Der WDR strahlte am Montag, den 30. November 2020 um 22.15 Uhr zum ersten Mal den so genannten Meinungstalk „Die letzte Instanz“ aus. Bis auf sehr vereinzelte Reaktionen (auf Twitter) blieb dem Sender und dem TV-Publikum unbewusst, wieviel Rassismus hier ausgelebt wurde. Erst als die Zweitausstrahlung am Freitag, den 29. Januar 2021 um 23.30 Uhr von der einflussreichen Autorin Jasmina Kuhnke in einem Tweet deutlich kritisiert wurde, gab es Reaktionen auf allen journalistischen Kanälen. In den sozialen Medien brach ein Sturm der Entrüstung los, woraufhin die Sendung in der Mediathek vom WDR mit einem Disclaimer versehen wurde: Kontroverse Themen würden in diesem Sendeformat auf unterhaltsame Weise präsentiert werden, allerdings wäre eine Beteiligung von Betroffenen richtiger gewesen, heißt es dort und: „wir lernen daraus und werden es besser machen.“
Was wurde uns zu sehen gegeben? Der Moderator Steffen Hallaschka hatte die Schauspielerin Janine Kunze, TV-Entertainer Thomas Gottschalk, Schlagersänger Jürgen Milski und Moderator Micky Beisenherz zu einer Talkrunde eingeladen. Besprochen und entschieden werden sollte u.a. zum Thema „Das Ende der Zigeunersoße – ein notwendiger Schritt?“ Es wurde also problematisiert, ob ein Wort in der Alltagssprache sanktioniert werden soll. Die Sendung heißt „Die letzte Instanz“ und will an die höchste Gerichtsbarkeit erinnern, eine endgültige, nicht mehr verhandelbare Urteilssprechung. Das Publikum, im Saal und an den Fernsehgeräten, wurde schließlich auch zur Abstimmung gebeten.
„…in meiner Welt…“
Die Frage, ob heute das Z-Wort (und auch N- und M-Wort) im Alltag benutzt werden darf, führte in diesem Kreis zu einer einhelligen negativen Distanzierung. Mit der Begründung eines in Kindheit und Jugend entwickelten Wertekanons (Gottschalk) fühlten sich die Gäste einer anderen Welt zugehörig: „Ich komme aus einer Generation, wo es überhaupt kein Problem war (…) da haben wir uns überhaupt keine Gedanken drüber gemacht“ (Milski), „Ich habe das auch nie thematisiert“ (Kunze), „Es gibt eine zwanghafte Sensibilität“ (Gottschalk), „Ich persönlich finde das Zigeuner-Schnitzel nicht weiter schlimm“ (Beisenherz), „Ich kümmere mich in meiner Welt, in meinem naiven Kosmos um Dinge, die ich für wichtig erachte“ (Kunze).
Was hier vor Augen geführt wurde, ist das, was in postkolonialen Studien als Othering bezeichnet wird: Ein Prozess, in dem Menschen andere in andere verwandeln, sie konstruieren. Eine Grenze wird gezogen zwischen dem, was ist wie Ich (same) und was vom Ich verschieden ist (different). Es ist in der Regel eine Distanzierung, die die anderen als Fremde aburteilt, aber auch eine Konturierung des Selbst, der eigenen Gruppe („in meiner Welt“, „in meiner Generation“). Ging es in der Sendung nicht eben nur darum, wie sich die Gäste selbst wahrnehmen? Der Gadjé-Rassismus versteckt sich hinter einem unschuldigen Narrativ: ‚Ich hab‘ mir nichts dabei gedacht, ich hab‘ das immer so gemacht‘. Durch die vielfache Wiederholung von Z-Wort und N/M-Wort in der Sendung wurde suggeriert: ‚Seht ihr, ich sage das, ich kann mir das erlauben hier im Fernsehen‘ – ein Diskurs, der andere einlädt, es gleich zu tun. Mit Sprache Identitätspolitik zu betreiben, andere abzuwerten und über sie zu bestimmen, zeigt das mangelnde gesellschaftliche Bewusstsein darüber. Das haben die vielen Kommentare zu dieser WDR-Sendung bereits reflektiert.
Erstaunlicherweise völlig unberücksichtigt blieb in dieser Debatte die rassifizierende Dimension von Unterhaltung – die Belustigung auf Kosten anderer. Kulturhistorisch zeigt sich hier ein altes Muster: Sint:izze und Rom:nja zu Objekten der Unterhaltung zu machen. Dieses Othering hat historische Vorbilder. Ein Blick zurück auf verschiedene Unterhaltungsmedien kann helfen zu verstehen, was die Unterhaltungskünstler:innen in der Show des WDR praktiziert haben und wie sehr sie sich damit in eine lange Geschichte einschreiben.
„Märchenhafte Figuren“ im 19. Jahrhundert
Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in der deutschen Literatur z. B. bei Achim von Arnim und Clemens Brentano Sinti und Roma (mit dem Z-Wort) als nicht zu Europa gehörig bezeichnet. Die Lebensweise dieser ‚anderen‘ ist meistens als ärmlich, aber auch als bewunderungswürdig frei und ungebunden beschrieben worden. Heinrich Heine hat sie als märchenhafte Figuren mystifiziert, wie der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal herausarbeitete. In Alexander Puschkins „Die Zigeuner“ (1827) wurde das innere Bild von Freiheit evoziert. Und schließlich Esmeralda in Victor Hugos „Der Glöckner von Notre Dame“ – sie ist die Frau, die die Leser:innen mit ihrem Tanz am Feuer und ihrem Gesang in ihren Bann schlägt. Sie ist „braun“, „übernatürlich“, „schlank“, mit buntem Rock, langen dunklen Haaren und „funkelnden Augen“.
Solche stereotypen Darstellungen markierten einerseits das Anderssein und beflügelten andererseits in der Lust des Lesens die romantische Phantasie. In dieser bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts waren viele Rom:nja als Schausteller:innen in Europa unterwegs, die mit Musik, Zirkuskünsten, als Bärentreiber und mit artistischen Darbietungen das Publikum auf dem Land und in der Stadt unterhielten. In der langen Ahnenreihe von Künstler:innen stehen aber auch der in den 1930er Jahren weltberühmt gewordene Jazzmusiker Django Reinhardt und der von französischen Manouche gegründete, noch heute existierende Zirkus „Romanes“. Der heutige Direktor und Poet Alexandre Romanes, dessen Gedichte bei Gallimard erscheinen, bewirbt ihn als „Einzigen Zigeunerzirkus Europas“. Sein Spiel mit Stereotypen soll diese bekämpfen, er jongliert gleichsam mit den alten Bildern und Vorurteilen.
Negative Romantisierung der Genre-Fotografie
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird von den Gadjé der Unterhaltungswert von Sint:izze und Rom:nja auch visualisiert: Auf Gemälden und populärem Wandschmuck erscheinen Menschen, die lasziv und exotisch gekleidet sind, die sich dem Spiel, dem Müßiggang, der Musik mit Geige und Laute hingeben.
In der Fotografie, die um 1900 in standardisierten Formaten verbilligt angeboten wurde, erfand die Genrefotografie Inszenierungen ganz ähnlicher Art: Einzelne Erwachsene, Kinder oder kleine Gruppen wurden im Fotostudio in quasi authentischer Kleidung arrangiert: Geflickte Hosen und Jacken wurden präsentiert, viele Schichten Kleidung übereinander, trachtenähnlich oder verziert, aber im Vergleich zur zeitgenössischen Porträtfotografie ungewöhnlich. Die Inszenierung des „Z“ sollte deutlich unterscheidbar sein von der bürgerlichen Studio-Fotografie. Die Sammelbildchen dieser ‚anderen‘ (die heute noch auf Pinterest unter dem Z-Wort als Vintage-Fotos vertrieben werden) waren folkloristische Szenen mit Musikinstrumenten, mit üppigen langen Haaren, lustigen Hüten, manchmal mit Staffage als Zeichen ihrer Tätigkeit (z. B. Kesselflicken). Laszive Blicke und Posen von Frauen sollten den „gypsy style“ zementieren. Othering bedeutete hier, ein Fremdbild von Rom:nja zu modellieren, das den Ausschluss der Menschen aus der Gemeinschaft mit Vergnüglichkeit verknüpfte.
Von der diskriminierenden und tödlichen Ausgrenzung im Nationalsozialismus
Die Fabrikation des „Z“ wurde zum multimedialen Spektakel. In Literatur, Bildender Kunst und Fotografie wurden die Stereotype und Mythen des vermeintlichen Andersseins wiederholt und man schrieb voneinander ab. Seit dem 19. Jahrhundert reproduzierten die volkskundlich interessierten sogenannten „Zigeuner-Freunde“ den Blick der jeweiligen Dominanzgesellschaft. In Romanen, Kinderbüchern und Aufsätzen wurden die ethnografischen Studien verarbeitet. Überliefert sind Beschreibungen des angeblichen Andersseins in der folkloristischen, internationalen Gypsy Lore Society und Fotosammlungen in vielen Museen.
Nicht erst seit den 1930er Jahren, aber im Nationalsozialismus systematisch, wurde Othering durch Polizei und das „Rassenhygienische Forschungsinstitut“ bestimmt. Die einst der Unterhaltung dienenden fotografischen Genre-Darstellungen von rauchenden, tanzenden, Alkoholtrinkenden „Z“ waren Kippbilder, die in dieser Zeit für die Ausgrenzungspolitik verwendet wurden. Die Fremdbilder, die jetzt neu entstanden, waren polizeiliche Erfassungsfotos und rassenbiologische Fotos von nackten Körpern, von Nasen und Händen. Zunächst an den Stadtrand vertrieben, ghettoisiert, in KZs zur Zwangsarbeit deportiert und in Vernichtungszentren ins Gas getrieben, sind im Nationalsozialismus europaweit wahrscheinlich mehr als 500.000 Sint:izze und Rom:nja ermordet worden.
Nur einmal noch wurden sie mit Unterhaltung (für die Mehrheitsgesellschaft) in Zusammenhang gebracht: Leni Riefenstahl suchte 1941 für ihren Propagandafilm „Tiefland“ – der erst 1954 in den Kinos gezeigt wurde – persönlich Statisten im Zwangslager Marzahn aus. Vielen von ihnen kamen in Konzentrationslagern um.
Nachkriegsunterhaltung: „Du schwarzer Zigeuner“
In den 1950er Jahren ging es – nicht nur mit „Tiefland“ – sofort weiter mit der Gadjé-rassistischen Unterhaltung in der postnazistischen Gesellschaft. Der Porajmos, der Völkermord, wurde abgespalten und eine kritische und mediale Aufarbeitung der Verfolgung und Ermordung von Sint:izze und Rom:nja im NS erfolgte erst Jahrzehnte später. In der Nachkriegszeit dominierten populärwissenschaftliche Geschichtsbücher über Rom:nja und Sint:izze mit Rückgriff auf Bilder und anthropologisches Material aus dem Nationalsozialismus. Sogenannte „Tsiganologen“ wie der bis in die 1980er Jahre einflussreiche Arzt und renitente Rassenhygieniker Hermann Arnold knüpften daran nahtlos an, indem sie weiter kriminalisierten und romantisierten. In die Wohnstuben oder Schlafzimmer hielt das „Z“-Stereotyp Einzug über billigen Wandschmuck, den man sich in Kaufhäusern besorgte: Die „Karstadt-Zigeunerin“ war ein Gemälde, das eine erotisierte Romnja darstellte mit schwarzem Haar, dunkler Haut, großen dunklen Augen, großen goldenen Ohrringen und weitem Dekolleté.
1953 veröffentlichte Vico Torriani eine Single mit dem Titel „Du schwarzer Zigeuner“. Der Schweizer Schlagersänger und spätere Showmaster (“Der goldene Schuss“) war aber nicht der erste, der den Tango intonierte. Der böhmische Militärmusiker Karel Vacek schrieb bereits 1930 die Melodie mit dem Titel Cikánka („Zigeunerin“), zu der 1931 zuerst auf Tschechisch eine Frau besungen wurde. Den deutschen Text – nun über einen männlichen „Z“! – lieferte kurz danach der österreichische Librettist Fritz Löhner-Beda, der 1938 zunächst nach Buchenwald deportiert und dann im KZ Monowitz ermordet wurde. Ab den 1950er Jahren nahm diese Version, übersetzt in Dänisch, Niederländisch, Finnisch, Schwedisch und Englisch volksmusikalische Fahrt auf. Und bis in die Gegenwart dient der Titel der Unterhaltung – „schwarz“, folkloristisch, leidenschaftlich musikalisch ist das Bild vom „Z“ in der nordeuropäischen „weißen“ Welt.
Die Visualisierung dieses Verhältnisses fand in einer Volksmusiksendung aus der Anfangszeit des privaten Fernsehens statt, etwa um 1990, konserviert auf Youtube von einem niederländischen User. Vico Torriani, damals um die siebzig Jahre alt, singt in einem zum Gartenlokal ausstaffierten Studio, im Hintergrund weißes Publikum höheren Alters, ein Junge in Lederhose. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Der Schlagersänger hat eine akkurat nach hinten gekämmte Herrenfrisur, einen dunklen Anzug mit weißem Hemd, Krawatte und Ansteckblume, wie für eine Hochzeit geschmückt. Der musizierende Geigenspieler hingegen trägt lockiges, halblanges Haar und ein mit Borten verziertes Hemd mit Trompetenärmeln, das offenbar einen „gypsy style“ andeuten soll. Torriani zeigt mit dem Finger auf den Violinisten und singt: „Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor (…) denn ich will vergessen heut‘, was ich verlor (…) und wenn deine Geige weint, weint auch mein Herz (…).“ Vor dem Hintergrund des Porajmos könnte man die, im deutschsprachigen Raum jahrelang andauernde Begeisterung für dieses (Liebes-)Lied psychoanalytisch als Wiederkehr des Verdrängten lesen. Im Kontext der (TV-)Unterhaltung allerdings wird der Musiker/der Rom vom weißen Star im bürgerlichen Anzug benutzt, um selbstmitleidig vor dem exotischen „Z“ Differenz zu markieren. Dabei war Torriani als ehemaliges Verdingkind selbst ein Outsider gewesen und wurde im Nachkriegsdeutschland auch als „Italiener“ vermarktet, z.B. im Film „Der Stern von Santa Clara“ (1958) mit dem Song „Ein echter Italiano“.
Stellvertretend für die besonders Ende der 1960er Jahre in der Unterhaltung zunehmenden Songtitel mit dem Z-Wort, steht die deutsche Schlagersängerin Alexandra. Mit „Zigeunerjunge“ schuf sie ein hippieeskes sehnsuchtsvolles Stereotyp, ein jahrzehntelanger Hit, während die sehr erfolgreiche Schlagersängerin Marianne Rosenberg ihre Sinti-Herkunft aus Angst vor rassistischen Anfeindungen lange Zeit verheimlichte.
Die beste Instanz
Und was passiert im Jahr 2020 in der WDR-Sendung? Die Erwähnung des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma und dessen Aufklärung über die rassistische Fremdbezeichnung des Z-Wortes ruft dort Gelächter hervor – Abwertung und Ausgrenzung in aggressiver und intoleranter Diktion. In der Unterhaltungsbranche hat Othering eine historische Kontinuität und damit einher geht Rassifizierung: Das ausgestellte Unvermögen, sich in die Perspektive von anderen hineinzudenken, führt dazu, das Machtverhältnis und die Stereotype auszuweisen. Zum Schluss des Liedes steckt der Schlagerstar Torriani dem kostümierten Musiker einen Geldschein zu, in der Talkrunde fällt das Abstimmungsergebnis für das Z-Wort aus.
Popkultur kann Distinktion und Belustigung auf Kosten der anderen reproduzieren. Die Forschung ist längst weiter, wird aber in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Proteste in Internetmedien gab es in diesem Fall zu Hauf – und eine sehenswerte Talkrunde ist von der Stand-up-Comedian Enissa Amani initiiert worden: „Die beste Instanz“.
(Statt dem in der Forschung üblichen Begriff des „Antiziganismus“ wird der Begriff Gadjé-Rassismus hier eingeführt, der das Z-Wort vermeidet.)