Eigentlich kann es doch nicht so schwer sein, vor allem für dieses Land. In den 1990er Jahren machte die Selbstbeschreibung „Cool Britannia“ die Runde. Noch 2012 gelang es dem Vereinigten Königreich, die Olympischen Sommerspiele in ein globales Megaevent zu verwandeln. Das zuvor befürchtete Chaos trat nicht ein. Der Spiegel sprach von „Gute-Laune-Spielen.“ Und für den Londoner Bürgermeister waren es laut Independent schlicht und ergreifend „the greatest Games ever“.
Wurden jene Spiele schnell zu einem Sommermärchen verklärt, hat sich der Brexit dagegen in einen nicht endenden Alptraum verwandelt. Warum aber ist es eigentlich so schwierig, die Europäische Union verlassen? Spott, Hohn und Mitleid haben sich die Briten in den letzten Monaten und Jahren genug gefallen lassen müssen, wobei Vergleiche mit dem Filmklassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ noch zu den harmloseren gehören. Auch die Geschichte hält einige Gemeinheiten bereit. Um die vielleicht naheliegendste zu erwähnen, die zugleich besonders wenig bekannt ist: Wie kann das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland an etwas scheitern, das Algerien und Grönland recht reibungslos gelang? Beide Länder sind – als ehemalige Kolonialgebiete Frankreichs bzw. Dänemarks – nämlich aus der Europäischen Gemeinschaft (EG), der Vorläuferorganisation der heutigen EU, ausgetreten. Und sie schafften all dies ohne endlose Verhandlungen, den Verschleiß mehrerer Ministerpräsidenten und die Diskreditierung der gesamten politischen Klasse.
Natürlich liegen Welten zwischen den drei Gesellschaften und ihrem Verhältnis zur EG/EU, und doch hält die Geschichte einiges für die Gegenwart bereit – sowohl in Bezug darauf, was man aus dem Damaligen fürs Heute lernen kann, als auch darauf, warum es heute für Großbritannien so viel schwieriger ist als für Algerien und Grönland damals.
Ein Blick zurück
Um einen Vergleich der beiden Länder mit dem Vereinigten Königreich kann es dabei natürlich nicht gehen. Das hat nicht nur mit der Größe sowie dem ökonomischen und weltpolitischen Gewicht zu tun, sondern auch damit, wie beide Länder ursprünglich in den Orbit der EU gelangten. Beide traten der EG nicht als souveräne Staaten bei, sondern gehörten zum kolonialen Erbe Frankreichs, bzw. Dänemarks. Algerien befand sich seit den Römischen Verträgen von 1957 als einem Gründungsmoment der heutigen EU in der Gemeinschaft. Formal war es keine Kolonie, sondern deutlich stärker an Frankreich gekoppelt als etwa Tunesien oder Madagaskar. Die Römischen Verträge behandelten Algerien deswegen nicht als assoziiertes Gebiet, sondern als Territorium im Rahmen der Gemeinschaft, für das allerdings einige Sonderbestimmungen galten. Grönland stieß als Teil Dänemarks in der ersten Erweiterungsrunde von 1973 zur EG.
Das Austrittszenario zwischen der Insel im hohen Norden und dem nordafrikanischen Land unterschied sich in einer Hinsicht wesentlich: Algeriens Unabhängigkeitsbewegung strebte Anfang der 1960er Jahre in erster Linie nationale Souveränität an. Weil die Anbindung an Frankreich jedoch auf das Engste mit der EG-Mitgliedschaft verkettet war, löste man sich von beidem. Die grönländische Führung zielte dagegen nicht auf eine Abtrennung von Dänemark: Die Insel hatte 1979 Selbstverwaltung mit innerer Autonomie erlangt, und so bezog sich der Wunsch nach mehr Souveränität Anfang der 1980er Jahre lediglich auf die EG.
Zugleich gibt es bemerkenswerte Parallelen: Nicht nur, dass es beiden Ländern darum ging, durch Austritt einen Zugewinn an politischer Souveränität zu erlangen. Ökonomische Argumente und Fragen der Identität kamen jeweils hinzu, und dieser Mix charakterisierte auch die Brexit-Debatten. Wichtiger noch in Bezug auf Algerien und Grönland: Kurzfristig gingen beide Länder bei ihrer Ablösung von der EG einen paradoxen Doppelschritt. Sie lösten sich von der EG, bemühten sich aber parallel dazu um möglichst enge Bindungen. Im Fall Grönlands kam es nämlich nach einem knappen, aber eindeutigen Referendum zugunsten eines Austritts 1982 nicht nur zu Austrittsverhandlungen, sondern zu parallelen Assoziierungsgesprächen. Die Insel wollte also mehr Unabhängigkeit, suchte aber gleichzeitig den engen Schulterschluss mit der Gemeinschaft. Nach dem 1985 erfolgten Austritt vertieften sich die Verbindungen sogar wieder. Heute ist Grönland eines der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete der EU, weshalb weite Teile des EU-Rechts auch dort gelten, allerdings ohne dass die Inselbewohner dieses mitgestalten könnten. Insgesamt hatte der Austritt deutliche Folgen. Er führte jedoch keineswegs zu einer Loslösung der grönländischen Ökonomie und Gesellschaft von der Europäischen Union. Verflechtung und Abhängigkeit änderten teilweise ihre Form, blieben aber überaus hoch.
Algeriens Weg ist noch interessanter. Trotz überbordender Unabhängigkeitsrhetorik suchte die neue algerische Führung unter Präsident Ahmed Ben Bella eine möglichst enge Anbindung an die EG. Ende 1962 – wenige Monate nach der Erklärung der Unabhängigkeit – bat sie darum, dass trotz des Austritts in Bezug auf das Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft alles beim Alten bleiben sollte. Die algerische Regierung hatte schnell erkannt, dass dies den ökonomischen Bedürfnissen des Landes am ehesten diente, wiewohl es der Idee der neu gewonnenen Souveränität widersprach. Bemerkenswerterweise ließ sich die EG darauf ein – was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass Frankreich auf indirektem Weg seinen Einfluss auf das Land sichern wollte. De facto behandelte die EG Algerien deswegen weiterhin wie einen Mitgliedstaat, auch wenn es dafür jahrelang keine rechtlich verbindliche Grundlage gab.
Erst im Verlauf der zweiten Hälfte der 1960er Jahre änderte sich das Verhältnis langsam. Aus dem denkbar weichsten „Algxit“ wurde ein extrem harter, was sich insbesondere aus dem Protektionismus der nunmehr entstehenden Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Gemeinschaft erklärt. Neue Barrieren erschwerten Algerien den Zugang zum EG-Markt, mit heftigen Konsequenzen vor allem für die algerischen Winzer. Der Agrarprotektionismus der EG entwickelte sich zu einem wesentlichen Grund dafür, dass Algerien heute keine nennenswerte Weinproduktion mehr hat – obwohl es um 1960 noch global der größte Weinexporteur und der viertgrößte Produzent gewesen war. Für Algerien zeigte sich, dass der Souveränitätsgewinn durch die Unabhängigkeit kein eindeutiges Mehr an Eigenständigkeit und Macht mit sich brachte. Dafür war die Abhängigkeit von den EG-Staaten in ökonomischen Fragen zu groß.
Lehren
Neben der banalen Feststellung, dass wir mit dem Brexit-Referendum vor keiner völlig neuen Situation stehen, zeigt sich an Algerien und Grönland erstens, wie komplex das Wechselverhältnis von Integration und Desintegration ist. Die radikale Alternative zur fortgesetzten Beteiligung am Einigungsprozess – die uneingeschränkte Souveränität – wollte keines der beiden Länder realisieren. Dafür wären jeweils die ökonomischen Kosten zu hoch gewesen. Zugleich gibt es keinen Standardfall, der zeigt. welche Konsequenzen ein Austritt nach sich zieht. Dafür überwiegen die Unterschiede zwischen den genannten Fällen zu sehr. Aus dem „super soft exit“ Algeriens in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit entwickelte sich ein „hard exit“ mit ökonomisch gravierenden Folgen. Grönland wählte durchgängig eine „soft exit“-Variante, und ging tendenziell den Weg von „soft“ zu „softer“.
Insofern geht es hier gerade nicht darum zu spekulieren, wie die Folgen eines Brexit für das Vereinigte Königreich und die EU aussehen mögen. An Algerien und Grönland zeigt sich, dass dies ganz wesentlich von den Details der Regelungen für die Zeit nach dem Austritt abhängt – sowie von der Vorgeschichte in der Phase der Zugehörigkeit zur EG/EU.
Das führt zugleich zum letzten Problemkreis, der hier kurz diskutiert werden soll: Warum ging der Austritt damals so einfach und fällt heute so schwer? Wer den Medien folgt, wird dies wahrscheinlich wesentlich auf die Spaltung der britischen Gesellschaft zurückführen, wo das, was man nicht will, sehr viel klarer ist als das, was man möchte. Hinzu kommen technische Probleme wie der Backstop – das heißt die Frage einer Lösung für Nordirland, die sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die Republik Irland akzeptabel wäre. Viel grundsätzlicher ist jedoch etwas anderes, das eigentlich nie diskutiert wird: dass sich der Charakter des europäischen Projekts seit Mitte der 1980er Jahre massiv verändert hat und dass genau dies eine Ablösung von der EU so viel schwerer macht als in der Zeit davor. Das hat vor allem mit vielen kleinen Veränderungen im Gefolge der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem Maastrichter Vertrag zu tun, wodurch die europäische und die nationalen Ebenen viel enger verflochten wurden als je zuvor. Insofern heißt Exit heute nicht nur Neuverhandlung von Außenzöllen. Vielmehr müssen in einer Vielzahl von Bereichen, auf welche die EU zunehmenden Einfluss genommen hat, Staatsfunktionen neu organisiert, teilweise sogar erst wieder neu aufgebaut werden. Um lediglich ein Beispiel zu nennen: Ein eigenständiges nationales Umweltrecht gibt es heute angesichts der erreichten Integrationstiefe nicht mehr. Wer „Take Back Control“ auf seine Fahnen schreibt, hat künftig unglaublich viel zu tun.
Daraus folgt vor allem eines: Selbst wenn es 2020 endlich zu einem wie auch immer gearteten Brexit kommen wird, kommt das gerade nicht dem Durchschlagen des Gordischen Knotens gleich. Auch wenn viele es nicht werden hören wollen: Dann gehen die Verhandlungen – und tendenziell das Schlamassel – erst wirklich los. Je weiter sich das Vereinigte Königreich von der EU abkoppelt, desto mehr wird die Zahl der Einzelfragen ansteigen, für die man nationale Regelungen und damit auch ein neues Beziehungsverhältnis zur EU wird finden müssen. Statt neue Freiheiten und weniger Bürokratie zu schaffen, wird durch den Austritt der Regulierungsbedarf deutlich anwachsen. Der Brexit verspricht so, für Wirtschaftsjuristinnen, Volkswirte und andere Experten auf viele Jahre zu einer Beschäftigungsgarantie zu werden. Ob dagegen mehr Geld beim Steuerzahler oder für den Bau von Schulen und andere nationale Prioritäten bleiben wird, wie es die Brexiteers versprechen, ist dagegen fraglich.
„Huit Clos“
„No Exit“ lautet die englische Fassung des Titels des Theaterstücks „Huit Clos“ von Jean-Paul Sartre, in dem drei Menschen in einem Raum zusammengepfercht sind. Es ist eine Hölle, in der es nicht richtig heiß wird. Es ist der Austausch mit den anderen Insassen, der Chancen zur Selbsterkenntnis eröffnet, die Lage aber auch unerträglich macht. Als sich schließlich die Möglichkeit stellt, den Raum zu verlassen, ziehen alle es vor, drin zu bleiben.
Fasst man die Fälle von Algerien und Grönland zusammen und sieht sie vor dem Hintergrund der heutigen Brexit-Verhandlungen, drängen sich Ähnlichkeiten zu Sartres Stück geradezu auf – und zwar unabhängig davon, ob man die EU mit einer Hölle vergleicht oder positiver sieht. Jener Londoner Bürgermeister, der 2012 die Spiele in seiner Stadt als „greatest Games ever“ gepriesen hatte, ist heute bekanntlich Premierminister. Im Vergleich zu heute muss das Paket von Herausforderungen, vor denen sein Land damals stand, geradezu als Kinderspiel erscheinen.