Die Debatte um die Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen ist älter als oft angenommen: Bereits das Zeitalter der Aufklärung kannte die Forderung, dass die Angehörigen staatlicher Exekutivmacht adressierbar und notfalls verklagbar sein sollten. Seit damals geht es um die Frage, wer „die Kontrolleure kontrolliert“.

Berlin, 1. Mai 2011: Im Zuge der alljähr­li­chen Demons­tra­tionen zum Tag der Arbeit sind auch mehrere Zivil­po­li­zis­tInnen im Einsatz und rein äußer­lich nicht von Demons­tran­tInnen zu unter­scheiden. Gegen Abend wird ein Zivil­po­li­zist zum Opfer einer Prügel­at­tacke von unifor­mierten Kollegen: Er erhält Faust­schläge ins Gesicht, Pfef­fer­spray wird einge­setzt. Der derart miss­han­delte Poli­zist – er ist einer von 200 durch den Poli­zei­ein­satz verletzten Personen, darunter zumin­dest noch ein weiterer Beamter im Zivil – zieht darauf empört vor Gericht, die Uniform­träger werden ange­klagt. Was folgt, ist ein Frei­spruch, denn iden­ti­fi­ziert werden konnte zwar laut Rich­terin die verant­wort­liche Poli­zei­ein­heit, nicht aber, wer genau die Straftat begangen und zuge­schlagen hatte.

Es sind Vorfälle wie diese, die in den letzten Jahren in Deutsch­land immer wieder zu einer Debatte um die Kenn­zeich­nungs­pflicht für Poli­zis­tInnen geführt haben. Je nach poli­ti­scher Zusam­men­set­zung der in den einzelnen Bundes­län­dern für die Poli­zei­ge­setz­ge­bung verant­wort­li­chen Regie­rungen werden derlei Kenn­zei­chen – zum Beispiel in Form von sichtbar ange­brachten Dienst­num­mern – mal einge­führt, dann aber auch wieder abgeschafft.

Wer über­wacht die Überwacher?

Von solchen unmit­tel­baren Anlass­fällen abge­sehen, dreht sich die Debatte über eine Kenn­zeich­nungs­pflicht von Poli­zis­tInnen im Kern um Fragen von Macht und Kontrolle der Polizei. Die Polizei hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass demo­kra­tisch beschlos­sene Gesetze auch tatsäch­lich durch­ge­setzt werden. Ohne funk­tio­nie­rende Rechts­durch­set­zung wären Rechts­staat und Demo­kratie nur leere Hüllen ohne echte Substanz. Aus diesem Grund ist es unum­gäng­lich, dass sich gerade die Polizei selbst an die Gesetze hält. Dennoch kommt es oft zu Über­schrei­tungen: Gewalt, Diskri­mi­nie­rung, Amts­miss­brauch. Auch Poli­zis­tInnen sind nur Menschen – und dabei jedoch mit der Auto­rität und Macht der Staats­ge­walt ausgestattet.

Deswegen braucht jeder Rechts­staat eine funk­tio­nie­rende Kontrolle der Polizei. Diese kann verschie­dene Formen haben: zum Beispiel interne Aufsichts­or­gane, Proto­kol­lie­rungs­pflichten oder Diszi­pli­nar­ver­fahren. Diese Art der Kontrolle kann aber typi­scher­weise nicht von den zivilen Betrof­fenen selbst initi­iert werden. Anders als Opfer im Straf­ver­fahren hat man in einem Diszi­pli­nar­ver­fahren gegen Poli­zis­tInnen keine Teil­ha­be­mög­lich­keit und keine Prozess­rechte. Zudem schei­tern Straf­ver­fahren gegen Poli­zis­tInnen regel­mäßig daran, dass sie den Betrof­fenen nicht nament­lich bekannt sind und im Ermitt­lungs­ver­fahren, das noch dazu von der Polizei selbst geführt wird, die Iden­tität nicht fest­ge­stellt werden kann. Dass viele Vorfälle von Poli­zei­ge­walt unge­straft bleiben, kann nicht nur zu Trauma und dem Empfinden tiefer Unge­rech­tig­keit bei den Opfern führen, sondern auch von Poli­zis­tInnen als Frei­schein verstanden werden.

Das Wissen darum, dass die zur Durch­set­zung der Gesetze beauf­tragten Personen zuweilen auch gegen diese verstoßen und Maßnahmen nötig sind, staat­liche Ordnungs­hü­te­rInnen gege­be­nen­falls zur Rechen­schaft für ihre Taten zu ziehen, ist dabei älter als der demo­kra­ti­sche Rechts­staat: Bereits in der römi­schen Antike stellte der Schrift­steller Juvenal in seinen Satiren die Frage: „Wer über­wacht die Über­wa­cher?“ Nach der ab dem späten 17. Jahr­hun­dert einset­zenden Schaf­fung einer modernen Polizei wurde die Notwen­dig­keit gesehen, deren Recht auf Gewalt­aus­übung zumin­dest mini­male Abwehr­rechte der betrof­fenen Bevöl­ke­rung entge­gen­zu­setzen. Eines dieser Mittel war die sicht­bare Kenn­zeich­nung der Poli­zei­kräfte mit Nummern: eine Kultur­technik, die insbe­son­dere im 18. Jahr­hun­dert weit verbreitet war, um beweg­liche wie unbe­weg­liche Objekte – Fiaker, Sänften und Häuser etwa –, aber auch Subjekte besser kontrol­lierbar und regierbar zu machen.

Nummern für die habs­bur­gi­sche Polizei – „Unter­wa­chung“ zur Zeit der Aufklärung

Georg Emanuel Opiz: Wiener Poli­zei­soldat mit Nummer auf der Patro­nen­ta­sche, in: ders.: 52 Szenen aus dem Volks- und Stra­ßen­leben in Wien zur Zeit Franz I. (1804–12)

Eine verglei­chende Unter­su­chung dazu, ab wann und mit welcher Moti­va­tion derlei Prak­tiken der Kenn­zeich­nung der Polizei einge­setzt wurden, stellt noch ein Forschungs­de­si­derat dar. Für Groß­bri­tan­nien etwa ist eine Kenn­zeich­nung von Poli­zisten ab 1860, für die USA – mittels Namens­schilder – ab den 1960er/70er Jahren belegt.

Beson­ders anschau­lich ist das Beispiel der Habs­bur­ger­mon­ar­chie: Als 1776 eine neue Poli­zei­ord­nung für Wien erlassen wurde, fand sich darin auch die Bestim­mung, dass „die ganze Wach­mann­schaft auf ihren Patron­ta­schen, die sie darum in Dienst­ver­rich­tungen beständig umhaben müssen, mit ausnehm­baren messin­genen Nummern unter­schieden“ werden sollte. Dies explizit mit der Begrün­dung, „damit das Beschwer­de­führen viel­leicht dadurch, weil der Mann von der Wache dem Belei­digten unbe­kannt wäre, nicht erschwert, oder unmög­lich gemacht werde“ und „daß derge­stalt genug sein wird, anzu­zeigen, man sei von dem sovielten Numero belei­diget worden.“ Die so genannten „Poli­zei­sol­daten“ unter­lagen damit einer Kenn­zeich­nungs­pflicht, die im Falle von Über­griffen die staat­li­chen Übel­täter iden­ti­fi­zierbar und anklagbar machen sollte.

Die Maßnahme, über die auch zeit­ge­nös­si­sche Wien-Reisende wie der Berliner Aufklärer Fried­rich Nicolai berich­teten, kann als Beispiel einer so genannten „Unter­wa­chung“ („sous­veil­lance“) einge­stuft werden. Dieser Begriff wurde vom kana­di­schen Infor­ma­tik­pro­fessor Steve Mann in die Debatte um Über­wa­chung und Kontrolle einge­führt und hat den Vorteil, dass er das Gefälle zwischen der Obrig­keit und ihren Unter­ge­benen bzw. heute Konzernen und staat­li­chen Behörden auf der einen und Bürge­rInnen auf der anderen Seite nicht leugnet, zugleich jedoch darauf verweist, dass Mittel wie die Adres­sier­bar­ma­chung staat­li­cher Organe dem schwä­cheren Part in dieser Bezie­hung zumin­dest begrenzte Möglich­keiten an die Hand geben, sich gegen Willkür zur Wehr zu setzen.

Die wieder­holte Anony­mi­sie­rung der öster­rei­chi­schen Polizei

Ring­kragen der Wiener Poli­zei­wache mit Dienst­num­mern, Wiener Krimi­nal­mu­seum (Foto: Anton Tantner)

Die Kenn­zeich­nungs­pflicht der Polizei blieb in Öster­reich in den folgenden Jahr­zehnten keines­wegs unum­stritten. Die Nummern wanderten je nach Einheit mal von den Patro­nen­ta­schen auf deren Riemen, mal auf die Kopf­be­de­ckung und wurden in öffent­li­chen Gremien wie dem Wiener Gemein­derat heftig disku­tiert. 1869 schließ­lich erhielten die Beamten der in Wien einge­rich­teten k.k. Sicher­heits­wache eine am metal­lenen Ring­kragen ange­brachte Nummer. Dieses Iden­ti­fi­zie­rungs­mittel wurde fortan auch von Zeitungen genutzt, um für verdienst­voll gehal­tene Poli­zisten mit ihrer Nummer lobend zu erwähnen, dann etwa, wenn ein Ordnungs­hüter einen Lebens­müden davon abhalten konnte, sich im Donau­kanal zu ertränken.

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Eine solche mediale Erwäh­nung der Dienst­nummer wurde jedoch auch zur öffent­li­chen Kritik verwendet, was insbe­son­dere dann viru­lent wurde, als es in der poli­tisch unru­higen Zwischen­kriegs­zeit in Öster­reich häufig zu Zusam­men­stößen zwischen der Polizei und protes­tie­renden Bürge­rInnen kam. Oft wurde in den Zeitungen das Vorgehen der Polizei als brutal und gewalt­tätig beschrieben – unter Anfüh­rung der persön­li­chen Dienst­nummer der beschul­digten Poli­zisten. Dies führte dazu, dass die Sicher­heits­wa­che­be­amten des Bundes vom Bundes­kanz­leramt die Abschaf­fung der Kenn­zeich­nungs­pflicht forderten: Sie sei der Beamten unwürdig, werde für falsche Beschul­di­gungen miss­braucht und schä­dige so das ganze Korps im Ansehen. Es sei ausrei­chend, dass die Beamten Ermäch­ti­gungs­ur­kunden bei sich trügen, die sie im Bedarfs­fall vorzeigen könnten. 1933 wurde die Kenn­zeich­nungs­pflicht schließ­lich abge­schafft, nach Ende des Faschismus 1945 wieder eingeführt.

Auf ein Neues entspann sich die Debatte um die Kenn­zeich­nungs­pflicht in den 1960ern. Der umstrit­tene sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Innen­mi­nister Franz Olah schaffte sie wiederum ab. Wieder waren es die Poli­zei­ver­treter gewesen, die dafür lobby­iert hatten, mit dem glei­chen Argu­ment wie in den 30ern. Da die Poli­zisten die Nummern nicht ihrer „würdig“ fanden, wollte Olah diese durch Namens­schilder ersetzen. Doch auch das konnte er gegen­über der Poli­zei­ge­werk­schaft nicht durch­setzen. Fast zeit­gleich mit der erneuten Abschaf­fung in Öster­reich wurde die Kenn­zeich­nungs­pflicht in Bayern einge­führt – eine Ironie der Geschichte, aber zugleich auch ein Zeichen dafür, dass die Kenn­zeich­nungs­pflicht nicht Ausdruck eines bestimmten Zeit­geistes ist.

Das öster­rei­chi­sche Beispiel zeigt, dass die „Erste Wiener Moderne“ – so die von Hubert Chris­tian Ehalt vorge­schla­gene Bezeich­nung für das im Zeichen von radi­kaler Aufklä­rung und Reform­ab­so­lu­tismus stehende Zeit­fenster im ausge­henden 18. Jahr­hun­dert – in dieser einen Detail­maß­nahme fort­schritt­li­cher sein konnte als die öster­rei­chi­sche Zweite Republik.

Ausblick

2007 wurden die zwei Fußball­fans Hent­schel und Stark bei einem Match in München von Poli­zisten schwer verletzt. Die Vorwürfe konnten nicht aufge­klärt werden, obwohl es Video­ma­te­rial der Polizei gab: es wurde noch während des Ermitt­lungs­ver­fah­rens gelöscht. Der Fall ging bis zum Euro­päi­schen Gerichtshof für Menschen­rechte und 2017 wurde Deutsch­land wegen Verlet­zung des Folter­ver­bots verur­teilt. Der Sach­ver­halt wurde zwar niemals restlos aufge­klärt – es gab keine Schuld­sprüche – und dennoch sah der Euro­päi­sche Gerichtshof eine Menschen­rechts­ver­let­zung in den Verfah­rens­män­geln. Eine lücken­lose Aufklä­rung schwerer Vorwürfe gegen die Polizei müsse struk­tu­rell und insti­tu­tio­nell gewähr­leistet sein können – z.B. durch eine Kennzeichnungspflicht.

Das Urteil schreibt eine Kenn­zeich­nungs­pflicht nicht zwin­gend vor, auch andere Kontroll­me­cha­nismen könnten den menschen­recht­li­chen Stan­dards genügen, wenn sie tatsäch­lich funk­tio­nieren. Er sagt aber eindeutig: eine wirk­same Kontrolle der Polizei ist ein Muss und eine Kenn­zeich­nungs­pflicht ein wich­tiger Schritt in diese Richtung.

Die Debatte um diese Kenn­zeich­nungs­pflicht wurde bislang, wenn über­haupt, dann nur von Seiten der Gegne­rInnen dieser Maßnahme unter Rück­griff auf die Geschichte geführt, nämlich unter zumin­dest impli­zitem Verweis darauf, dass Menschen nicht wie einst in den NS-Konzentrationslagern zur Nummer gemacht werden dürften. So hielt der CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, „auch aus der deut­schen Geschichte“ heraus eine „Kenn­zeich­nungs­pflicht für Menschen schlicht und einfach für uner­träg­lich und unakzeptabel“.

Es liegt auf der Hand, dass die damit getrof­fene Gleich­set­zung von mit allen Mittel staat­li­cher Souve­rä­nität ausge­stat­teter und bewaff­neter Poli­zis­tInnen mit KZ-Häftlingen unan­ge­messen ist; viel­mehr kann gerade aus histo­ri­scher Perspek­tive fest­ge­stellt werden, dass die Kultur­technik der Numme­rie­rung – ange­wandt als Maßnahme der Unter­wa­chung – ein wirkungs­volles Mittel zum Schutz der Bevöl­ke­rung vor Über­griffen durch die Polizei darstellen kann.