Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahre 1453 bildet seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein zentrales Motiv im geschichtlichen Selbstverständnis sowohl des späten Osmanischen Reiches als auch der republikanischen Türkei. Die große Bedeutsamkeit dieses historischen Ereignisses macht es jedoch zugleich zu einem hart umkämpften Feld, auf dem miteinander konkurrierende politische Strömungen um Deutungshoheit ringen. Die unterschiedliche Gewichtung nationalistischer, religiöser und säkularer bzw. säkularistischer Elemente brachte in den vergangenen hundert Jahren deshalb immer wieder neue und zum Teil stark voneinander abweichende historische Erzählungen hervor.
Auch die derzeitige Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan beteiligt sich an diesem Konflikt und ist bemüht, ihre konservativ-islamische Version der Geschichte als die einzig gültige im (offiziellen) Selbstbild der heutigen Türkei durchzusetzen. Dazu bedient sie sich diverser Mittel und Strategien – wie etwa der finanziellen Förderung von Film- und Fernsehproduktionen –, die darauf abzielen, alternative Deutungen nicht nur nachhaltig aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen, sondern sie auch als wahrheitswidrig oder gar feindselig zu diskreditieren.

Präsident Erdogan, der Kulturminister und die Hagia Sophia; Quelle: youtube.com
Beispielhaft für eine solche Darbietung des eigenen Geschichtsbildes ist der alljährlich am 29. Mai begangene Jahrestag der Eroberung Konstantinopels. Auch in diesem Jahr – dem 567. Jubiläum – standen zahlreiche kleinere und größere Feierlichkeiten an, deren Höhepunkt die abends in nahezu allen Fernsehsendern ausgestrahlte Live-Übertragung aus der Hagia Sophia bildete. Das Emblem des Präsidenten am rechten oberen Bildrand sowie die Anwesenheit des Ministers für Kultur und Tourismus, der durch das einstündige Programm führte, lassen darauf schließen, dass es sich hier um eine von der Regierung initiierte Veranstaltung handelte.
Der Triumph des Islams
Das Hauptmotiv der gesamten Sendung bildet der Islam. Das allererste Bild, das die Zuschauer*innen zu sehen bekommen, ist ein abendliches Panorama der Istanbuler Altstadt mit einer deutlich hervorgehobenen Moschee im Vordergrund. Aus dem Off spricht eine Stimme den Satz: „Gibt es jemanden, der sich nicht in diese Stadt verliebt hat, sobald er auch nur ein einziges Mal den Gebetsrufen gelauscht hat, die hier den Himmel erfüllen?“
Bild und Wort markieren Istanbul eindeutig als eine islamische oder genauer: eine türkisch-islamische Stadt. Denn gegen Ende der Sendung wird Istanbul einige Male auch „die Heimat des türkischen Volkes“ genannt. Diese zweifache Bezeichnung rührt von der althergebrachten Vermengung konservativ-islamischer Diskurse mit türkisch-nationalistischen Elementen, wobei – ähnlich wie in anderen Formen des konservativen Populismus auch – je nach politischer Konjunktur mal das eine, mal das andere mehr in Erscheinung tritt. Hier ist sie das Ergebnis der zunehmend nationalistisch-identitären Ausrichtung der Regierung unter Erdoğan.

Sultan Mehmet II. reitet gegen Konstantinopel; Quelle: youtube.com
Ganz in der Tradition des türkischen Konservatismus wird türkisch daher als Synonym für islamisch verwendet. Entsprechend werden die Belagerung und Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 in der Sendung durchweg als Sieg des Islams stilisiert. Die filmische Rekonstruktion der Kanonenangriffe auf die Stadtmauern etwa wird untermalt mit religiöser Musik, und es wird für die Märtyrer gebetet, die ihr Leben für die „heiligen Werte“ des Islams geopfert hätten. Sultan Mehmed II., der Eroberer (Fatih), wird als ein ganz und gar frommer Muslim dargestellt, dem es keineswegs um die territoriale Ausweitung seines Reiches gegangen sei. Sein eigentliches Ziel sei vielmehr gewesen, „die Herzen der Menschen zu erobern“.
Ihren besonderen Ausdruck findet die religiöse Überhöhung der Geschichte jedoch in der Rezitation der Koransure al-Fatḥ (der Sieg), deren Inhalt ausdrücklich auf die Ereignisse von 1453 bezogen wird. Es sei unter anderem diese Sure gewesen, so Präsident Erdoğan in seiner Ansprache, die das Feuer in Sultan Mehmed II. entfacht habe. Nichts habe sich Fatih (Sultan Mehmed II.) mehr gewünscht, als dass ihm die Verheißung dieser Sure zuteilwerde.
Dass diese Koranpassage an jenem Abend ausgerechnet in der Hagia Sophia erklingt und dass die Hagia Sophia überhaupt als Kulisse herhalten muss, ist kein Zufall. Ursprünglich die größte Kirche der Welt und Wahrzeichen des Byzantinischen Reiches, machten die Osmanen sie unmittelbar nach der Eroberung der Stadt zu einer Moschee. Auf Veranlassung Atatürks, des Gründers der Türkischen Republik, wurde sie jedoch 1935 in ein Museum umgewandelt, und sie wird bis heute als solches genutzt. Ihre Wiedereröffnung als Moschee ist eines der größten Anliegen einiger konservativ-islamischer Gruppen in der Türkei, und wird gerade auch von Erdoğan selbst bisweilen in Aussicht gestellt – vor allem in Zeiten seiner schwindenden Popularität. Erst kürzlich machte einer seiner Berater in einem Tweet erneut Andeutungen in diese Richtung.

Der Kulturminister schaut dem Angriff auf die Stadtmauern zu; Quelle: youtube.com
Die Bilder der Live-Übertragung vom 29. Mai sprechen eine ähnliche Sprache und setzen die Hagia Sophia dezidiert als Moschee in Szene. Stets werden die islamischen Bauelemente in den Fokus gerückt. Die byzantinisch-christlichen Mosaiken im Innenraum des Gebäudes werden bis auf ein einziges Mal im weit entfernten Hintergrund nicht gezeigt. Vor der Hagia Sophia ist eine den byzantinischen Stadtmauern nachempfundene Leinwand aufgebaut, auf der per Videoprojektion deren Einstürzen simuliert wird. Nach einem gigantischen Feuerwerk ertönt schließlich der islamische Gebetsruf. Das bis dahin nur Angedeutete wird somit offenkundig: Es steht noch eine zweite Eroberung Istanbuls an. Diese ist erst vollbracht, wenn auch das letzte Hindernis überwunden ist und die Hagia Sophia ihr Dasein als Moschee zurückerlangt hat. Und so dankt Präsident Erdoğan zum Abschluss seiner Rede all denjenigen, die „die Hagia Sophia, das Sinnbild der Eroberung, an diesem denkwürdigen Tag nicht mit ihrem Kummer alleingelassen haben“.
Geschichte als Instrument für Ausgrenzung
Die spezifische Rekonstruktion und aufwändige mediale Inszenierung des eigenen epochalen Siegs kommen auch im Fall der Eroberung Konstantinopels nicht ohne Feindbilder aus. Hier wird das Othering vorwiegend mithilfe einer auf die Leinwand projizierten 18-minütigen Video-Show betrieben, in der christliche oder byzantinische Motive nur im Zusammenhang mit Negativzuschreibungen durch die Off-Stimme auftauchen. „Der Westen“ wird explizit und mehrfach mit Eigenschaften wie Prunk, Dekadenz, Neid, Machtsucht, Gier und Zwietracht charakterisiert. Es seien die Intrigen der Byzantiner untereinander gewesen, die die Risse in den Mauern Konstantinopels verursacht hätten. Längst sei die Stadt von „Dunkelheit“ überkommen gewesen, heißt es. Die politischen Ränkespiele am Hofe des Sultans oder etwa die gängige und auch von Mehmed II. umgesetzte Praxis des Brudermords hingegen werden nicht erwähnt.

Mehmet II. im eroberten Konstantinopel; Quelle: youtube.com
Vor dem Hintergrund dieser holzschnittartigen Schilderung „westlicher“ Zustände erscheint das militärische Vorgehen Sultan Mehmeds II. folgerichtig als eine Wohltat für Byzanz und, ja, die gesamte Menschheit. Die Eroberung Istanbuls sei „nicht ein Sieg des Zorns und der Rache gewesen, sondern ein Sieg der Wahrheit und der Zivilisation“. Fatih habe Istanbul „zur Hauptstadt nicht nur des Osmanischen Reiches, sondern auch der Glückseligkeit und des Friedens“ gemacht. Ergo wird die „Dunkelheit“ von Byzanz verbal wie visuell kontrastiert mit dem „Licht des Islams“, dessen Ruhm Istanbul nunmehr gänzlich erleuchtet habe. Wir sehen Sultan Mehmed II. als Sonne am Horizont aufgehen.
Die Konstruktion von historischen Feindbildern dieser Art dient nicht nur einer nostalgischen Glorifizierung der eigenen Geschichte. Sie geht ebenso einher mit Verweisen auf die Gegenwart sowie auf aktuelle Bedrohungsszenarien. Es ist zunächst der Imam, der nach seiner Koranrezitation die Hände erhebt und Gott darum bittet, „unser edles Volk vor der Niedertracht innerer wie äußerer Feinde“ zu beschützen. Zudem wird erklärt, dass die von Sultan Mehmed II. errichtete Rumelische Festungsanlage am Bosporus „heute noch immer Wache steht“. Wie hier deutlich wird, bezieht sich Nostalgie nicht bloß auf historische Geschehnisse. Sie stellt auch eine Kontinuität zum Hier und Jetzt her und liefert damit die Begründung gegenwärtiger Identitäten und Zugehörigkeiten.
Angesichts der multiethnischen und multireligiösen Beschaffenheit der heutigen Türkei spiegeln unterschiedliche Erzählungen über Geschichte immer auch einen Widerstreit zwischen alternativen Identitäts- und Kollektivitätsentwürfen wider. Die Fragen, wie die Gemeinschaft der Türkei sich zu definieren hat, wer dazugehört und wer nicht, bestimmen dabei die Linien, entlang derer diese Konflikte ausgetragen werden. Der in der Fernsehsendung bemühte Identitätsdiskurs deutet auf genau jenen Konflikt hin: Indem die Stadt Istanbul mehrfach als türkisch-islamischer Ort bestimmt und als „ewige Heimstätte“ der Türken bzw. des Islams bezeichnet wird, werden alle anderen Bevölkerungsteile kategorisch als Fremde und Außenstehende konstituiert. Kurden, Armenier, Aleviten und zahlreiche andere Gruppen gehören der hier unaufhörlich beschworenen Volksgemeinschaft demnach nicht an und werden allenfalls geduldet. Ein Recht auf Teilhabe besitzen sie nicht etwa aus Prinzip, sondern nur insofern der türkisch-muslimische Herrscher ihnen dieses Recht – wie es in der Video-Show heißt: „gnädigerweise“ – zubilligt. Von daher verwundert es auch nicht, dass selbst in den ausdrücklichen Bezugnahmen auf die heutige Population der Türkei Begriffe wie Pluralismus, Demokratie oder Menschenrechte kein einziges Mal Erwähnung finden.
Legitimierung des Autoritarismus

Mehmet II. als Vorbild Erdogans; Quelle: youtube.com
Es sind nicht nur die Feindbilder und Bedrohungsszenarien, mithilfe derer die Sendung Analogien zwischen Geschichte und Gegenwart herstellt. Auch die spezifische Darstellung Sultan Mehmeds II. enthält mancherlei Verweise auf die aktuelle politische Situation in der Türkei und damit auf die Regierung und insbesondere den Regierungsstil Präsident Recep Tayyip Erdoğans. Am deutlichsten wird dies in der etwa zehnminütigen Ansprache, in der Erdoğan ausdrücklich betont, dass er sich in der Nachfolgerschaft des Sultans sehe: „Wir sind stets den Spuren Fatihs gefolgt und waren immer bemüht, die Herzen der Menschen zu gewinnen.“
Das erste Bild, das die Zuschauer*innen von Erdoğan in dieser Sendung zu sehen bekommen, ist, wie er sich mit erhobenen Händen dem Bittgebet des Imams anschließt. Seine Rede leitet er ein mit einer islamischen Eröffnungsformel, der Basmala, und im Anschluss trägt er die türkische Übersetzung der Koransure al-Fatḥ vor. Insgesamt ist seine Ansprache mit allerlei religiösen Referenzen ausgeschmückt und setzt ihn somit als legitimen – weil muslimischen – Hüter Istanbuls in Pose. Ob als Bürgermeister, Ministerpräsident oder Staatspräsident, vieles habe er im Laufe seines Lebens für diese Stadt getan, erklärt er. All diese Wohltaten „werden im Jenseits die Vergebung meiner Sünden bewirken“. Die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, habe er immer wieder überwinden können, und zwar „mit Gottes Hilfe, der Unterstützung unseres erhabenen Volkes und den Gebeten der Heiligen“. 2053, im Jahr des 600. Jubiläums der Eroberung, werde er den jungen Menschen „eine Türkei hinterlassen, die Fatihs würdig ist“. Erfolg aber, so Erdoğan an anderer Stelle, fuße nicht auf Wohlwollen oder einer guten Vorbereitung allein. Der islamische Gelehrte und Lehrer Mehmeds II., Akşemseddin, habe einst in einem Brief an seinen Schüler eine weitere wichtige Voraussetzung genannt: Gehorsam gegenüber dem Gebieter.
Die autoritäre Beziehung Sultan Mehmeds II. zu seinem Gefolge wird hier von Erdoğan zu einer idealen – weil siegreichen – Verbindung von Herrscher und Beherrschten stilisiert und in Anlehnung an einen religiösen Würdenträger gleichsam verabsolutiert. Triumphe seien immer auch der Gefügigkeit der Untergebenen zu verdanken, erfahren die Zuschauer*innen. Die Selbstinszenierung Erdoğans als frommes und vaterlandsliebendes Staatsoberhaupt, das zudem beachtliche Ähnlichkeiten mit Mehmed II. aufweist, soll mithin ausreichen, dass die Bevölkerung seinen guten Absichten vertraut, seine Autorität anerkennt und unhinterfragt seinen Weisungen Folge leistet. Auch der Minister bestätigt schließlich – nicht zuletzt durch seine demütige Körperhaltung – die Ausführungen Erdoğans. Sichtlich nervös lobt er die Führungsqualitäten des Präsidenten und dankt ihm für seine Wegweisung gerade auch in schwierigen Zeiten. Auf der ganzen Welt habe Erdoğan dafür Bewunderung geerntet, fügt er hinzu.
Autokratische Denkmuster
Bei der Fernsehsendung zum Jubiläum der Eroberung handelt es sich um ein Beispiel dafür, wie durch Zuhilfenahme einer historischen Begebenheit versucht wird, die kollektive Meinung zugunsten der politischen Führung zu beeinflussen. Hier findet keine offene und sachbezogene Auseinandersetzung mit Geschichte statt, die eine Diversität von Interpretationen zuließe. Stattdessen werden autokratische Denkmuster mit viel Effekthascherei in den öffentlichen Diskurs hineingetragen und wird dieser hegemonial gefestigt. Erdoğan, dessen Zustimmung in der Bevölkerung nachweislich abnimmt, bedient sich häufiger als zuvor religiöser und nationalistischer Symboliken nicht nur, um damit sein eigenes Geschichtsbild in der Öffentlichkeit zu etablieren, sondern auch und vor allem, um seinen politischen Machtanspruch in der Türkei zu konsolidieren. Einmal mehr entpuppt sich nostalgisches Gebaren als Herrschaftsmittel autoritärer Regime.