In den Debatten über die deutsche Erinnerungspolitik und das „Nie wieder“ werden die Verbindungen von antisemitischem und antimuslimischem Rassismus in der Regel ausgeblendet. Postmigrantische Erfahrungen und Perspektiven könnten helfen, diese Spaltung zu überwinden.

  • Sonja Hegasy

    Sonja Hegasy ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Zentrums Moderner Orient (ZMO) in Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören zeitgenössisches arabisches Denken, soziale Mobilisierung, Kulturgeschichte der Moderne und Erinnerungspolitik. Zuletzt erschien von ihr “The Liminal Intellectual: A Contrapuntal Reading of Abdellatif Laâbi’s Un autre Maroc”, in: B. Guabli (Hg.) Where is the Maghreb? Theorizing a Liminal Space. Arab Studies Journal XXIX.

Die deut­sche Erin­ne­rungs­po­litik gilt vielen als „Gold­stan­dard“ für die Aufar­bei­tung von Gewalt und Genozid welt­weit. Die viel­fäl­tigen Formen der Erin­ne­rung in Deutsch­land müssten auch ein Test­fall für die Über­prü­fung des gern gebrauchten Postu­lats „Nie wieder Ausch­witz!“ sein: Wird die deut­sche Gesell­schaft nun vor der Wieder­kehr von Pogromen in beson­derem Maße gefeit sein? Wird sie die Entmensch­li­chung ihrer Nach­barn diesmal recht­zeitig erkennen? Was machen die Deut­schen aus ihrem „Wer sich nicht erin­nert, ist verdammt, zu wieder­holen“ im 20. und 21. Jahr­hun­dert? Diese Fragen drängen sich hier­zu­lande vielen Neuzu­ge­zo­genen wie auch Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund der zweiten und dritten Gene­ra­tion auf, ange­sichts des Marschs der aggres­siven Rechtspopulist:innen durch die Insti­tu­tionen und der öffent­li­chen Atta­cken auf Jüd:innen wie Muslim:innen. Die Wirkung des deut­schen Diktums wird im Kontext des Kriegs von Russ­land gegen die Ukraine nun plötz­lich breit in der Gesell­schaft disku­tiert. Die Krite­rien zur Beur­tei­lung des „Nie wieder!“ sind nicht nur für die Partei Bündnis90/Die Grünen in der Regie­rungs­ver­ant­wor­tung ein mora­li­sches Dilemma. 

Henryk Broder schrieb einmal, die Deut­schen verständen den Satz des Holo­cau­st­über­le­benden Hermann Lang­bein „Nie wieder Ausch­witz!“ auf spezi­fi­sche Weise, dass nämlich die Vernich­tung in den Lagern von Ausch­witz nie wieder passieren dürfe. Er insi­nu­ierte, dass die Deut­schen wohl nicht in der Lage seien, sich Ausschwitz an anderen Orten und in anderen Ausmaßen vorzu­stellen – den Holo­caust also zu verglei­chen – und so gege­be­nen­falls gar nicht in der Lage wären, ein „Nie wieder!“ umzusetzen.

West­deut­sche Erinnerung

Quelle: dodax.ch

Quelle: orellfuessli.ch

Breite Teile der west­deut­schen Gesell­schaft begannen ab 1979, mit Ausstrah­lung der US-Serie Holo­caust – die Geschichte der Familie Weiss, sich mit Opfern und Tätern des Natio­nal­so­zia­lismus ausein­an­der­zu­setzen. Zu dieser Zeit sah auch die deutsch-ägyptische Autorin dieses Beitrags im Alter von zwölf Jahren den Vier­teiler und las eine Viel­zahl von Jugend­bü­chern wie Als Hitler das rosa Kanin­chen stahl (deutsch erschienen 1973), Damals war es Fried­rich (10. Auflage von 1979), Ich bin David (4. Auflage von 1979) wie natür­lich auch das Das Tage­buch der Anne Frank (47. Auflage von 1979). Seit den 1980er Jahren setzte sich also ein Groß­teil der west­deut­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft – und mit ihr der migrantische Teil – in Wissen­schaft, Kultur und Politik mit dem Aufstieg des Faschismus, der Entwer­tung mensch­li­chen Lebens und der Shoa ausein­ander. Der deutsch-ägyptische Jour­na­list Karim El-Gawhary hängte einmal in seinem Büro die Fotos seiner beiden Groß­väter auf: Fez als Kopf­be­de­ckung auf dem einen Foto, Uniform der Wehr­macht auf dem anderen. Diese Gleich­zei­tig­keit kann durchaus eine Art doppelte Impli­ka­tion bedeuten, die sich weder gegen­seitig ausschließt noch in einem Konflikt zuein­an­der­steht, sondern eine deut­sche Realität ist.

Man kann erwarten, dass Migrant:innen, die sich in Deutsch­land nieder­lassen, sich inten­siver mit der deut­schen Geschichte und dem Holo­caust beschäf­tigen. Sensi­bi­lität für den indi­vi­du­ellen Bildungs­hin­ter­grund und abge­stimmte Bildungs­an­ge­bote sind gleich­wohl vonnöten und gibt es zuneh­mend auch. Man kann sich in diesem Zusam­men­hang aber auch sehr gut vorstellen, dass Nicht-Europäer:innen, die hier zum ersten Mal Bilder aus einem NS-Konzentrationslager sehen, Angst bekommen. Dies ist keine Schande oder Bildungs­lücke. Mögli­cher­weise erleben sie Flash­backs, die die eigenen Gewalt­er­fah­rungen aktua­li­sieren. Und sie fragen sich: Welche Konti­nui­täten gibt es in Deutsch­land? Wie sind NSU, AfD, Nazi­auf­mär­sche und Alltags­ras­sismus vor eben dieser Geschichte einzu­ordnen und wären ähnliche Exzesse heute noch möglich? Schließ­lich fragen dies auch Vertreter:innen der deut­schen Politik. Welche Garan­tien der Nicht-Wiederholung haben Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund und andere Mino­ri­täten? Sind sie nur beson­ders dünn­häutig, wenn sie sich der deut­schen Vergan­gen­heit bewusst werden?

Halle und Hanau

In Hanau erschoss ein Täter am 19. Februar 2020 gezielt Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund in einer Schischa-Bar. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein schwer bewaff­neter Rechts­extre­mist an Yom Kippur mit Gewalt in die Synagoge von Halle einzu­dringen. Als ihm dies nicht gelang, erschoss er eine unbe­tei­ligte Fußgän­gerin, fährt zu einem türki­schen Imbiss und erschießt dort einen weiteren Menschen. Im Heute Journal fragte Claus Kleber an diesem Tag den Rechtsextremismus-Forscher Hajo Funke zu den zwei Zielen – erst eine Synagoge, dann ein Döner-Imbiss. „Das wirkt ziellos und irre zunächst,“ so Kleber. An jenem 9. Oktober 2019 saß ich vor dem Fern­seher und fand das gar nicht ziellos, sondern ziem­lich glas­klar und in sich geschlossen. Auf die deut­lich quali­fi­zierter gestellte Nach­frage von Pinar Atalay in den kurz darauf folgenden ARD-Tagesthemen, ob die Wahl des türki­schen Imbisses, nachdem der Täter an der Synagoge schei­terte, zufällig gewesen sei, antwortet der Terro­ris­mus­experte Georg Mascolo: Ja, er sei wohl wie viele Terro­risten „nichts anderes als ein gemeiner Mörder“, der sich „einfach wahllos andere Opfer gesucht hat und diese ermordet hat.“

Der ideo­lo­gi­sche Überbau, der Anti­se­mi­tismus und Isla­mo­phobie seit über 20 Jahren verzahnt, wird von diesen Experten in erstaun­li­cher Weise ausge­blendet. Erkennt­nisse über die ideo­lo­gi­sche Nähe von anti­se­mi­ti­schen und islam­feind­li­chen Tätern werden immer noch igno­riert. Dabei müsste das geübte deut­sche Ohr bei der pauschalen Stig­ma­ti­sie­rung einer Reli­gion, ihrer Anhänger:innen und reli­giösen Prak­tiken sowie der Unter­stel­lung, ihren wahren Glauben zu verheim­li­chen, aufhor­chen. Insbe­son­dere da diese Stig­ma­ti­sie­rung all jene umfasst, die sprach­lich, reli­giös und poli­tisch voll­kommen assi­mi­liert in Deutsch­land leben (aber mögli­cher­weise noch einen musli­misch klin­genden Namen tragen). Wolf­gang Benz fasste im Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung von 2008 zusammen: „[D]as Phänomen der Islam­feind­lich­keit [ist] deshalb inter­es­sant, weil weithin mit Stereo­typen argu­men­tiert wird, die aus der Anti­se­mi­tis­mus­for­schung bekannt sind, etwa der Behaup­tung, die jüdi­sche bzw. die isla­mi­sche Reli­gion sei bösartig inhuman und verlange von ihren Anhän­gern unmo­ra­li­sche Verhal­tens­weisen gegen­über Anders­gläu­bigen.“ Wie in Radio- und TV-Sendungen doku­men­tiert, gibt es immer mehr Menschen in Deutsch­land, die sich nicht schämen, zu behaupten, „der Islam“ sei eine „Gewalt-“ und/oder „Hass­re­li­gion“.

Ziel­scheibe jüdi­sche Solidarität

Die Soli­da­rität des Zentral­rats der Juden in Deutsch­land mit Opfern von islamo- und arabo­phoben Über­griffen ist in diesem Klima aus meiner Sicht von nicht zu unter­schät­zender Bedeu­tung. Während deut­sche Medien etwa 2009 das rassis­ti­sche Motiv beim Mord an der ägyp­ti­schen Phar­ma­zeutin Marwa al-Sherbini in einem Dres­dener Gerichts­saal – sie war Zeugin in einem Beru­fungs­ver­fahren – verkannten, fuhr Stephan Kramer, der dama­lige Gene­ral­se­kretär des Zentral­rats, als Geste der Trauer und Betrof­fen­heit nach Dresden. Der Tages­spiegel bemerkte erst rück­bli­ckend, anläss­lich des Geden­kens zehn Jahre später: „[D]ie Tat [wurde] in Deutsch­land vergleichs­weise wenig beachtet. Obwohl ihr Fall der erste war, der klar isla­mo­phob moti­viert war – die NSU-Mordserie wurde erst zwei Jahre später durch die Selbst­ent­tar­nung dreier Täter des rechts­extremen Netzes bekannt –, gab es wenig Bericht­erstat­tung und kaum Stel­lung­nahmen des offi­zi­ellen Deutschlands.“ 

Stephan J. Kramer, von 2004 bis Januar 2014 Gene­ral­se­kretär des Zentral­rats der Juden in Deutsch­land und Leiter des Berliner Büros des Euro­pean Jewish Congress; Quelle: wikipedia.org

Stephan Kramer aber schrieb schon wenige Tage nach dem Mord: „Ich bin nicht nach Dresden gefahren, weil ich als Jude Ange­hö­riger einer Minder­heit bin. Ich unter­nahm die Reise, weil ich als Jude weiß: Wer einen Menschen wegen dessen Rassen-, Volks- oder Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit angreift, greift nicht nur die Minder­heit, sondern die demo­kra­ti­sche Gesell­schaft als Ganzes an. Deshalb ist nicht die Frage rele­vant, warum ein Vertreter der jüdi­schen Gemein­schaft Elwi Ali Okaz seine Trauer und Soli­da­rität bekun­dete, sondern die, warum es nicht auch einen massiven Besu­cher­strom oder Soli­da­ri­täts­adressen von Vertre­tern der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft gab? […] Es scheint, dass die deut­sche Gesell­schaft die Trag­weite des Dresdner Anschlags nicht erkannt hat. Es fehlt die Erkenntnis, dass der Mord an Marwa al-Sherbini ganz offen­sicht­lich das Ergebnis der beinahe unge­hin­derten Hass­pro­pa­ganda gegen Muslime von den extre­mis­ti­schen Rändern der Gesell­schaft bis hin in deren Mitte ist.“

Nie war ich dank­ba­rerer für eine öffent­liche Soli­da­ri­täts­be­kun­dung, für die man in meinen Augen schon damals Zivil­cou­rage benö­tigte. Sie hat in mir ein Funda­ment gelegt, wie ich mir ein „Nie wieder!“ in Deutsch­land vorstelle. Es ist die jüdi­sche Soli­da­rität in Deutsch­land, die mich beson­ders berührt, mir Mut gibt, und die in meinen Vorstel­lungen von diversen Bedro­hungs­sze­na­rien in der Zukunft eine wesent­liche Rolle spielt. Ich weiß, dass auch andere Freund:innen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund solche Bedro­hungs­sze­na­rien im Kopf durch­spielen. In meiner Schul­zeit habe ich gehört: „Hegasy–Vergas’ sie.“ Man wäre daher ein Tor, vor dem Hinter­grund der erlernten Geschichte, des eigenen Erle­bens und des neu-alten Rechts­extremismus nicht über zukünf­tige Entwick­lungen nach­zu­denken. Ich tue dies nicht jeden Tag. Aber es gibt eine korre­lie­rende Befind­lich­keit, die sich in meinem Leben in wich­tigen Entschei­dungs­si­tua­tionen bemerkbar gemacht hat und zu beson­derer Vorsicht führt.

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Gefähr­dete Solidarität

In jüdi­schen Kreisen gibt es inzwi­schen die Befürch­tung, dass die Debatte um die wissen­schaft­liche Einbet­tung des Holo­causts in den euro­päi­schen Kolo­nia­lismus sozu­sagen als Vulgär­these dazu genutzt wird, um den dispo­niblen Anti­se­mi­tismus in neuem Gewand zu aktua­li­sieren und das Geschehen des Holo­causts zu verharm­losen. Gleich­zeitig fällt auf, dass das Urteil ‚Anti­semit‘ nun jüdi­sche Intel­lek­tu­elle trifft, die die israe­li­sche Politik gegen­über den Palästinenser:innen und die Besat­zung der West­bank kriti­sieren. In dem Versuch, alle fried­li­chen Kommu­ni­ka­ti­ons­ka­näle zur Beile­gung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinenser:innen zu schließen, werden selbst Nach­fahren von Holo­cau­st­über­le­benden als Holocaust-Relativierer:innen verun­glimpft – eine für Deutsch­land unge­wöhn­liche Volte. Es wird kein Mittel gescheut, diese Stimmen zu verleumden. Heute scheint es für einige Deut­sche Sinn zu machen, jüdisch-arabische Verbin­dungen zu kappen, Mitge­fühl zu verhin­dern, und die Oppo­si­tion zum status quo in Israel und den besetzten Gebieten zu diskre­di­tieren. Plötz­lich wird auf eine judeo-christliche Tradi­tion rekur­riert, die die dritte abra­ha­mi­ti­sche Reli­gion bewusst außen vorlässt. „Das ist ein bemer­kens­werter Vorgang“, so Heri­bert Prantl 2010 in der Süddeut­schen Zeitung, „weil die nun beschwo­rene Gemein­sam­keit über Jahr­hun­derte hin die Gemein­sam­keit von Tätern und Opfern war“.

In Reden dieser Art soll eine Soli­da­rität erstickt werden, die im Nahen Osten schon erstickt wurde. Dies sind einer­seits Solidaritäts- und Empa­thie­bande zwischen jüdi­schen, christ­li­chen und musli­mi­schen Araber:innen über die israe­li­sche Grenze hinweg. Und ande­rer­seits – histo­risch – die Soli­da­rität von Verfolgten in der Region, die in ihrer Not den Zusi­che­rungen der Kolo­ni­al­mächte folgten. Diese jüdisch-muslimische Soli­da­rität der Verfolgten gab es (auch in der NS-Zeit, siehe bspw. die Arbeiten von Gerhard Höpp, Robert Satloff und Ronen Steinke) – und es gibt sie wieder. Zum Beispiel in den von Max Czollek in 2020 kura­tierten ‚Tagen der jüdisch-muslimischen Leit­kultur‘ mit 40 Einzel­ver­an­stal­tungen im deutsch­spra­chigen Raum. Dem Autor wurde danach von Maxim Biller, einem zentralen Prot­ago­nisten im „Histo­ri­ker­streit 2.0“ das Jüdisch-Sein abge­spro­chen. Ich stelle hier zunächst nur die Chro­no­logie fest. Czolleks Jüdisch-Sein wurde nicht vorher bestritten.

Wer keine Kommu­ni­ka­tion – und das heißt mit Blick auf Israel: keine Zweistaaten- und keine Einstaa­ten­lö­sung – will, dem bleibt nur der status quo, d.h. die Besat­zung der West­bank und die Abrie­ge­lung des Gaza­strei­fens. Man kann Soli­da­rität mit Israel aber auch anders denken: Sie bedeutet, sich weiterhin für eine Lösung des Israel-Palästina-Konflikts einzu­setzen. Sich für eine fried­liche Lösung einzu­setzen, bedeutet das Leiden beider Seiten zu thema­ti­sieren, ein Gespür für aktu­elle Formen von Entmensch­li­chung zu entwi­ckeln und ihnen entge­gen­zu­treten. Wir „Misch­linge“ lassen uns diese Israel-Solidarität nicht absprechen.