Fast alle Supermärkte verkaufen inzwischen Lebensmittel „aus der Region“. Die Marken heissen „Feins vom Dorf“ oder „Natürlich vom Hof“ und versprechen Nachhaltigkeit, Frische, Tradition. Das klingt gut. Doch wer genau hinschaut, merkt: Irgendetwas stimmt hier nicht.

  • Nils Wyssmann

    Nils Wyssmann lebt und arbeitet in Basel und Bern. Er studiert Sozio­logie und Sozial­anthro­pologie im Master.

Die Produkt­linie „Aus der Region. Für die Region“ der Migros steht für Ursprüng­lich­keit, Heimat­ver­bun­den­heit, Authen­ti­zität und Genuss. Laut Migros erfüllt sie den „Kunden den Wunsch, Produkte einzu­kaufen, die in ihrer Heimat von regional verwur­zelten Produ­zenten mit grosser Sorg­falt herge­stellt worden sind“. Diese Absicht wird auch in Werbe­spots des Unter­neh­mens deut­lich. Auf der Suche nach frischen Tomaten wird hier kein Aufwand gescheut: Notfalls schwingt sich die Migros-Verkäuferin gleich selbst aufs Rad, kurvt vorbei an blühenden Wiesen und saftigen Schafs­weiden, um beim Dorf­bauern frische Tomaten zu holen. Auch ein Verkäufer hat sich auf den Weg gemacht. Wie seine Kollegin trägt er das unver­kenn­bare Migros-Outfit: Schwarze Hose, rotes Hemd mit oran­ge­far­benen Streifen am Ärmel. Er holt bei der lokalen Bäuerin Eier ab. Sie lädt ihm Kiste um Kiste auf die Schulter und lächelt. Beide sind umgeben von Hühnern, die sich frei im Hühnerhof bewegen. Zu Fuss balan­ciert der Migros-Verkäufer die Ware zum Super­markt, ein Huhn folgt ihm verse­hent­lich bis zur Ladentür. Die Botschaft: „Wir geben alles für regio­nale Produkte“.

Kult des Regionalen

Auf dem Migros-Werbeplakat, welches für Tomaten aus der Region wirbt, wird beson­ders gut deut­lich, welche Klischees der Gross­ver­teiler hier bedient: Der Bauer trägt „Bauern­kleider“, Gummi­stiefel, Karo-Hemd, Jeans mit zeit­losem Schnitt; sein Voll­bart steht für Gemüt­lich­keit und Natur­ver­bun­den­heit, die leicht verschwitzten Haare und die zurück­ge­krem­pelten Hemd­ärmel zeugen von getaner Arbeit. Der Traktor ist ein Oldtimer und beweist männ­li­cher Natur­be­herr­schung und einem „gesunden“ Umgang mit Technik. Dieser Bauer hat der Verkäu­ferin kisten­weise Tomaten aufge­laden (Holz­kist­chen, versteht sich!) und mit einem Hanf­seil behelfs­mässig verschnürt; der Toma­ten­berg auf dem Fahrrad erzählt ebenso von der Güte des Bauern, der die Ware frei­mütig abgibt, wie von der Fülle und Güte der Natur, die ihm so viele Tomaten geschenkt hat. Und wie für ein solches Idyll üblich, ist die Darstel­lung relativ zeitlos gehalten: weder über­trie­bene Moder­nität noch Rück­stän­dig­keit. Inter­es­sant ist nur, dass die Migros landes­weit die gleiche „Region“ zeigt, die aber, deter­ri­to­ri­a­li­siert und gene­ra­li­siert, sich immer als eindeutig „schwei­ze­ri­sche“ Region iden­ti­fi­zieren lässt.

Migros-Werbung; Quelle: migros.ch

Mit ihrem Einsatz für die Region steht die Migros nicht alleine da. Das Programm „Aus der Region. Für die Region“ ist Teil eines zeit­ge­nös­si­schen Trends auf dem Lebens­mit­tel­markt. Ein eigenes Regionalitäts-Label haben nicht nur die beiden Schweizer Gross­ver­teiler. Auch Manor, Spar, Volg und Landi werben mit einem eigenen Güte­siegel für regio­nale Produkte. Mit Erfolg: Die Migros, die ihr Regio­nal­pro­gramm seit 2009 betreibt, hat ihren Umsatz mit regio­nalen Produkten zwischen 2012 und 2015 um über 13 Prozent auf knapp 900 Millionen gestei­gert. Für die Konsu­men­tInnen spielt „Regio­na­lität“ gegen­wärtig denn auch tatsäch­lich eine rele­vante Rolle. Gemäss der Umfrage eines Markt­for­schungs­in­sti­tuts geniessen regio­nale Produ­zenten gegen­über inlän­di­schen und auslän­di­schen Produ­zenten „das höchste Vertrauen“ der Konsu­men­tInnen. Entspre­chend sind sie bereit, bis zu fünf­zehn Prozent mehr für ein Produkt zu bezahlen, wenn es „aus der Region“ kommt. Eine Erfolgs­story: Regio­nale Lebens­mittel lassen sich häufig ökolo­gi­scher herstellen als impor­tierte, da lange Trans­port­wege entfallen, zudem unter­stützt man mit dem Kauf die lokalen Bauern. Der Markt scheint mitzu­spielen: Auf neue Bedürf­nisse der Konsu­men­tInnen wird konse­quent mit neuen Produkten reagiert…

Allein, die Bilder der Werbe­kam­pa­gnen sind zu schön, um wahr zu sein. Genauer noch: Sie sind verrä­te­risch. Es ist offen­kundig, dass ihnen ein „Aussen“ fehlt, ein „Anderes“ des Regio­nalen, das diese süss­li­chen Bilder erst ermöglicht.

Die Grenzen des länd­li­chen Idylls

Der gegen­wär­tige Kult des Regio­nalen wird nur verständ­lich, wenn man ihn mit globalen Prozessen in Verbin­dung bringt. Im Konsum­be­reich, wo die Wert­schöp­fungs­ketten bei vielen Produkten kaum mehr nach­voll­ziehbar sind, hat die Globa­li­sie­rung zu einem diffusen Unbe­hagen geführt. Genau hier setzen „lokale“ Lebens­mittel an. Die Bilder und Botschaften der Regional-Labels sugge­rieren geord­nete, kurze Liefer­ketten, die bei glück­li­chen Tieren und glück­li­chen Bauern beginnen und bei glück­li­chen Konsu­men­tInnen enden. Dies schafft nicht nur Vertrauen in die Frische und Qualität der Lebens­mittel. Die KundInnen kaufen auch das Gefühl, mit ihrem Einkauf etwas mora­lisch Gutes zu leisten und die einhei­mi­sche Produk­tion zu unter­stützen. Unter­malt wird das Ganze von einem sanften Lokal­pa­trio­tismus: Hier in der Schweiz ist die Welt in Ordnung. Aus der Region kann nur Gutes kommen.

Toma­ten­pro­duk­tion in der Schweiz; Quelle: blick.ch

Doch diese Sehn­suchts­be­wirt­schaf­tung im Dienste des Regio­nalen funk­tio­niert nur, weil sie die globale Dimen­sion der bewor­benen Produkte aktiv ausblendet. Es ist daher weder ein Zufall noch ein Versehen, wenn in der gesamten Kampagne der Migros kaum Spuren „auslän­di­scher“ Arbeit vorzu­finden sind – obwohl diese in der Realität eine wich­tige Rolle spielen. Das beginnt bei den Rohstoffen, auf deren Import die Schweizer Wirt­schaft ange­wiesen ist. Trotz inlän­di­scher Herkunfts­an­gabe können Schweizer Lebens­mittel heute meist nur dank inter­na­tio­nalem Handel herge­stellt werden. Um bei der Toma­ten­pro­duk­tion zu bleiben: Die Setz­linge unserer Tomaten stammen in der Regel aus den Nieder­landen, Frank­reich oder Marokko. Der Dünger wird mehr­heit­lich in Deutsch­land und Belgien herge­stellt. Zur Befruch­tung der Pflanzen fliegen indus­triell gezüch­tete Hummeln aus Belgien durch die Luft, und die Rohstoffe zur Herstel­lung von Treib­häu­sern, Verpa­ckungs­ma­schinen oder Kühl­räumen stammen aus zahl­rei­chen namen­losen Ländern. Abge­baut werden sie dort durch die unsicht­baren Hände von Menschen aus aller Welt.

Auch die Schweizer Gemü­se­pro­du­zenten von heute entspre­chen nicht dem kleinen Fami­li­en­be­trieb aus der Werbung. Wer die Migros mit Gemüse belie­fert, hat meist mehrere Ange­stellte – teil­weise arbeiten über hundert Menschen in einem Betrieb. Die einfache, aber harte körper­liche Arbeit in den Schweizer Gemü­se­be­trieben wird fast ausschließ­lich von auslän­di­schen Ange­stellten erle­digt. Inlän­di­sche Beschäf­tigte gibt es in diesem kaum regu­lierten Bereich nur sehr wenige: Die Land­wirt­schaft ist dem Arbeits­ge­setz nicht unter­stellt – die dort fest­ge­schrie­bene Höchst­ar­beits­zeit von 45 Stunden pro Woche gilt also nicht. Da es keinen Gesamt­ar­beits­ver­trag gibt, exis­tiert auch kein bindender Mindest­lohn, sondern ledig­lich kanto­nale Richt­li­nien. In den meisten Kantonen liegt die Wochen­ar­beits­zeit zwischen 50 und 55 Stunden bei einem empfoh­lenen Mindest­lohn von 3200 Franken für unge­lernte Arbeits­kräfte. Für Kost und Logis auf dem Betrieb können bis zu 990 Franken pro Monat abge­zogen werden; was übrig bleibt, ist ange­sichts des Preis­ni­veaus mehr als bescheiden. Schweiz­weit verdienen etwa 15‘000 Menschen ihr Geld unter diesen Bedin­gungen. Einige tun dies während einer Saison, andere während vieler Jahre.

Polni­sche Ernte­helfer in der Schweiz; Quelle: 20min.ch

Eine exklu­sive Illusion

Mit ihrer Kampagne aktua­li­siert die Migros die Vorstel­lung der Schweiz als Insel. Sie stellt das Land als von äusseren Kräften unbe­rührtes Idyll dar, das aus sich selbst schöpft. Dieses Ideal ist nicht einfach ein Produkt der Werbe­indus­trie, es schlägt sich auch im Produk­ti­ons­alltag nieder, zum Beispiel auf der Website eines grossen Gemü­se­be­triebs, der auch für das Migros-Label „Aus der Region“ produ­ziert: Der Betrieb beschäf­tigt bis zu 140 Ange­stellte, die gröss­ten­teils als „unge­lernte“ Arbei­te­rInnen aus Osteu­ropa oder Portugal rekru­tiert werden. Während die zehn „Fach­kräfte“ mit vorwie­gend schwei­ze­risch klin­genden Namen nament­lich auf dem Orga­ni­gramm erscheinen und auf der Website mit Foto in der Rubrik „Unser Team“ aufge­führt sind, fehlen die 120 migran­ti­schen Ange­stellten zum grössten Teil. Auf dem Orga­ni­gramm werden sie im Feld „Mitar­beiter“ zusam­men­ge­fasst. Fotos von ihnen finden sich nirgends.

Margi­na­li­sie­rende Effekte zeitigt schon die verbrei­tete Kate­go­ri­sie­rung von land­wirt­schaft­li­chen Ange­stellten als „Ernte­helfer“ und „Hilfs­kräfte“, die den vermeint­lich exzep­tio­nellen und margi­nalen Charakter dieser Arbeits­ver­hält­nisse sugge­riert. Die pauschale Vorstel­lung von land­wirt­schaft­lich Ange­stellten als „saiso­nale Hilfs­kräfte“, die nur „vorüber­ge­hend“ hier sind, ist nicht nur irre­füh­rend, da viele von ihnen regel­mässig für mehrere Monate kommen oder Jahre hier arbeiten. Die Einstu­fung wird auch zur Recht­fer­ti­gung der tiefen Löhne in dieser Kate­gorie heran­ge­zogen. Werden Bauern­ver­treter auf die schlechte Besol­dung in diesem Bereich der Branche ange­spro­chen, heisst es häufig, dass die Löhne „vergleichs­weise“ hoch seien. Wobei der Lohn nicht am Schweizer Lohn­ni­veau bemessen wird, sondern an den Löhnen im Herkunfts­land. So erklärt beispiels­weise ein Schweizer Obst­pro­du­zent im Inter­view: „Ein Sommer im Basel­biet bedeutet einen Jahres­lohn eines Bauern in Polen“. In dieser Logik ist die Zusam­men­ar­beit zwischen Polen und Schwei­zern eine Win-Win-Situation mit posi­tiven Auswir­kungen für beide Seiten: „Wir“ bezahlen weniger Lohn als sonst, „sie“ verdienen mehr als „zuhause“. Wie auch immer man das einschätzen mag: „regional“ ist es nicht.

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Der Wunsch, dass unsere Lebens­mittel die Frucht einer ursprünglich-schweizerischen „Region“ sein könnten, ist ebenso werbe­wirksam wie fiktiv. Die Effekte, die er zeitigt, sind jedoch real – und zwar gerade für jene, deren Lebens­welt ausge­blendet wird. Als Real­fik­tion geis­tert die Regionalitäts-Illusion durch die Produk­ti­ons­stätten und Verkaufs­läden der Gross­ver­teiler und ist dort zu einem verkaufs­träch­tigen Teil unseres Konsum­all­tags geworden. Die Nach­frage nach regio­nalen Produkten speist sich aus einem mora­li­schen Trend, der eigent­lich nur Gutes will: gesunde und nach­hal­tige Produkte. Mit viel mehr als einer Werbe­kam­pagne, die diese Bedürf­nisse venti­liert, und gering­fü­gigen Ände­rungen der Trans­port­wege hat die Ange­bots­seite darauf bisher aber nicht geant­wortet. Auf den zweiten Blick offen­bart der Regionalitäts-Trend daher nicht in erster Line ein Umdenken der Konsu­men­tInnen. Sichtbar wird viel­mehr, wie der Lebens­mit­tel­markt mit diesen berech­tigten Wünschen spielt – und wie wenig er dazu beitragen kann, diese Anliegen tatsäch­lich umzusetzen.