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„Nöti­gen­falls müßte an die Einfüh­rung des ius soli gedacht werden.“

Um der Über­frem­dung wirksam (entgegen) zu steuern, wäre ein Mehr­fa­ches der heutigen Zahl von Einbür­ge­rungen notwendig. Eine aufge­schlos­sene Einbür­ge­rungs­po­litik ist daher ein drin­gendes staats­po­li­ti­sches Gebot. […] Nöti­gen­falls müßte an die Einfüh­rung des ius soli gedacht werden.

Wir schreiben das Jahr 1964. Mit diesen Empfeh­lungen zu einem Kurs­wechsel in der Einbür­ge­rungs­po­litik schliesst die Eidge­nös­si­sche Studi­en­kom­mis­sion für das Problem der auslän­di­schen Arbeits­kräfte ihren Bericht, den sie nach drei Jahren Arbeit dem Bundesrat vorlegt (195f.).

Buch­cover, Privatbesitz

Die Kommis­sion war am 22. Februar 1961 durch das Eidge­nös­si­sche Volks­wirt­schafts­de­part­ment im Einver­nehmen mit dem Justiz- und Poli­zei­de­part­ment einge­setzt worden, um „das Problem der auslän­di­schen Arbeits­kräfte unter ökono­mi­schen, bevöl­ke­rungs­po­li­ti­schen, sozio­lo­gi­schen und staats­po­li­ti­schen Gesichts­punkten zu prüfen“.

Der Bericht erscheint an einem Wende­punkt der schwei­ze­ri­schen Migra­ti­ons­po­litik. Die wirt­schaft­liche Hoch­kon­junktur nach dem Zweiten Welt­krieg hatte zu einer Verknap­pung einhei­mi­scher Arbeits­kräfte geführt. Zwischen Ende der 1940er und Mitte der 1960er Jahre waren daher Hundert­tau­sende ‚Fremd­ar­beiter‘ vor allem aus Italien in die Schweiz geholt worden, um den wirt­schaft­li­chen Motor am Laufen zu halten und das Wachstum nicht zu gefährden. Man setzte dabei auf das Rotations-Prinzip: Die Fremd­ar­beiter sollten für eine begrenzte Zeit ins Land kommen – als leicht abstoss­barer Puffer für den Schweizer Arbeitsmarkt.

Der Bestand der auslän­di­schen Wohn­be­völ­ke­rung in der Schweiz stieg in dieser Zeit von rund 250’000 auf über 700’000 Personen bzw. von ca. 5 % auf über 11 % der Gesamt­be­völ­ke­rung. Die Folgen der expan­siven Wirt­schafts­po­litik, also die wach­sende Zahl an auslän­di­schen Arbeits­kräften, Konjunk­tur­über­hit­zung und Teue­rung, wurden in der Öffent­lich­keit ab den späten 1950er Jahren mit wach­sendem Unbe­hagen wahr­ge­nommen. Dabei wurden zuneh­mend auch frem­den­feind­liche Stimmen laut, die zu den Natio­nal­rats­wahlen 1963 in der Grün­dung einer Anti-Italiener-Partei und einer Partei gegen die Über­frem­dung durch Südländer poli­tisch Ausdruck fanden und auf die der Bundesrat mit ersten ‚Plafonierungs‘-Massnahmen, das heisst mit Zulas­sungs­be­gren­zungen, zu reagieren versuchte.

Wir beob­achten hier eine Grund­kon­stel­la­tion Schweizer Migra­ti­ons­ge­schichte der Nach­kriegs­zeit: Wirt­schafts­li­be­rale und frem­den­feind­liche Kräfte mögen zwar auf der Ebene der poli­ti­schen Selbst­ver­or­tungen entge­gen­ge­setzte Kräfte darstellen – bei der Massen­ein­wan­de­rungs­in­itia­tive ein halbes Jahr­hun­dert später trat ja nomi­nell auch die welt­of­fene Schweiz gegen die Insel­schweiz an –, ergänzen sich dabei jedoch funk­tional. Aus gesamt­ge­sell­schaft­lich syste­mi­scher Sicht kann man hier eine unheil­volle Symbiose zur Mehrung des Wohl­stands des Schwei­zer­volks auf Kosten migran­ti­scher Arbeits­kräfte konsta­tieren: zwei Seiten einer Medaille.

In dem Sinne kann die Arbeit der Studi­en­kom­mis­sion auch als Versuch verstanden werden, Mitte der 1960er Jahre einen neuen funk­tio­nalen Kompro­miss zwischen diesen beiden poli­ti­schen Polen auszu­han­deln. Dies merkt man dem Bericht, der von drei unter­schied­li­chen Subkom­mis­sionen zusam­men­ge­stellt wurde, zuweilen an: So finden sich hier einer­seits Über­le­gungen zur Einfüh­rung eines ius soli – eine im Vergleich zur mutlosen Bürger­rechts­re­vi­sion ein halbes Jahr­hun­dert später höchst progres­sive Haltung – und ande­rer­seits der Befund, die Schweiz befinde sich „im Stadium einer ausge­spro­chenen Über­frem­dungs­ge­fahr“. Um diese Gefahr zu bannen, regte man einen Poli­tik­wechsel an, der auf die Formel vom Rotations-Prinzip zur Assi­mi­la­ti­ons­po­litik gebracht werden kann und der die nächsten Jahr­zehnte auslän­der­po­li­tisch prägen sollte: Die Ära der Schwei­zer­ma­cher beginnt hier.

Das eidge­nös­si­sche Assi­mi­la­ti­ons­re­gime bedeu­tete für die Ausländer in der Schweiz faktisch einsei­tige Anpas­sungs­zu­mu­tungen, sehr oft auch rassis­ti­sche Diskri­mi­nie­rung sowie obrig­keits­staat­liche Über­wa­chung und Entwür­di­gungs­er­fah­rungen en masse, die sich bis heute in Fami­li­en­ge­schichten tradieren. Doch gleich­zeitig kommt der Über­gang von der Rotations- zur Assi­mi­la­ti­ons­po­litik auch einer begin­nenden Aner­ken­nung der Tatsache gleich, dass viele der Menschen, die gekommen waren, vorhatten zu bleiben. Die Vorstel­lung, dass die auslän­di­schen Arbeits­kräfte bei Bedarf einfach wieder entsorgt werden konnten, hatte sich aus mehreren Hinsichten als falsch heraus­ge­stellt: Zunächst einmal weigerten sich die ‚Fremd­ar­beiter‘ schlicht, ihre Lebens­ent­scheide an den wirt­schaft­li­chen Inter­essen des Schwei­zer­volkes und seiner Unter­nehmen auszu­richten. Aber es gab auch wirt­schafts­po­li­ti­sche Gründe, eine dauer­hafte Anwe­sen­heit der ‚fremden‘ Mitmen­schen in der Schweiz in Betracht zu ziehen: Zum einen hatte sich das Rota­ti­ons­mo­dell etwa in Hinblick auf notwen­dige Einar­bei­tungs­phasen als wenig effektiv heraus­ge­stellt. Zum anderen stand Mitte der 1960er fest, dass die Schweiz dauer­haft auf auslän­di­sche Arbeit­nehmer ange­wiesen sein würde und gleich­zeitig auf dem euro­päi­schen Arbeits­markt verschärft mit anderen Wachs­tums­ge­sell­schaften wie Deutsch­land um billige Arbeits­kräfte konkur­rieren musste. Anstelle der wirt­schafts­li­be­ralen Zulas­sungs­po­litik sollte eine staat­liche Regle­men­tie­rung in Kraft treten, die noch stärker nach Quali­fi­ka­tionen selek­tierte und zudem verhin­dern sollte, dass aufgrund der erschöpften euro­päi­schen Arbeits­märkte allzu fremde Fremd­ar­beiter aus ferneren Regionen der Welt ins Land geholt wurden. So ist die Erleich­te­rung des Fami­li­en­nach­zugs im heftig ange­fein­deten ‚Italiener-Abkommen‘ von 1964 auch nicht einfach der Gross­her­zig­keit einer huma­ni­tären Schweiz zu verdanken.

Die neue assi­mi­la­tio­nis­ti­sche Anwer­be­po­litik atmete den alten Geist kolo­nialer Kultur­theo­rien, der sich wie ein roter auslän­der­po­li­ti­scher Faden bis heute durch­zieht, über die Drei-Kreise-Zulassungspolitik der 1990er Jahre bis hin zur anti­mus­li­mi­schen Panik aktu­eller Flücht­lings­de­batten. So forderte die Studi­en­kom­mis­sion, dass „die Rekru­tie­rung auf Länder mit verwandter Kultur beschränkt wird und daß keine Arbeits­märkte außer­halb Europas, die für unge­lernte Arbeits­kräfte beinahe uner­schöpf­lich wären, erschlossen werden“ (121). Die Einreise „schwer assi­mi­lier­barer Ausländer aus andern Kultur­kreisen“ sollte wenn möglich verhin­dert werden. Nach innen galt es, den Über­frem­dungs­grad durch die Assi­mi­la­tion derje­nigen Fremden, die nicht vorhatten, das Land wieder zu verlassen, substan­ziell zu verrin­gern. Die „Träger der fremden Kultur“ sollten sich allmäh­lich über die Jahre „an die Kultur der ansäs­sigen Bevöl­ke­rung“ annä­hern und schliess­lich anglei­chen (142).

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Doch wie sollte diese theo­re­tisch model­lierte Massen­as­si­mi­la­tion prak­tisch gelingen? Was waren die rele­vanten Faktoren? Auch hier deuten unter­schied­liche Akzent­set­zungen im Bericht auf Aushand­lungs­pro­zesse in der Studi­en­kom­mis­sion hin. Wurde zunächst die Assi­mi­la­ti­ons­fä­hig­keit der Fremden als Faktor ange­führt, so liest man im Schluss­ka­pitel aber auch: „Die erste Voraus­set­zung für das Gelingen der Assi­mi­la­tion ist eine entge­gen­kom­mende Haltung der einhei­mi­schen Bevöl­ke­rung“ (194), wobei man der Schweiz aller­dings nur eine „mäßige Assi­mi­la­ti­ons­kraft“ beschei­nigte (151). Erst am Ende des linear gedachten Assi­mi­la­ti­ons­pro­zesses sollte die Einbür­ge­rung stehen. Dabei war man sich jedoch bewusst, dass es für die gesell­schaft­lich notwen­dige Zahl an Einbür­ge­rungen eines Menta­li­täts­wech­sels und Reali­täts­ab­gleichs der Behörden und der Bevöl­ke­rung bedurfte: „Es ist deshalb vor allem eine Aufklä­rung auf breiter Basis über die Notwen­dig­keit der Aufnahme einbür­ge­rungs­fä­higer Ausländer ins Schwei­zer­bür­ger­recht (Hervor­he­bung im Original) erfor­der­lich. […] Sollten sich die Bemü­hungen zur Akti­vie­rung der Einbür­ge­rungs­praxis in den nächsten Jahren als zu wenig wirksam erweisen, so müßte eine Revi­sion der Gesetz­ge­bung in Erwä­gung gezogen werden“ (196) – wenn nötig bis hin zum ius soli, wie das Eingangs­zitat zeigt. Das ist bis heute nicht geschehen, wie sich allein schon am Anstieg der ‚Auslän­der­quote‘ seitdem auf rund ein Viertel der Gesamt­be­völ­ke­rung zeigt. Dabei wird das Bild der steil nach oben zeigenden Kurve der Auslän­der­quote, die – wie schon die Kommis­sion 1964 wusste – haus­ge­macht ist, von heutigen Demagogen als Beweis der Über­frem­dung durch Massen­ein­wan­de­rung medial instrumentalisiert.

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Trotz seiner klaren staats­po­li­ti­schen Vorstel­lungen zum notwen­digen Assi­mi­la­ti­ons­pro­zess stellte der Bericht von 1964 auch fest, dass man letzt­lich noch viel zu wenig über dessen gesell­schaft­liche Bedin­gungen wusste: „Das Assi­mi­la­ti­ons­po­ten­tial der Schweiz ist nie näher erforscht worden. Ange­sichts der neuen Über­frem­dungs­ge­fahr wäre eine Unter­su­chung darüber wünschbar.“ (151) Dieses Forschungs­de­si­derat stand in der Tat Mitte der 1960er Jahre im Raum und moti­vierte zwei ebenso umfang­reiche wie wegwei­sende Studien, in denen sich der spätere Über­gang von der Assi­mi­la­ti­ons­for­schung zu einer neueren Migrations- und Inte­gra­ti­ons­for­schung bereits abzeich­nete: Zum einen Rudolf Brauns umfang­reiche ethno­gra­fi­sche Studie Sozio-kulturelle Probleme der Einglie­de­rung italie­ni­scher Arbeits­kräfte in der Schweiz, die 1964/65 mit Hilfe von rund 40 Interviewer(innen) durch­ge­führt und erst 1970, kurz vor der Volks­ab­stim­mung zur Schwarzenbach-Initiative, veröf­fent­licht wurde. Als Volks­kundler und Sozi­al­his­to­riker war Braun insbe­son­dere an der Lebens­welt der neuen Mitmen­schen inter­es­siert, an „Menschen mit Bedürf­nissen, Plänen, Wünschen, Hoff­nungen; kurz mit einem Lebens­an­spruch“ (19).

Zum anderen entstand Ende der 1960er die nicht minder ambi­tio­nierte Studie zur Sozio­logie des Fremd­ar­bei­ter­pro­blems, die 1973 erschien. Autor der Studie war der deut­sche Sozio­loge Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, der zwischen 1975 und 2001 eine Professur an der Univer­sität Zürich inne­hatte und in dieser Zeit mit seiner struk­tur­ana­ly­ti­schen Perspek­tive die sozi­al­wis­sen­schaft­liche Migrations- und Inte­gra­ti­ons­for­schung entschei­dend prägte, nicht zuletzt auch dadurch, dass er den engli­schen Begriff ‚Migra­tion‘ in der deutsch­spra­chigen Forschung verbreitete.

So unter­schied­lich die beiden Arbeiten in Konzept, Methode und Darstel­lungs­stil auch waren – hier deskrip­tive Ethno­grafie mit Sinn für das histo­ri­sche Narrativ und dort eine auf Quan­ti­fi­zie­rung abzie­lende Struk­tur­ana­lyse ‚anomi­scher Span­nungen‘ –, so sehr decken sie sich in ihrer kriti­schen Bewer­tung des Umgangs der Schweiz mit den Heraus­for­de­rungen der ‚Fremd­ar­beit‘, gerade auch in Anbe­tracht der beiden Über­frem­dungs­in­itia­tiven zwischen 1965 und 1970. Während Braun den Schwei­zern ein beun­ru­hi­gendes Ausmass an „Apart­heids­hal­tungen“ sowie an „offener und verdeckter Diskri­mi­nie­rung“ (341) attes­tierte, kam Hoffmann-Nowotny zu dem Schluss, dass in der Schweiz längst eine „neofeu­dale Unter­schich­tung“ der Gesell­schafts­struktur statt­ge­funden habe, deren soziale Span­nungen durch Scheindis­kus­sionen über kultu­relle Unter­schiede und Über­frem­dung über­deckt würden. Zudem kriti­sierte er die auch von der Kommis­sion vertre­tene Vorstel­lung einer voll­stän­digen kultu­rellen Assi­mi­la­tion, die der recht­li­chen Inte­gra­tion voraus­gehen sollte (175/176). Diese Vorstel­lung nämlich ginge „von einer Homo­ge­nität der einhei­mi­schen Kultur aus, die es in keiner diffe­ren­zierten Gesell­schaft gibt“. Als eine zentrale Voraus­set­zung für Assi­mi­la­ti­ons­be­reit­schaft hatte sich in der Studie die Zukunftserwar­tung an struk­tu­relle Inte­gra­ti­ons­chancen heraus­ge­stellt (192). Gerade auch vor dem Hinter­grund der heutigen Durch­set­zungs­in­itia­tive erahnt man hier die fatalen Folgen der Tatsache, dass damals je nach Einkommen und beruf­li­chen Stand zwischen 25% und 40% der Italiener mit einer perma­nenten „Angst vor Auswei­sung“, und zwar „aus dem Nichts“ leben mussten (201/202).

Für Braun und Hoffmann-Nowotny war klar, dass der einzige demo­kra­ti­sche Weg für die Schweiz darin bestehen musste, die gesell­schaft­li­chen Struk­turen an die neuen sozio­kul­tu­rellen und bevöl­ke­rungs­po­li­ti­schen Reali­täten anzu­passen und sie für die auslän­di­schen Mitmen­schen und deren Nach­kommen zu öffnen. Dazu bedurfte es, so Braun, eines grund­le­genden „Umden­kens, der Preis­gabe sakro­sankter Wert- und Denk­muster, der Infra­ge­stel­lung sorgsam gepflegter Vorstel­lungen ‚schwei­ze­ri­scher Eigenart‘, des Abbaus von Geschichts­my­then und der Besin­nung auf unsere Vergan­gen­heit in ihrer Verän­der­lich­keit – einer Verän­der­lich­keit, die von zuge­zo­genen Fremden wesent­lich mitge­staltet wurde.“ (557)

Wir warten noch heute darauf, dass in der Schweizer Domi­nanz­ge­sell­schaft ein solches Umdenken beim Bürger­recht einsetzt. Bis heute gibt es kein ius soli, bei dem zumin­dest jeder, der in der Schweiz geboren ist, auto­ma­tisch das Bürger­recht erhielte. Geschweige denn, von denen die als Kinder in das Land gekommen und hier aufge­wachsen sind. Im Gegen­teil: Was vor einem halben Jahr­hun­dert denkbar war und letzt­lich aus einer prag­ma­ti­schen staats­po­li­ti­schen Über­le­gung folgte, scheint heute als Forde­rung unge­hörig, ja radikal.