Zu Open Access (OA) ist alles gesagt und vieles getan – und nichts ist geklärt. Es gibt eine Standardgeschichte, die lautet so: Mit OA wird eine neue Phase in der Geschichte des wissenschaftlichen Publizierens eingeläutet, indem die gesamte wissenschaftliche Produktion jederzeit überall allen Menschen kostenlos zur Verfügung steht. Keine Schranken mehr für die Wissenschaften im globalen Austausch von Forschungsresultaten und Erkenntnissen; keine Einschränkungen mehr für Bürgerinnen und Bürger, die sich je nach Interesse und Kompetenz über sämtliche Forschungsarbeiten informieren können.
Solche Aussichten sind verlockend, denn mit der barrierefreien Zirkulation von Wissen ist die Hoffnung nach einer Steigerung von Kreativität und Effizienz verbunden, so dass die Wissenschaften ihren Beitrag im globalen Wettkampf um Ressourcen und Innovationen leisten können. Und gleichzeitig scheinen sich die notorisch unangenehmen Prozesse der Entfremdung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft umkehren zu können.
Akademischer Kapitalismus
Leider ist die Sache komplexer, als es euphemistische Sonntagsreden von Politikern und die Webseiten von Forschungsorganisationen, Universitäten und Großverlagen vermuten lassen. Die Praxis von Open Access ist dominiert von einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure mit zum Teil gegenläufigen Interessen. Dazu gehören Politiker, globale Verlagskonsortien, Förderorganisationen, Wissenschaftsmanager, Bibliothekare, digitale Aktivisten, die Computerindustrie und schließlich auch diejenigen, um die es eigentlich geht: Wissenschaftler – aber auch hier handelt es sich keineswegs um eine homogene Gruppe. Aus dieser Konstellation hat sich ein Konglomerat aus Geldströmen, moralischen und epistemischen Ökonomien, post-Gutenberg’scher Technophilie und New Public Management gebildet, das Open Access als Phänomen ziemlich schwer fassbar macht. Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen: Als Geschäftsmodell des akademischen Kapitalismus ist OA Realität, als Programm dafür, die Menschheit im gemeinsamen intellektuellen Gespräch und Streben nach Wissen zu vereinigen, ist es eine Utopie.
Diese These setzt voraus, dass es bei OA einerseits um ein humanistisches, der Aufklärung verpflichtetes Projekt geht, andererseits wird die ungestörte Zirkulation von Wissen, ähnlich wie die Zirkulation von Waren und Geldströmen, der ökonomischen Logik unterworfen. Ganz ohne kritische Absicht hat es der israelische Historiker Yuval Noah Hariri kürzlich gut getroffen: „Just as free-market capitalists believe in the invisible hand of the market, so Dataists believe in the invisible hand of the dataflow.“ Unterstellt man für einen Moment, dass „dataists“ nicht nur „free-market-capitalists“ mit Programmierkenntnissen sind, so haben Liberalität und Offenheit in diesem Zusammenhang zwei Bedeutungen: einmal im Sinne eines allen zur Verfügung stehenden Guts (common), und einmal im Sinne eines gigantischen offenen Datenreservoirs, aus dem sich diejenigen, die über die geeigneten Technologien verfügen, unbegrenzt bedienen können, um ihre materiellen Interessen zu befriedigen (commodity).
Das Ende des alten akademischen Publikationswesens
Die kurze Geschichte von Open Access lässt nicht erkennen, ob sich die Waage in die eine oder in die andere Richtung neigt, aber sie gibt immerhin einige Hinweise. Die lautesten Forderungen nach einer flächendeckenden Einführung von OA sind aus dem Bereich der MINT-Fächer (Medizin, Informationswissenschaften, Naturwissenschaften, Technik) gekommen, und das ist auch verständlich. Nachdem die Vielfalt von (Natur)-Wissenschaftsverlagen seit den 1980er Jahren auf eine Handvoll globaler Verlagskonsortien (angeführt von Elsevier, Springer und Wiley) zusammengeschmolzen war, erhöhten diese die Preise für wissenschaftliche Zeitschriften nach Belieben. Der fatale Zusammenhang zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital ergab sich dadurch, dass die Naturwissenschaften ungefähr zur gleichen Zeit anfingen, ihre Originalität durch quantitative Parameter zu definieren, allen voran die sogenannten Impact-Faktoren: Der hohe Impact-Faktor einer Zeitschrift bedeutet große Reputation, in vielen Fällen aber auch einen hohen Preis – bis zu 20.000 EURO Jahreskosten für eine einzige Zeitschrift.
Universitätsbibliotheken, Forschungs- und Förderorganisationen mussten immer mehr Geld für diese Periodika aufwenden, was – nebenbei bemerkt – zunehmend zum Nachteil der Geisteswissenschaften geraten ist, denn die Bibliotheken schaffen seit Jahrzehnten immer weniger Bücher an. Auch wuchs die Empörung darüber, dass zumeist öffentliche Gelder – für wissenschaftliche Zeitschriften werden weltweit jährlich ca. 7,6 Milliarden EURO aufgewendet – der Wissenschaft entzogen werden, weil die global operierenden Verlagsmonopolisten ihre Gewinne nur zu einem geringeren Teil reinvestieren, vor allem aber an ihre Besitzer, nämlich Finanzkonsortien, Spekulanten und Investoren, abführen. Unbestreitbar haben die genannten Verlage durch ihre erbarmungslose Preispolitik das traditionelle akademische Publikationssystem nachhaltig zerstört. Aber auch wenn man ihnen mit Recht den Vorwurf macht, den Bogen völlig überspannt zu haben, sollte man nicht vergessen, dass sich auch die politischen Anforderungen an die Wissenschaften grundlegend verändert haben.
Wissenschaftspolitik oder Wirtschaftspolitik?
Seit dem 19. Jahrhundert haben Staaten darauf spekuliert, dass wissenschaftliche Erkenntnisse eine Grundlage wirtschaftlicher Prosperität bilden, doch seit dem Ende des Kalten Krieges ist daraus ein beinahe imperatives Mandat geworden – und die digitale Revolution zum Katalysator für eine praktische Verwertbarkeit des Wissens. Der deutsche Gesetzgeber hat das 2013 in seiner Novelle zum Urheberrecht klar zum Ausdruck gebracht: „Ein möglichst ungehinderter Wissensfluss ist Grundvoraussetzung für innovative Forschung und für den Transfer der Ergebnisse in Produkte und Dienstleistungen. […] Wissen ist im globalen Wettbewerb ein entscheidender Faktor. Eine hohe Innovationskraft ist ohne ein produktives Wissenschaftssystem und einen effektiven Wissenstransfer nicht denkbar.” Hier wird ein Begriff von Wissen als Ware in Anschlag gebracht, der ökonomische Effekte bzw. Nützlichkeitserwägungen im Auge hat und Zweifel aufkommen lässt, ob die Überzeugung, wissenschaftliche Erkenntnis sei in erster Linie common und nicht commodity, wirklich an Boden gewonnen hat, wenn OA so unverblümt als Teil der Innovationspolitik der Wissensgesellschaft reklamiert wird.
Wie Open Access, die unsichtbare Hand der Daten- und Wissenszirkulation sowie die politische Steuerung der Wissenschaften miteinander verwoben sind, wird nirgendwo deutlicher als in der gegenwärtigen Forschungspolitik der Europäischen Union: Das mit knapp 80 Milliarden Euro ausgestattete EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizon 2020, von dem natürlich weder die Schweiz noch Großbritannien ausgeschlossen werden wollen, ist im Wesentlichen über Bande gespielte Wirtschaftsförderung. In einer vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegebenen Informationsbroschüre heisst es unverblümt: „Erkenntnisse in der Wissenschaft zu ermöglichen und die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft weiter zu verbessern.“ Diese Art von Rentabilitätsprosa macht verständlich, warum die Geisteswissenschaften gerade noch am unteren Ende des Katzentischs dieses EU-Programms teilnehmen dürfen. Wie leicht oder schwer es, neben den Geisteswissenschaften, die nicht auf Anwendung und Profit gedrillte naturwissenschaftliche Grundlagenforschung unter diesen Maßgaben hat, wird sich zeigen, wenn ein Gesamtüberblick über das seit 2014 laufende Programm vorliegt. Es sollte jedoch zu denken geben, wenn sogar die naturwissenschaftlich dominierte Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen ihre Sorge angesichts der Verwertungslogik von Horizon 2020 zum Ausdruck gebracht hat.
Was hat die Forschungspolitik der EU mit Open Access und der gegenwärtigen Realität des wissenschaftlichen Publizierens zu tun? Auf der einen Seite kann man die erfreuliche Gründung nicht-kommerzieller Journale wie z. B. die Public Library of Science registrieren, die freilich mit ihrem Flagschiff PLOSONE, einem Megajournal, das pro Jahr mehr als 30 000 Artikel publiziert, ein gewaltiges Experiment gestartet hat, dessen Ausgang ungewiss ist, da niemand zu sagen vermag, welche Auswirkungen ein nur die methodische Korrektheit und nicht die Originalität und Relevanz berücksichtigendes Begutachtungssystem mittelfristig auf die Qualität wissenschaftlicher Publikationen haben wird. Auf der anderen Seite beobachten wir die Gründung zahlloser neuer digitaler Zeitschriften, deren Standards mehr als zweifelhaft sind. Dabei handelt es sich um kleine Geldmaschinen, in denen Autoren gegen Gebühren Artikel publizieren können, die sie in seriöseren Journalen niemals unterbringen würden. OA hat das auch vorher schon virulente Problem eines hemmungslosen Publikationswahns noch weiter verschärft und mit der vermeintlichen Transparenz eine noch größere Unübersichtlichkeit geschaffen. Dass die Qualität der Forschung damit auf dem Spiel steht und führende wissenschaftliche Vereinigungen wie die Royal Society oder die Leopoldina händeringend nach neuen Beurteilungskriterien und -praktiken für wissenschaftliche Publikationen suchen, ist eine bislang zu wenig ernstgenommene Tatsache.
Viel wird in Zukunft davon abhängen, in welchem Umfang es den Wissenschaften gelingt, das akademische Publikationswesen wieder in die eigene Hand zu nehmen und kommerziell orientierte Verlage vielleicht nicht auszuschalten, aber doch deren Monopolsituation aufzubrechen. In dieser Hinsicht wäre ein historischer Rückgriff auf die Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts, als wissenschaftliche Gesellschaften wie die Royal Society oder die Académie des Sciences tatsächlich ihre Zeitschriften unter eigener Regie herausbrachten, gerechtfertigt. Doch die jüngsten Entwicklungen laufen in eine andere Richtung.
Die OA-Strategie der Monopol-Verlage
Die globalen Verlagsmonopolisten haben in wenigen Jahren gelernt, ihr Geschäftsmodell Schritt für Schritt auf Open Access umzustellen. Erik Engstrom, CEO von Reed Elsevier, fasst den Transformationsprozess so zusammen: „In 2013 we continued to make good progress on our strategy to systematically transform our business into a professional information solutions provider that combines content and data with analytics and technology to deliver improved outcomes for customers.“ Das heißt: Es werden digitale Plattformen zur Verfügung gestellt, und man bietet den Kunden Hilfe an, wenn es um das Hochladen, Suchen, Scannen, Bereitstellen und Bearbeiten von Daten und Inhalten geht; und darüber hinaus sind diese Plattformen Kommunikationsnetzwerke, die den globalen Datenverkehr zwischen den Wissenschaftlern kontrollieren. Die Kombination aus Facebook für Wissenschaftler und „professional information solutions provider“ existiert längst und hat Millionen Mitglieder: Mendeley (5 Millionen Mitglieder), das Social Science Research Network (mehr als 2 Millionen Mitglieder), Researchgate (10 Milllionen Mitglieder) und schließlich die Megaplattform Academia.edu (40 Millionen Mitglieder).
Diese vier Plattformen, Repositorien und sozialen Netzwerke sind ursprünglich als philanthropische Startups gegründet worden, doch die ersten beiden sind bereits im Besitz von Elsevier. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch die anderen beiden ganz in die Logik des Informationskapitalismus einbetoniert sind. Ist es einmal so weit, wird das Spiel mit der Kostenschraube von vorne losgehen, nur dass diesmal nicht mehr die Bibliotheken, sondern die Wissenschaftler selbst die Adressaten sein werden. Natürlich sind alle Publikationen Open Access, aber wer in einem OA-Jornal mit hoher Reputation publizieren will, wer sein Datenarchiv, sein Publikationsrepositorium und sein Gelehrtennetzwerk einer kommerziellen Cloud anvertraut hat, ist mindestens ebenso erpressbar wie eine Forschungsbibliothek, die absurde Preise für Zeitschriften bezahlen muss, um ihrem genuinen Auftrag erfüllen zu können.
Angesichts dieser Aussichten ist das Versprechen, science via open science zur citizen science zu machen, die den Bürgerinnen und Bürgern nach den Vorstellungen der Politiker und Funktionäre so zugutekommen soll wie der Strom aus der Steckdose – und das Ganze unter Ausschluss der Geisteswissenschaften –, ein Szenario, das sich nicht einmal der schlimmste Wissenschaftsfeind hätte ausdenken können.