Wäre die Pandemie nicht gekommen, hätte man sich hierzulande dieses Jahr gleich dreimal Giuseppe Verdis Otello zu Gemüte führen können. Die Oper, basierend auf Shakespeares The Tragedy of Othello (um 1600), dreht sich um den gleichnamigen edlen und tragischen Feldherrn, der als Außenseiter in der venezianischen Gesellschaft Opfer von Intrigen wird. Im Opernhaus Zürich wird die Hauptfigur durch den lettischen Tenor Aleksandrs Antonenko verkörpert, in Bern durch den Mexikaner Rafael Rojas, im KKL Luzern wurde eine für Oktober geplante Aufführung mit Joel Montero, ebenfalls aus Mexiko, vorläufig abgesagt.
Der britische Regisseur Graham Vick, der am Opernhaus Zürich inszeniert, versteht Otello zwar als „Schwarzen und Moslem“, so das Programmheft – und doch wird also ein weißer Tenor als „unberechenbarer Despot“ und „Wüstenkrieger“ auf der Bühne stehen. Und die Berliner Regisseurin Anja Nicklich wurde, was das Casting anbelangt, vor vollendete Tatsachen gestellt, als sie Otello für Konzert Theater Bern übernahm. Das dortige Team versteht die Textstellen, in denen Otello als „Mohr“ bezeichnet wird, nach eigener Aussage als „Illusion“ und „Teil der Beleidigungen“, die der Antagonist Jago gegen Otello vorbringt; Verdis Otello wäre also, anders als Shakespeares Othello, problemlos als Weißer zu lesen.
Was würde Verdi dazu sagen? Vor der Uraufführung seines Spätwerks im Jahr 1887 schlug er vor, ‚seinen‘ Otello wie einen Äthiopier zu kleiden, denn wie in Shakespeares Vorlage wird die Figur auch im Libretto als ‚schwarzer Mann‘ („uomo nero“) be- und gezeichnet. Dass Verdi sich aber nur einen äthiopisch gekleideten Sänger und nicht etwa einen Äthiopier vorstellen konnte, liegt in der Geschichte des Stücks und seiner Inszenierungen begründet.
Um 1600, als Shakespeare The Moor of Venice verfasste – so der heute belastete Untertitel –, war ein dunkelhäutiger Protagonist in einer Tragödie ungewöhnlich. Es ist nicht endgültig geklärt, welche Hautfarbe Shakespeares Othello genau haben sollte, denn der Begriff „Moor“, ins Deutsche jeweils übersetzt als „Mohr“ oder „Maure“, wurde für Schwarze Afrikaner ebenso wie für Araber verwendet. Traditionell spielten dunkel geschminkte Weiße in afrikanisch oder arabisch anmutenden Kostümen die Figur, denn Opernbühnen standen Angehörigen von marginalisierten Gruppen in weißen Mehrheitsgesellschaften über lange Zeit genauso wenig offen wie die entsprechenden Ausbildungsstätten.

Szene aus der „Otello“-Aufführung am Stadttheater Bern (Premiere 14.9.1985).
Foto: Eduard Rieben (Archiv SAPA)
Im 19. Jahrhundert stellte man Othello in Großbritannien gerne als ‚Orientalen‘ dar, wahrscheinlich, weil es angesichts des britischen Sklavenhandels für die Zuschauer*innen schwierig wurde, sich einen Schwarzen Mann als noblen, freien Feldherrn zu denken.
Überhaupt ist die Geschichte des Rassismus gegen Minderheiten eng mit der Rezeption von Stück und Oper verbunden: Im 19. und 20. Jahrhundert verstanden Kritiker*innen das Werk mit Vorliebe als Warnung vor sogenannten ‚interracial marriages‘, und im Südafrika der Apartheid war es zeitweise ebenso verboten wie jegliche Form von Beziehung zwischen den von der Regierung definierten ‚rassischen‘ Gruppen. Die Positionen, die Schwarze in der Realität innehatten, prägten die Rollen, in denen sie auf der Bühne repräsentiert wurden – und umgekehrt.
Und heute? Die Sensibilität für das koloniale Erbe, die weiße Hegemonie und die Repräsentation all jener, die innerhalb dieses Denkens als ‚andere‘ gelten, ist gewachsen. Eine Inszenierung von Otello muss sich Fragen gefallen lassen: Wer soll die Hauptrolle spielen? Und wie wird mit dem Thema der Ausgrenzung von PoC umgegangen, das in Stück und Oper verhandelt wird? Eine Diskussion dieser Fragen erlaubt es, schärfer zu perspektiveren, was im kulturellen Feld unter Diversität und Repräsentation zu verstehen ist und wieso eine differenzierte postkoloniale Kritik von Aufführungspraxen vonnöten ist.
Dunkel gefärbt oder farbenblind?
Noch bis vor kurzem wäre eins naheliegend gewesen: die Sänger der drei Inszenierungen, die 2020 in der Schweiz gezeigt werden soll(t)en, ganz einfach schwarz anzumalen. Ein derartiges Vorgehen, das Blackfacing, ist äußerst belastet. Bei dieser Praxis, entstanden in den US-amerikanischen Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts, stellten Weiße Schwarze dar und erniedrigten sie zum Vergnügen eines zumeist weißen Publikums.
Auch wenn Otello keine lächerliche Figur ist, signalisiert eine schwarze Maskerade doch, dass Weiße anscheinend jederzeit zur Unterhaltung eines immer noch vornehmlich weißen Opernpublikums ‚schwarz werden‘ können – was umgekehrt allerdings nicht in Erwägung gezogen wird. In der Opernszene aber war und ist nicht nur diese Form von ‚Umfärbung‘ gang und gäbe. Zwei Opern Puccinis, Turandot (Uraufführung 1926) mit einer chinesischen und Madame Butterfly (Uraufführung 1904) mit einer japanischen Hauptrolle, werden bis heute hauptsächlich weiß besetzt, teilweise mit Makeup im Stil des Yellowface.

Szene aus einer „Otello“-Operninszenierung am Stadttheater Bern in den 1950er-Jahren (Premiere 12.4.1959). Bild: Photo Erismann Bern (Archiv SAPA)
Die Metropolitan Opera in New York hörte erst im Jahr 2015 auf, ihre Otellos dunkel zu schminken, unter viel selbstgefälligem Gerede darüber, wie progressiv die Entscheidung doch sei. Sie übte damit großen Einfluss auf die internationale Opernszene aus, die erstmals im größeren Rahmen ihre eigenen Praktiken kritisch diskutierte. Diese späte Besinnung mag befremden, waren Blackfacing und Yellowfacing doch in den meisten anderen Kontexten schon längst nicht mehr akzeptabel.
In ihrem Statement bekannte sich die Met zum „color-blind casting, which allows the best singers possible to perform any role, regardless of their racial background“. Das bedeutet freilich nicht, dass nun mehr PoC-Sänger die prestigeträchtige Rolle singen würden. Stattdessen bevölkern blasse Otellos die Bühnen der Welt, Otellos, deren Außenseitertum in der Inszenierung dann nichts mit ihrer Hautfarbe zu tun hat oder die einfach zu ‚Schwarzen‘ erklärt werden, wie in Graham Vicks Zürcher Inszenierung.
Wenn sich Regisseur*innen oder andere Entscheidungsträger*innen dazu äußern, wird üblicherweise betont, dass nun mal ein Mangel an Sängern vorliege, die der schwierigen Rolle gewachsen sind – Otello ist „notoriously difficult to cast“, wie Naomi André in ihrer Monographie Black Opera schreibt. Auch wenn es einen Schwarzen Tenor wie Russell Thomas gibt, der die Rolle in zahlreichen Produktionen in Europa und Amerika gesungen hat – auf einer rein praktischen Ebene ist es tatsächlich erforderlich, die „pipeline leading to the training und nurturing of young black singers“ zu verbessern, wie André weiter ausführt. Solche Bemühungen um langfristige Veränderungen sind bitter nötig; sie lassen aber auf kurze Sicht die Frage offen, wie Otello in der Gegenwart zu inszenieren ist.
Kunst und Politik
Aber ist die Kunst nicht eine rein ästhetische Angelegenheit und die Frage nach der Gruppenzugehörigkeit von Sänger*innen geradezu ketzerisch? Die Kultur als unpolitische Sphäre – so etwas wird meistens aus einer weißen, privilegierten Position geäußert, die sich als neutral versteht. Selbst nicht ausdrücklich politische Kunstwerke transportieren eine Vielzahl an Vorstellungen über die Rollen, die bestimmte Gruppen auf der Bühne und im Leben zu spielen haben.
Welche Handlungen in der europäischen Theater- und Operntradition gemeinhin weißen Männern vorbehalten bleiben, welche aber von Frauen oder Minderheiten ausgeführt werden dürfen, ist auch Ausdruck davon, welche Privilegien und Diskriminierungen jenseits der Bühne existieren; und das, was auf der symbolischen Ebene verhandelt und gezeigt wird, wirkt auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse zurück.
In dieser Hinsicht geht es bei der vielleicht zuerst nebensächlich scheinenden Frage nach der Besetzung von Otello ums Ganze: Erst in einer Welt, in der Schwarze Sänger*innen ganz selbstverständlich Donizettis Lucia geben dürfen und dies auch regelmäßig tun, ist ein weißer Otello unproblematisch. Auf Theaterbühnen werden hier Experimente gewagt. Breit diskutiert wurde eine Inszenierung von Josef Bierbichlers bayerischem Generationenroman Mittelreich durch die Regisseurin Anta Helena Recke, die im November 2015 an den Münchner Kammerspielen ihre Premiere feierte. Auf der Bühne standen ausschließlich Schwarze Darsteller*innen, die Wort für Wort und Geste für Geste eine frühere Inszenierung mit weißer Besetzung kopierten – und damit provozierten.
Denkbar sind also sehr unterschiedliche Formen der Inszenierung, wobei der Blick nicht nur auf einzelne Rollen, sondern auf die Besetzung insgesamt gerichtet sein sollte. Die Opernszene scheint im Allgemeinen jedoch weniger experimentierfreudig als die Theaterszene.
Otello aber ist keine unpolitische Oper und Shakespeares Vorlage kein rein ‚ästhetisches‘ Stück. Die Vorurteile, mit denen der Protagonist als Angehöriger einer Minderheit kämpft, werden zum Thema gemacht. Und auch wenn Verdi und sein Librettist Arrigo Boito den Text in Sachen Diskriminierung entschärften, indem sie in der Bearbeitung Shakespeares ersten, besonders expliziten Akt fallen ließen – in der Oper wird Otello als „Mohr“ („Moro“) und als Wilder mit wulstigen Lippen („selvaggio dalle gonfie labbra“) beschimpft.
Dazu kommt die Rezeptionsgeschichte: Aus heutigen Inszenierungen lässt sich nicht wegdenken, dass Otello historisch als Schwarze Figur gelesen und gespielt wurde. Diese Geschichte ist nicht mehr artikulier- oder kritisierbar, wenn Otello als x-beliebiger Außenseiter gezeigt wird. Das Deutungspotenzial von Texten und kulturellen Artefakten entsteht immer im Zusammenspiel mit den mannigfachen Kontexten, in denen sie stehen und standen.
Diversität und Repräsentation
Sollte man Otello also Schwarz oder arabisch besetzen? Fährt man diesen Kurs, wird schnell kritisiert, dass die historisch gemeinte Hautfarbe beziehungsweise Zugehörigkeit einer Rolle nicht nur schwierig zu ermitteln ist – ein „Moor“ konnte ja, wenn man sprachgeschichtlich spitzfindig ist, zumindest zu Shakespeares Zeiten ein Schwarzer oder Araber sein.
Auf die Spitze getrieben, könnte eine solche Politik auch dazu führen, dass Asiat*innen nur noch Asiat*innen spielen dürften, Schwarze nur noch Schwarze, was das für sie verfügbare Repertoire stark einschränken würde – eine Befürchtung, die auch schon von Betroffenen geäußert wurde. Schon jetzt konstatieren afroamerikanische Sänger*innen, dass sie für Gershwins Porgy and Bess (Uraufführung 1935), aber seltener für nicht Schwarz markierte Rollen gecastet werden. Keine Sänger*in möchte auf einen bestimmten Rollentyp festgelegt werden, erst recht nicht angesichts des Mangels an Figuren im europäischen Opernkanon, die historisch als PoC imaginiert waren.
Zudem sind verschiedene ‚Schwarze‘ Rollen aus dem Opern- und Bühnenkanon in einer Weise stereotypisiert und von der Lebensrealität nichtweißer Menschen in weißen Mehrheitsgesellschaften abgehoben, dass es für PoC unangenehm sein kann, sie zu spielen. Auch Otello ist nicht nur aus der Perspektive einer weißen Normgesellschaft als ‚Fremder‘ gezeichnet; in einer der letzten Szenen erdrosselt er aus Eifersucht seine weiße Ehefrau Desdemona, was an rassistische Darstellungen erinnert, wie sie über Jahrhunderte hinweg verbreitet wurden, um ‚men of color‘ als brutale Unholde zu verunglimpfen. Aus dieser Perspektive wäre ohnehin kritisch zu fragen, ob Otello heute noch als positive Figur taugt.

Szene aus der „Otello“-Inszenierung am Stadttheater Bern (Premiere 21.9.1970).
Foto: Sandra Sibiglia (Archiv SAPA)
Eine Welt, in der alle nur noch Mitglieder der Gruppen spielen und singen dürfen, denen sie selbst angehören, kann nicht das Ziel sein. Dennoch ist es aus einer rein pragmatischen Perspektive wünschenswert, die PoC-Darsteller*innen, die auf ihrem Karriereweg strukturell benachteiligt sind, in einer prestigeträchtigen Oper wie Otello zu besetzen. Zudem hat eine Hauptrolle, die in einer weißen Mehrheitsgesellschaft Opfer von Rassismus wird, Symbolwert und kritisches Potenzial.
Natürlich wäre es damit nicht getan: Ein Schwarzer oder PoC-Mann auf einer Schweizer Opernbühne beseitigt nicht strukturelle Diskriminierungen im Kulturbetrieb, er löst nicht das Problem der weißen Dominanz. Shakespeare als immer wieder aufgeführter Klassiker, Verdi als Dauergast auf den Opernbühnen – schon nur dies ist auch Ausdruck der europäischen Hegemonie, die den Kultur- und Bildungsbereich bis heute prägt. Und Weiße Dominanz findet nicht nur auf Opernbühnen statt; es muss darüber reflektiert werden, wer die Entscheidungsträger*innen sind, wo Diversität hinter den Kulissen steckt und wer sich das alles anschaut.
Die postkoloniale Kritik im Kulturbetrieb hat sich, wie Elisa Liepsch und Julian Warner in ihrer Einleitung zu Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen schreiben, in den letzten Jahren „von der Vorder- auf die Hinterbühne verschoben“: „2018 reicht es in Deutschland nicht mehr aus, ein Stück, eine Performance, ein Panel oder ein Festival zu rassismuskritischen oder postkolonialen Inhalten zu veranstalten, ohne die Kolonialität der eigenen Produktionsbedingungen und Institutionen zu adressieren.“ Für die Schweiz, wo Theaterfestivals mit einem starken Diversitäts-Fokus auch schon mal ganz ohne PoC-Entscheidungsträger*innen auskommen, lässt sich dieser Befund unterschreiben.
Eine einfache Antwort darauf, wie ein zeitgemäßer, politisch sensibler Otello aussehen müsste, gibt es also nicht. Befremdend aber ist, dass viele Inszenierungen kaum Stellung beziehen, sondern so tun, als ob die Besetzung der Hauptrolle ganz unproblematisch wäre. Denn welchen Weg man auch geht, eins ist klar: Es gilt, offen mit der Thematik umzugehen. Entscheidungen über Repräsentation und Diversität sind auch im Feld der Kultur politisch. Bis diese Erkenntnis im Opernbetrieb vollständig angekommen ist, sind ganze drei Inszenierungen von Otello innerhalb weniger Monate vielleicht doch etwas viel.