Michail, in deinem letzten Brief aus Moskau in „Lettre International“ schreibst du über die Resignation und Erschöpfung, die du wahrnimmst, wenn du in Moskau bist. Niemand habe die Kraft, sich gegen die Politik von Putin zu wehren. Nicht einmal mehr sprechen wolle man darüber. Was unterscheidet diese Resignation von der Resignation in der Sowjetunion des Kalten Krieges?
Michail Ryklin ist Philosoph, Leitender Wissenschaftler am Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau und Gastprofessor an verschiedenen Universitäten; zuletzt auf Deutsch erschienen: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution (2008); Buch über Anna (2014).
Michail Ryklin: Der Unterschied ist meiner Meinung nach ein wesentlicher. Die Spielregeln von damals wurden in der grauenvollen Stalinära aufgestellt. Und alle kannten sie. Die Grenzen des Zulässigen und des Unzulässigen standen mehr oder weniger fest: Wenn du kein Parteimitglied bist, lassen sie dich nicht ins Ausland, es wird dann auch schwierig für dich zu habilitieren, in manchen Bereichen sogar unmöglich. Der visuelle Bereich war weniger tabuisiert als der verbale, und Restriktionen in der Musik festzulegen, erwies sich als noch komplizierter – die Komponisten hatten da Glück. Jeder spielte so seine eigene Partie Schach mit der Macht: die Konzeptualisten, die Philosophiehistoriker, die Semiotiker, die Logiker und so weiter.
Heute ist alles anders. Die Spielregeln ändern sich blitzartig, gestern war etwas erlaubt, heute ist es kriminalisiert. Manches wird gar präventiv untersagt: Du hast es noch nicht getan, aber es ist bereits verboten worden, sieh dich also schon mal vor. Die heutige Zeit – besonders nach Putins „Rochade“ von 2012 und vor allem nach der Krimsache – würde ich als „kleinen Stalinismus“ bezeichnen. Der Brežnevepoche mit ihrer Stagnation ähnelt sie überhaupt nicht. Unsere Eltern und noch mehr unsere Grosseltern hatten in der Katastrophenperiode eine grosse Lebenserfahrung gewonnen. Wir wurden jedoch in der Brežnevzeit sozialisiert und uns fehlt diese Erfahrung. Wir müssen daher vieles neu lernen.
Wenn du vom „kleinen Stalinismus“ sprichst, dann beziehst du dich auf die „operative“ Politik, die du in deinem neuen Buch analysierst, also die Verwendung von Geheimdienstmethoden für die Politik?
In vielerlei Hinsicht führt der aktuelle „Tschekismus“ den Stalinismus fort, in manchen Punkten aber geht er anders vor. Der heutige Regierungsklan erstrahlte in vollem Glanz und erlangte seine gewaltige Macht, als er noch im Geheimdienst der kommunistischen Diktatur wirkte. Aber wenn man genauer hinschaut, war er schon damals etwas Grösseres – eine rein ausführende Religion, die neben der kommunistischen existierte. Formell unterstand sie zwar der offiziellen Macht, faktisch jedoch funktionierte und agierte sie nach ihren eigenen geheimen Gesetzen. Die übergeordnete Ideologie konnte diesen Klan bereits damals nur bedingt kontrollieren, eher deklarativ als faktisch, besonders in der Stalinzeit. „Beim ZK zischt man und bei der Tscheka schlitzt man“ – lautete ein sowjetisches Sprichwort.
Was genau ist „operative Politik“ oder „operative Macht“? In einem Lettre-Brief von 2008 nennst du sie eine „Herrschaft in Reinkultur, die sich auf keine beständige Ideologie stützt“.
Im Grunde ist der Putinismus die Politisierung der Geheimdienstmethoden. Die Geheimdienste erhielten einen quasi religiösen Status und unterwarfen die traditionellen Religionen gänzlich, in erster Linie die orthodoxe, die letztendlich zum Geheimdienst des Geistes wurde. (Zu Zeiten des Patriarchen Kyrill I. ist das ein offenes Geheimnis.) Der Putinismus zerriss den Kokon der grossen Ideologie und etablierte die kleinere Ideologie des totalen Zynismus nach dem Motto: Alles ist zulässig, was der Kontrolle untersteht, und zwar unabhängig vom Inhalt – der Nationalismus, der Liberalismus, die Orthodoxie, die Monarchie, der Sozialismus. Putin wiederholt manisch, die Politik sei der Ort, an dem die Geheimdienste miteinander konkurrieren. Der öffentliche Teil der Politik ist nur eine Fiktion für Uneingeweihte, für diejenigen, die zum einzig realen geheimen Wissen keinen Zugang haben.
Noch einmal zur Politik mit geheimdienstlichen Mitteln. Eines der Ziele des Geheimdienstes im Inland war die operative „Zersetzung“ von jeglicher Opposition (Isolation, Kriminalisierung, Pathologisierung). Auch diese Geheimdienststrategien sind in Russland ja aktueller denn je. Und dennoch ist die Situation völlig anders. Damals war klar, dass es nur eine Partei gab und Opposition nicht vorgesehen war in einer Diktatur des Proletariats. Heute gehört Opposition zur „Fiktion“ der operativen Macht – sie braucht sie, um nach außen nicht als Diktatur zu gelten, gleichzeitig aber bekämpft sie die reale Opposition mit den alten geheimdienstlichen Methoden. Welche Rolle kann die Opposition in einem System operativer Macht spielen?
Ich würde nicht sagen „völlig anders“. Anders, jawohl, aber nicht völlig, es gibt Ähnlichkeiten. Übrigens wurde die Diktatur des Proletariats abgeschafft, als man die Errichtung des Sozialismus für vollzogen erklärte. Das große Projekt des Sozialismus, mit seiner KPdSU, Planwirtschaft, Unterstützung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen etc., hatte das Zeitliche nicht deshalb gesegnet, weil es von äußeren Kräften bezwungen wurde. Sondern nur aufgrund der Tatsache, dass die Nomenklatura beschloss, den Sozialismus zu Grabe zu tragen, um die Macht in Eigentum zu konvertieren. Es schien zunächst, sobald sich die Funktionäre genug bereichert haben, werden sie nach kapitalistischen Grundsätzen leben, mit den Staaten auskommen, in denen ihre Gelder gelagert sind und in denen ihre Familien leben. Aber die „Krim“ hat gezeigt, dass das alles nicht so einfach ist.
Der ganzen westlichen Welt wurde der Krieg erklärt – und damit, paradoxerweise, auch dem eigenen Geld! Milliarden sind so bereits verbrannt worden, und es ist noch nicht aller Tage Abend. Vladislav Surkovs Projekt einer souveränen bzw. gelenkten Demokratie existierte bis Mai 2012, doch die Annexion der Krim erledigte es endgültig. Jetzt haben wir eine immer totalitärer werdende Diktatur vor uns, die sich durch fiktive Wahlen legitimiert, die niemand mehr für glaubwürdig hält.
Die Opposition, die nicht zum System gehört, wurde und wird so stark kriminalisiert, dass viele gezwungen waren, Russland zu verlassen. Und diejenigen, die noch geblieben sind, werden regelrecht gejagt. Die Verfolgung von Michail Kas’janov und Natal’ja Pelevina überschreitet gar die Grenze zur Intimsphäre: Im russischen Fernsehsender NTV wurden die beiden zur Primetime halbnackt im Bett gezeigt.
Wie soll bzw. kann die Opposition darauf reagieren?
Ich bin der Meinung, dass sich die Opposition nicht an der Farce der Wahlen beteiligen sollte, welche vom Kreml gänzlich kontrolliert werden. Das System Putin hat drei andere starke Feinde, die ihm – jeder mit seinen Mitteln – schlussendlich den Garaus machen werden. Erstens der Westen, der langsam aber sicher wirkt, zweitens die verarmende russische Bevölkerung, und drittens die Putin’schen Eliten, die immer mehr Schaden durch ihren Präsidenten davontragen. Die außersystemische Opposition wird sich erst im Zerfallsstadium einschalten – wie Lenin, der aus Zürich angereist kam, um das alte Regime zu erledigen.
Das klingt unwahrscheinlich! Die verarmende russische Bevölkerung gibt vor allem dem Westen die Schuld an ihrem Elend… Die Propaganda funktioniert m.E. noch immer sehr gut nach dem alten Feindschema (Westen, EU-Diktatur etc.). Zu befürchten ist doch eher, dass sich die Opposition – wie Putin das anstrebt – gänzlich auflöst und nur einzelne Proteste von Personen stattfinden, die dann sofort wieder ausgeschaltet werden können.
Einverstanden, das ist ein düsteres Bild. Aber ich wäre nicht so sicher, dass das Putin-Regime nur weiter Triumphe feiern und Lorbeeren ernten wird. Schauen wir mal hin: Die Verarmung der Mehrheit schreitet seit Monaten voran, die Oligarchen sehen ihr Geld durch Putins Leadership immer stärker in Gefahr, die USA betrachtet Russland als enemy number one. Und was die Umfragewerte anbelangt, die angeblich bei 86 Prozent liegen – in Totalitarismen sind sie bekanntlich total unzuverlässig –, sie zeugen, anders als das in Demokratien der Fall ist, eher vom Niveau der Angst als vom Grad an Zustimmung und Unterstützung. Putins Kampf um die Macht wird jeden Tag verbissener, krampfhafter, hysterischer, und das stellt, meines Erachtens, ein sicheres Zeichen der Schwäche dar.
Das führt auch zu immer unberechenbareren Reaktionen auf Protest und Widerstand…

Il’dar Dadin mit einem Plakat „Putin – Russlands Untergang!!!“, für diese und ähnliche Protestaktionen wurde er zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt.
Ja, es ist sehr schwierig in Russland zu protestieren. Il’dar Dadin führte ein paar Einzelprotestaktionen durch und bekam dafür drei Jahre Haft. Gerade hat man die Haftstrafe auf zweieinhalb Jahre verkürzt, aber sie hätten sie auch verlängern können. Vor ein paar Wochen sprach ich im Berliner Gorkij-Theater mit Nadja Tolokonnikova über ihr Buch Anleitung für eine Revolution. Sie und Maria Alechina wollten sich für die Rechte der Strafgefangenen einsetzen, aber wer lässt sie in die Strafkolonie, in der Willkür herrscht, hinein? In Sotschi hat man sie zusammengeschlagen, in Nižnij Novgorod mit Farbe übergossen und ebenfalls verprügelt. Und nirgendwo nur ein Wort darüber – der Geheimdienst FSB hat alles unter Kontrolle. Versuch da mal für Menschenrechte zu kämpfen. Die Strafverfolgung von Demonstranten der Massenproteste auf dem Bolotnaja-Platz, Hunderte von politischen Gefangenen in der Provinz, Tausende von Menschen, die aus weiss der Teufel welchen Gründen gefeuert wurden, die vielen Oppositionellen im Exil – daher kommt die heutige Resignation. Wenn du mit einem Tuch auf die Strasse gehst, landest du im Gefängnis. Wenn du vom Nachrichten- und Medienportal Ukrainskij Kontent etwas runterlädst, weckst du das Interesse des Untersuchungskomitees, setzt du dich für Homosexuelle ein, raus mit dir aus Russland, und so weiter.
In der Sowjetunion gab es eine klassische Bürgerrechtsbewegung, wie in fast allen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Ihre Forderungen zielten damals auf das Einhalten der eigenen Verfassung (konstitucija) und der internationalen Verträge (Menschenrechtsabkommen). Die Sowjetunion hatte die Abkommen unterschrieben, sie bestehen auch heute noch, aber sie werden nicht mehr nur ignoriert, sondern ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Putins Anhänger versuchen mit der Rede vom westlichen „Menschenrechtsimperialismus“, Menschenrechte nun als eine lästige Erfindung des Westens zu diffamieren. So kann man Menschenrechte ganz grundsätzlich als kulturelles Konstrukt entwerten. Wie siehst du das?
Ja, genau, die Menschenrechte werden in Russland als eine westliche Importware diskreditiert. Es gibt das „Agentengesetz“, unter welches nun alle Menschenrechtler, außer denen aus dem Kreml, fallen. Nach der Besetzung der Krim ist das Regime immer weniger daran interessiert, sich als formell demokratisches zu legitimieren, wie es noch zu Medvedevs Regierungszeit war. Es gibt ein Gesetz zum Schutze der religiösen Gefühle. Wohingegen die Gefühle der Atheisten und Agnostiker von den orthodoxen Zynikern und den einfach nur Verrückten mit Kreuzen um den Hals immer deutlicher unbestraft verletzt werden.
Für rechte Parteien ist auch Putins „Nationalisierung von Recht“ ein Vorbild. In der Schweiz hat die SVP (immerhin wählerstärkste Partei), die am rechten Rand politisiert, eine Volksinitiative auf den Weg gebracht, die Nationales Recht vor Internationales Recht stellen will. Noch in diesem Jahr wird darüber abgestimmt. In Russland hat Putin das anders erledigt, er hat im Dezember ein Gesetz unterzeichnet, das dem russischen Grundgesetz Vorrang vor internationalem Recht einräumt. Das hat er zwar auch vorher schon so gemacht, aber jetzt ist es amtlich. Welche weiteren Folgen wird dieses Gesetz nun haben?
Die Folgen sind absehbar. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und anderer internationaler Institutionen werden ignoriert. Den Aktionären von Yukos wird keine Kompensation ausbezahlt und so weiter und so fort. Jegliche Willkür wird durch nationale Interessen gerechtfertigt, jedes gesetzeswidrige Urteil als Triumph der einzig wahren Rechtsprechung (wie früher der sozialistischen) verherrlicht. Im Grunde genommen findet das schon überall statt, vor allem in der Provinz, ausser Sichtweite westlicher Journalisten und Diplomaten.

Buchcover von „Zeit der operativen Macht“
Deine Lettre-Briefe, die du zwischen 2003 und 2016 verfasst hast, erscheinen jetzt auch auf Russisch; das Buch trägt den Titel „Zeit der operativen Macht“. Denkst du, dass dein Begriff der „operativen Macht“ in Russland diskutiert werden wird?
Ja, das Buch ist gerade in kleiner Auflage erschienen. Aber, ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das Buch diskutiert wird. Das sagt mir die Erfahrung der letzten Bücher. Vereinfacht kann man es so formulieren: In Europa schreibe ich für ein Publikum (die Auflage von Lettre International ist hoch, mehrere Tausend, und meine Bücher werden auch recht aktiv diskutiert), in Russland jedoch schreibe ich immer mehr für Freunde und einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten. In den 90ern war das noch anders, aber das ist vorbei – ich hoffe übrigens nicht unwiderruflich vorbei. Zudem wird Polemik und Kritik im derzeitigen Russland nur allzu schnell als Beleidigung aufgefasst oder als Beweis für fehlenden Patriotismus und andere verordnete Propagandatugenden, und dann denkst Du, gut, bloß gut, dass sie es nicht bemerkt haben, und kannst ruhig schlafen.
Aus dem Russischen von Olga Martin und Sylvia Sasse