papiere gebunden sind: Legale Erwerbs­tä­tig­keit ist ihnen verboten, weshalb sie entweder von Nothilfe leben (rund 8.50 Franken pro Tag) oder einer nicht­ge­re­gelten Arbeit nach­gehen und entspre­chend wenig geschützt sind. Das Recht auf freie Nieder­las­sung haben sie nicht, dafür wird ihnen eine jener dürf­tigen Unter­künfte zuge­teilt, die von einer gewinn­ori­en­tierten Sozi­al­firma verwaltet werden und von denen allein im Kanton Zürich zwei unter­ir­di­sche Bunker sind. Dazu kommt die stän­dige Angst vor poli­zei­li­cher Repres­sion, vor Verhaf­tung, Inhaf­tie­rung und Ausschaf­fung. Deshalb sind diese Menschen nicht frei, sie leben unter äusserst prekären Umständen und kennen kaum stabile Gefässe, in denen ihre Meinung, ja ihr Spre­chen Geltung und Gehör finden könnte.

Recht entsteht, wenn es ausgeübt wird

Auslän­der­aus­weise; Quelle: nzz.ch

Ich wurde darauf hinge­wiesen, dass es dennoch falsch wäre, aus dieser Beschrei­bung abzu­leiten, dass Geflüch­tete deswegen rechts­lose Subjekte seien. Das stimmt aus zwei Gründen. Selbst abge­wie­sene Asyl­su­chende haben Anrecht auf Nothilfe und den Zugang zu medi­zi­ni­scher Versor­gung und Schul­bil­dung. Je nach Status (N, F oder B) erwei­tern sich diese Ansprüche auf Sozi­al­hilfe, auf den Zugang zum Arbeits­markt oder auf Inte­gra­ti­ons­mass­nahmen des Bundes. Auch wenn diese Rechte auf dem Papier exis­tieren, können sie aller­dings in der Praxis nur schwer einge­for­dert werden; gerade abge­wie­sene Geflüch­tete, deren Anwe­sen­heits­be­rech­ti­gung verwirkt ist, lähmt die Angst vor behörd­li­cher Gewalt und Frei­heits­be­rau­bung derart, dass es ihnen grosse Mühe bereitet, für ihre Rechte einzustehen.

Der zweite Grund liegt darin begründet, dass das Poli­ti­sche nicht auf ein schon defi­niertes Terri­to­rium und seine «legalen» Subjekte beschränkt ist, sondern immer darüber hinaus­geht. Dass Geflüch­tete faktisch Rechte haben, leitet sich aus ihrer Hand­lungs­fä­hig­keit selbst ab. Darauf weisen seit einigen Jahren die critical citi­zen­ship studies hin: Bürger­schaft wird dabei nicht mehr als blosser recht­li­cher Status verstanden, sondern als Praxis, unab­hängig des jewei­ligen Buch­sta­bens, den das Gesetz einem Menschen zuschreibt. Das Recht entsteht faktisch erst dadurch, dass von ihm Gebrauch gemacht und es ausgeübt wird. Das Recht auf Bewe­gungs­frei­heit beispiels­weise entsteht dadurch, dass sich abge­wie­sene Asyl­su­chende ihrer Eingren­zung auf das ihnen zuge­wie­sene Gemein­de­ge­biet wider­setzen und trotzdem in die Stadt fahren. Das Recht auf poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion entsteht dadurch, dass Geflüch­tete Peti­tionen unter­schreiben oder an Demons­tra­tionen teil­nehmen – oder noch besser, sie selber orga­ni­sieren. Das Recht auf Stadt wird dadurch zur Realität, dass sie bei Freund*innen schlafen, Häuser und Kirchen besetzen und an der kultu­rellen Viel­falt teil­haben, die Städte kenn­zeichnet. Und das Recht auf freie Meinungs­äus­se­rung wird Realität, wenn sie Zeitungen gründen, Inter­views geben und Kunst­ak­tionen in der Öffent­lich­keit orga­ni­sieren. Es sind Kämpfe aus der Macht- und Sprach­lo­sig­keit, die hier selbst­or­ga­ni­siert geführt werden. Projekte wie die Papier­lose Zeitung oder enough zeugen davon, wie diese Auto­nomie aussehen kann. Hier wird Storytel­ling zum poli­ti­schen Akt, zu einem Werk­zeug, um mit anderen Geschichten andere Perspek­tiven aufzu­zeigen, um Einblicke zu geben und Meinungen zu ändern.

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Ein Teil dieser Aktionen steht unter dem Label «ziviler Unge­horsam», andere sind legal – gemeinsam ist ihnen, dass es Mut braucht, sie auszu­führen. Zahl­reiche Menschen zeigen diesen Mut tagtäg­lich: Sie wider­setzen sich der Ohnmacht und Sprach­lo­sig­keit, die ihnen zuge­schrieben wird, weil sie sich nicht auf das «blosse Leben» redu­zieren lassen wollen, von denen Giorgio Agamben in Homo Sacer gespro­chen hat.

Die blinde Angst verlernen

Pinwand in einem Asyl­heim in der Schweiz, 2015; Quelle: sonntagszeitung.ch

Viel­leicht ist nach diesen Ausfüh­rungen eine (und für diesen Text die letzte) Frage offen: Warum soll man jenen über­haupt zuhören, die den Mut aufbringen, ihre Bedürf­nisse, Wünsche, Sehn­süchte zu arti­ku­lieren? Wahr­schein­lich liegt dort der Hund begraben und nicht in der unter­stellten Sprech­un­fä­hig­keit von refu­gees, denn auch wenn dies erstaunen mag: Ihre Münder bewegen sich von allein.

Zunächst einmal lohnt es sich, aufmerksam zuzu­hören, weil eine radikal andere Perspek­tive auf die Gesell­schaft hilft, sie besser zu verstehen. «Es genügt, dass sie uns zeigen, was wir aus ihnen gemacht haben, um zu erkennen, was wir aus uns gemacht haben», hat Jean-Paul Sartre einmal fest­ge­halten. Es hilft, den erschre­ckenden Konsens infrage zu stellen, dass diese Menschen einge­sperrt gehören, dass man sie verjagen oder wenigs­tens so schlecht behan­deln darf, bis sie selber von dannen ziehen. Es hilft, die blinde Angst vor dem Anderen zu verstehen und zu verlernen, Gelas­sen­heit und gemein­same Anknüp­fungs­punkte zu finden und Inte­gra­tion nicht mehr als reine Anpas­sungs­leis­tung der «Neuen» zu verstehen, sondern als gemein­same Praxis, zu der jede*r einen Teil beitragen kann.

Vor allem aber hilft es, einen Zukunfts­ent­wurf zu entde­cken, in dem Werte wie Frei­heit, Gleich­be­rech­ti­gung und Demo­kratie tatsäch­lich ernst genommen werden. «Dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwa­chen» gehört dann nicht mehr nur aufs Papier, sondern in die Realität des Zusammenlebens.