Die Klimakrise kommt auf Netflix bislang vor allem in postapokalyptischen Szenarien vor. Aktuelle Serien wie Ragnarök oder Sweet Tooth verhandeln ökologische Katastrophen und bedienen sich dabei in der Mottenkiste der Fantasy. Doch was haben alte Gött:innen und Helden mit dem Klimawandel zu tun?

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Recy­cling aus dem Mythen­fundus: Ökofan­tasy auf Netflix
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Bren­nende Wälder, schmel­zende Glet­scher und Müll­strudel im Meer prägen die mediale Wahr­neh­mung der Klima­krise, zusammen mit Aufnahmen von Greta Thun­berg, die verzwei­felt versucht, ganze Gene­ra­tionen von verstockten Gewohn­heits­tieren wach­zu­rüt­teln, die weder auf ihr Entre­côte noch auf Flug­reisen in ferne Feri­en­pa­ra­diese verzichten wollen. Die Popu­lär­kultur speku­liert schon lange lust­voll über das Ende der Welt und produ­ziert eine kaum mehr über­schau­bare Menge von dysto­pi­schen und post­apo­ka­lyp­ti­schen Szena­rien in Romanen, Filmen, TV-Serien und Video­games. Das Problem ist nur, dass in dysto­pi­schen Settings alles bereits zusam­men­ge­bro­chen ist. Das Vergnügen an Serien wie The Walking Dead (2010), die den Über­le­bens­kampf in der Zombie­apo­ka­lypse in Szene setzen, besteht für die Zuschauer:innen darin, über das Ende hinaus zu denken und zu verfolgen, wie die Mensch­heit wieder bei Null anfängt: die fiktio­nale Zukunft nach der Kata­strophe als speku­la­tives Labor. Was dabei heraus­kommt, ist oft eine Varia­tion dessen, was schon Robinson Crusoe im 18. Jahr­hun­dert durch­ge­macht hat – im besten Fall mit einem femi­nis­ti­schen, queeren und deko­lo­nialen Twist.

Unsicht­bare Phänomene

Die Obses­sion auf die Apoka­lypse führt aber dazu, dass zu wenig über die Möglich­keiten des Erzäh­lens im Hier und Jetzt speku­liert wird. Das führt zu einem Erstarren zwischen Visionen vom Welt­un­ter­gang und einem messia­ni­schen Fort­schritts­op­ti­mismus, wie Donna Haraway in Staying With the Trouble (2016) argu­men­tiert. Als Alter­na­tive schlägt sie vor, Geschichten vom nach­hal­ti­geren Weiter­leben auf dem Planeten zu erzählen, die sich vom Mach­bar­keits­wahn und damit dem einsamen Helden abwenden und leben­dige Gefüge aus viel­fach verfloch­tenen Enti­täten vorstellen. Sie nennt das «Ongo­ing­ness», oder eben «staying with the trouble».

Die Schwie­rig­keit, popu­läre, also unter­halt­same und mitreis­sende Geschichten vom Weiter­leben in hoch­kom­plexen und viel­fach ökono­misch verstrickten und ökolo­gisch bedrohten Gesell­schaften zu erzählen, hat aber auch damit zu tun, dass sich die Auswir­kungen des Anthro­po­zäns – seien es schmel­zende Polkappen oder Zoonosen –  im Alltag nur schlei­chend bemerkbar machen. Timothy Morton hat den Begriff der Hyper­ob­jects geprägt für Phäno­mene, die zugleich präsent und unsichtbar, vertraut und unheim­lich sind. Dazu gehört auch die Mensch als Spezies:

The Anthro­po­cene is an anti­an­thro­po­cen­tric concept because it enables us to think the human species not as an onti­cally given thing I can point to, but as a hyper­ob­ject that is real yet inaccessible.

Die Idee des Hyper­ob­jektes hilft dabei, etwas zu verstehen. Denn es gibt keinen Mass­stab, um die indi­vi­du­elle alltäg­liche Praxis mit den Zahlen und Fakten zum Klima­wandel in ein unmit­tel­bares, kausal einleuch­tendes Verhältnis zu setzen. Als Beispiel für dieses Seltsam-Unheimliche des Mensch­seins im Anthro­pozän verwendet Morton in seinem Buch Dark Ecology. For a Logic of Future Coexis­tence (2016) das Starten eines Autos und fragt, wie es sich zur Erder­wär­mung verhält. Ökolo­gi­sches Denken setze mit der unheim­li­chen Erkenntnis ein, dass die eine Hand, die den Zünd­schlüssel dreht, statis­tisch völlig bedeu­tungslos ist. Und doch,

myste­riously and distur­bingly, scaled up to Earth magni­tude so that there are billions of hands that are turning billions of igni­tions in billions of starting engines every few minutes, the Sixth mass Extinc­tion Event is precisely what is being caused.

Der Hammer löst keine Probleme

Wer es lange genug vor dem Bild­schirm aushält, kann fest­stellen, dass Denk­an­sätze, wie sie Morton und Haraway vertreten, mitt­ler­weile Eingang in die popu­lär­kul­tu­relle Zirku­la­tion gefunden haben. Als Expe­ri­men­tier­raum dienen, wenig über­ra­schend, Fantasy-Serien, die sich auch an Kinder bezie­hungs­weise an Jugend­liche richten. Das hat zum einen damit zu tun, dass die ‚Klima­ju­gend‘ mitt­ler­weile als Ziel­pu­blikum entdeckt wurde, und tatsäch­lich gibt es in Sweet Tooth und in Ragnarök jeweils eine Greta-Figur. Ande­rer­seits ist das Fantasy-Genre im Bereich Kinder- und Jugend­me­dien nicht mehr in erster Linie ein Austra­gungsort des Kampfes von Gut gegen Böse, sondern ist in den letzten Jahren immer mehr zum Expe­ri­men­tier­feld für ein ökokri­ti­sches und an Diver­sität orien­tiertes Erzählen geworden.

Ragnarök, Quelle: Netflix

Auf Netflix sind zwei ganz unter­schied­liche Original-Produktionen zu sehen, die versu­chen, schlei­chende Prozesse erfahrbar zu machen und anstatt vom Aufräumen nach der Kata­strophe von dyna­mi­schen Verflech­tungen zu erzählen. Die däni­sche Serie Ragnarök (2020) nutzt die Mittel des seri­ellen Erzäh­lens schlau, um das anwesend-abwesend Unheim­liche von Folge zu Folge fass­barer zu machen. Zu Beginn kämpft eine junge Klima­ak­ti­vistin allein gegen den Gross­kon­zern, der in einem norwe­gi­schen Dorf mit dem viel­sa­genden Namen Edda das Trink­wasser vergiftet und Menschen an Krebs sterben lässt – doch niemand glaubt ihr. Selbst ihr myste­riöser Tod bereits in der ersten Folge bringt das verschla­fene Dorf nicht aus der Ruhe. Nur Magne, der Neue in der Klasse, geht der Sache nach. Während er mehr und mehr Beweise für die Umwelt­ka­ta­strophe sammelt, die damit für die Zuschauer:innen immer realer wird, verwan­delt sich sein Körper eben­falls schlei­chend: er entwi­ckelt Super­kräfte. Auf der Hand­lungs­ebene haben sie nichts mit seinem Enga­ge­ment gegen die Grossunternehmer:innen zu tun, doch in der Insze­nie­rung wird klar, dass es der Wider­stand ist, der ihn zu einer Inkar­na­tion von Thor, dem nordi­schen Blitz- und Donner­gott, macht. Auch hinter der Indus­tri­el­len­fa­milie, die das Wasser vergiftet und die Menschen schamlos ausbeutet, verste­cken sich mythi­sche Riesen: Der Kampf zwischen Gross­ka­pital und rück­sicht­losem Unter­neh­mertum auf der einen und Klimaaktivist:innen auf der anderen Seite wird als Neuauf­lage von Ragnarök, dem Kampf der Gött:innen gegen die Riesen, insze­niert. Das klingt, so nach­er­zählt, lächer­lich. Doch der Reiz der Serie besteht darin, dass der Kampf für eine bessere Welt durch die gekonnt trashige Insze­nie­rung von Super­kräften und Kämpfen zwischen Riesen und Gött:innen gleich­zeitig ironi­siert und ernst­ge­nommen wird.

Mjölnir-Hammer in Ragnarök, Quelle: Netflix

Die Super­kräfte und der mythi­sche Mjölnir-Hammer lösen kein einziges Problem, sie spitzen die vorhan­denen nur zu. Denn die Serie meint es ernst mit dem Wider­stand der Jugend­li­chen, die genug haben vom Oppor­tu­nismus der Erwach­senen. Im Kern erzählt Ragnarök eine Coming-of-Age-Geschichte, die das Fantas­ti­sche braucht, um auszu­bre­chen aus popu­lären psycho­lo­gi­schen Narra­tiven, die nur auf Anpas­sung oder Resi­gna­tion hinaus­laufen können. Man wundert sich aber schon, warum diese Serie etwas so Frisches und Über­ra­schendes hat, wo sie doch ausge­rechnet uralte weiße Helden bemüht, die dazu seit zehn Jahren ausgiebig durch das Marvel-Universum durch­ge­nu­delt werden (2011 kam Thor ins Kino; der neueste Zugang ist die Mini­serie Loki von 2021). Es gelingt Ragnarök, den Helden­kult umzu­drehen – Thor kann so stark sein, wie er will, entschei­dend ist seine Fähig­keit zur Vernet­zung und zur Zusam­men­ar­beit. Und sobald er begreift, dass es heut­zu­tage nicht mehr reicht, den Mjölnir-Hammer durch die Gegend zu werfen, steht er auch nicht mehr als einsamer Held da, sondern als Teil eines Teams. Auf der Ebene der Insze­nie­rung wird die Bewe­gung hin zum Mythi­schen verkop­pelt mit einer Öffnung des Raums. Die Klein­stadt, die sich zu Beginn ängst­lich vor den Wirt­schafts­ma­gnaten zu ducken scheint, erscheint immer mehr als Ort der sozialen Durch­läs­sig­keit und der fluiden Geschlechteridentitäten.

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Hirsch­junge mit Charme

Noch weiter treibt die US-Serie Sweet Tooth (2021) die fantas­ti­sche Entgren­zung. Schau­platz der Serie ist zwar eine Welt nach der Kata­strophe – einer Viren-Pandemie –, in der das Leben aber irgendwie weiter­geht, wenn auch mit einer redu­zierten Infra­struktur. Seit dem Ausbruch der Krank­heit, ‚the big crumble‘ genannt, sind alle Neuge­bo­renen spezies­fluid, was sie immun macht gegen den Virus. Die einen haben eine Schwei­ne­nase oder, wie der Prot­ago­nist Gus, ein Hirsch­ge­weih, andere sehen aus wie Kuschel­tiere oder Figuren aus Kinder­ani­ma­ti­ons­filmen. Zwischen Arche Noah und Winnie the Pooh verkör­pern sie alle mensch­li­chen Fanta­sien, die sich mit der Tier­welt verbinden. Doch die Wirk­lich­keit, in der sie leben, ist alles andere als kuschelig: Die soge­nannten Hybriden werden von den ‚Last Men‘, maro­die­renden Banden, gejagt, um zu Impf- und Wirk­stoffen gegen die Krank­heit verar­beitet zu werden. Die eigent­liche ökolo­gi­sche Kata­strophe bahnt sich erst an. Denn die neue Spezies, die Mensch und Tier verbindet, steht für die Hoff­nung auf eine nach­hal­tige Zukunft – doch offen­sicht­lich inter­es­sieren sich die Menschen mehr für ihre kurz­fris­tigen Bedürf­nisse als für die Zukunft des Planeten. Das gilt nicht nur für die mörde­ri­schen Banden, sondern auch für den netten Arzt, der drin­gend ein Medi­ka­ment für seine Frau braucht und deshalb alle ethi­schen Bedenken über Bord zu werfen bereit ist. Auch der Vater von Gus, dem Jungen mit Hirsch­ge­weih und tier­li­cher Sensi­bi­lität, versucht sich von der Welt abzu­schotten und seinen Sohn in der Sicher­heit des Waldes als Einsiedler aufzu­ziehen. Doch wie bei Parzival schei­tert das Projekt an der Neugier des Kindes. Gus macht sich auf den Weg, und weil er nichts weiß über die Welt, begegnet er dem ganzen Chaos da draußen mit Charme und Freundlichkeit.

Am Ende der ersten Staffel ist keine Lösung in Sicht; doch das Inter­es­sante an der Serie ist nicht das, was geschieht, sondern die Art, wie sie erzählt ist. Denn Sweet Tooth ist eine wilde, buch­stäb­lich aben­teu­er­liche Assem­blage aus Genre­mo­da­li­täten von Fantasy, Dystopie, Horror und lieb­li­chem Kinder­film. Die Serie bemüht sich gera­dezu program­ma­tisch nicht darum, alles zu einem stim­migen Ganzen zusam­men­zu­fügen, sondern lässt die wider­sprüch­li­chen Bild­welten neben­ein­ander herlaufen.

Was beide Serien verbindet ist der Versuch, sich lust­voll und recht hemmungslos am Fundus des popu­lären mytho­poe­ti­schen Erzäh­lens zu bedienen, um aus einer rasanten Abfolge von Zitaten und Déjà-vus etwas Altbe­kanntes und zugleich Verstörend-Neues entstehen zu lassen. Weil popu­läre Genres sich immer auch auf ihre jewei­lige Geschichte beziehen, lassen sich Brüche mit Konven­tionen, Seh- und Denk­ge­wohn­heiten inner­halb vertrauter Narra­tive insze­nieren. Im Fall von Sweet Tooth leben die Figuren in einer kaputten Welt, in der hinter jeder Ecke Gefahr lauert, und wandern dabei durch die Land­schaft, als seien sie Hobbits aus Lord of the Rings; eine Gruppe jugend­li­cher Rebell:innen gerät in Konflikte, die an Goldings Lord of the Flies erin­nern, und die fluiden Tier­kinder spielen mitein­ander wie in Winnie-the-Pooh – um nur einige wenige Genre­mo­da­li­täten zu nennen. Entschei­dend ist, dass jede Geschichte eine Nuance der Wirk­lich­keit erfasst, aber ohne einen Anspruch auf eine Deutungs­ho­heit. Selbst die Erzäh­ler­stimme aus dem Off, die dem Ganzen einen verbind­li­chen Rahmen geben soll, stiftet vor allem Verwir­rung. Denn die raue Stimme von James Brolin wirkt nicht nur mit ihren Kalen­der­sprü­chen, sondern auch mit ihrer Lager­feu­er­to­na­lität wie eine Gute­nacht­ge­schichte, der niemand mehr Glauben schenken will. Ihre Über­zeu­gungs­kraft ist etwa so groß wie die von Thors Hammer.

Beide Serien nutzen fantas­ti­sche, mytho­poe­ti­sche Elemente, um zu zeigen, dass der wahre Horror gerade nicht von hybriden, als mons­trös ausge­grenzten Figuren aller Art ausgeht, seien sie nun Gött:innen oder Tiere. Er steckt viel­mehr in der patri­ar­chalen, hete­ro­nor­ma­tiven Familie und im kapitalistisch-industriellen Wirt­schafts­system. Man kann sich fragen, ob die patri­ar­chalen Verhält­nisse wirk­lich mit so viel Wucht in Szene gesetzt werden müssen, damit sie dann bekämpft und aus ihren Ruinen heraus Geschichten von Soli­da­rität und (Arten)vielfalt erzählt werden können; so repro­du­zieren sich die alten Helden eben doch immer wieder, auch wenn ihre alten Waffen ihre Schlag­kraft einge­büsst haben. Auf der anderen Seite ist es genau das, was popu­läre Erzähl­for­mate so gut können: in alten Geschichten das Poten­tial für die Gegen­wart entdecken.